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Freiwilligendienst in Estland
"Ich hätte nie gedacht, dass man so viel voneinander lernen kann"

Hannah Pschorn wollte eigentlich nach Spanien. Gelandet ist sie dann aber in Estland - bei minus 15 Grad. Seit neun Monaten absolviert sie ihren Freiwilligendienst in Tallinn in einer Kindertagesstätte. Trotz Eiseskälte: Bereut hat sie ihren Schritt nie.

Hannah Pschorn im Gespräch mit Michael Böddeker | 13.06.2017
    Zu sehen ist Hannah Pschorn vor der Kita, in der sie derzeit ihren Freiwilligendienst in Tallinn/Estland leistet
    Hannah Pschorn leistet derzeit ihren Freiwilligendienst in Tallinn/Estland (Privat)
    Erasmus feiert 30. Geburtstag. Und welche Möglichkeiten dieses Austauschprogramm bietet, darüber berichten wir diesen Monat bei Campus und Karriere. Es gibt nämlich viel mehr als nur die Angebote für Studierende, die die meisten wahrscheinlich kennen.

    Zum Beispiel gibt es auch den Freiwilligendienst im Ausland. Und genau so einen Dienst absolviert gerade Hannah Pschorn in Tallinn in Estland. Wir haben mit ihr an ihrem letzten Tag dort gesprochen, und ich habe sie zunächst mal gefragt, wie es ihr dort gefällt.
    Hannah Pschorn: Im Moment gefällt es mir sehr gut, weil jetzt wird es langsam endlich mal warm, und der ewige Winter hat aufgehört.
    Böddeker: War das denn Ihre erste Wahl, dort in dieses kalte Klima zu reisen?
    Pschorn: Nein, eigentlich hatte ich geplant, nach Spanien zu fahren, und wurde dort auch schon in einem Projekt angenommen, welches dann aber leider zwei Monate vor der Abreise gecancelt wurde, weil der Staat das Projekt nicht bewilligt hat. Und dann war das ziemlich spontan, dass ich hier nach Estland gekommen bin.
    Böddeker: Warum haben Sie dann doch relativ spontan gesagt, ja, okay, das mache ich, dann eben nach Tallinn?
    Pschorn: Ich wollte halt eben unbedingt diesen Freiwilligendienst machen, ein Jahr lang in so einem Projekt zu arbeiten. Und als ich dann die Projektbeschreibung von der Arbeit in Tallinn gelesen habe, mit den kleinen Kindern in der Kindertagesstätte, das hat mich sofort fasziniert, und da war ich mir dann eigentlich sicher, dass ich das unbedingt machen wollte, auch wenn das Land vielleicht vom Klima her nicht so ist, wie ich mir das vorgestellt hatte, war es die Arbeit, die mich überzeugt hat, hierher zu kommen.
    "Ich war mehr oder weniger gezwungen, mir das Estnische selbst beizubringen"
    Böddeker: Was genau machen Sie jetzt in Tallinn, und was lernen Sie dort?
    Pschorn: Ich arbeite fünf Tage die Woche in einer Kindertagesstätte für ein- bis dreijährige Kinder. Die kommen da morgens um acht Uhr, werden die von den Eltern hergebracht und gehen dann gegen Abend wieder nach Hause. Und mit denen beschäftige ich mich dann tagsüber.
    Ich helfe ihnen beim Essen, beim Umziehen, wir gehen nach draußen und spielen dort, oder ich helfe den Lehrerinnen beim Unterricht, den die Kinder bekommen. Das heißt, wir basteln mit ihnen, spielen, lehren sie Sachen über die Umwelt und über ihre Umgebung.
    Böddeker: Ist die Arbeit mit so kleinen Kindern schwierig, die ja zumal auch noch eine ganz andere Muttersprache sprechen als Sie?
    Pschorn: Am Anfang war das schon so ein bisschen der Problempunkt, weil ich hätte gern mehr mit den Kindern gemacht, gespielt, aber das ging halt einfach schlecht, weil ich die Sprache nicht gesprochen habe. Aber dadurch, dass die Kinder auch nicht in der Lage sind, Englisch zu sprechen, war ich mehr oder weniger gezwungen, mir das Estnische selbst beizubringen oder halt zu lernen.
    Und durch den täglichen Kontakt mit den Kindern ging das aber dann relativ schnell und einfach, und das war überhaupt kein Problem, sich dann mit denen zu verständigen. Und nach einiger Zeit konnte ich dann auch schon selbst die Unterrichtsstunden halten oder Spiele anleiten oder Bastelarbeiten.
    Böddeker: Wie und wo wohnen Sie eigentlich in Tallinn?
    Pschorn: Wir wohnen ziemlich am Rand von Tallinn. Es ist jetzt nicht die besteingerichtete Wohnung. Damit hatten wir schon ziemliche Probleme auch im Winter.
    Böddeker: Das heißt, es wurde auch kalt.
    Pschorn: Ja, und dann hatten wir im Winter dann die minus 15 bis minus 20 Grad. Und da wir Bauarbeiten am Haus hatten, ging über mehrere Wochen der Strom nicht dauerhaft. Es gab Tage, an denen hatten wir keinen Strom, kein Licht. Wir hatten wochenlang kein warmes Wasser, und das ist bei minus 15 Grad schon sehr schlimm. Wir waren auch ständig krank. Die Absprache lief nicht besonders gut in dieser Zeit zwischen den einzelnen Verwaltungsgemeinschaften.
    "Ich habe auf jeden Fall Zeit, mehr herauszufinden, was mich interessiert"
    Böddeker: Sie haben eben gesagt, Sie wollten diesen Freiwilligendienst unbedingt machen. Warum eigentlich? Man kann ja auch bis zum Studium die Zeit anders überbrücken, per Interrail durch Europa reisen. Es gibt ja tausend Möglichkeiten. Warum wollten Sie diesen Freiwilligendienst machen?
    Pschorn: Ich wollte einfach nicht nur arbeiten oder einfach nur reisen. Ich wollte irgendwas Soziales bewirken und so ein bisschen was der Gesellschaft zurückgeben. Für mich war das so der sinnvollste Weg, die Zeit zu nutzen und ein bisschen herauszufinden, was ich danach machen will, oder zu gucken, wie mir so was gefällt, und einfach mal die Erfahrung machen. Das war mir schon wichtig, dass ich diesen sozialen Aspekt noch mit dabei habe.
    Böddeker: Und haben Sie dadurch herausgefunden, was Sie später machen wollen, also hat Ihnen das Ganze auch beruflich etwas gebracht, oder mehr persönlich?
    Pschorn: Mir gefällt zwar die Arbeit super gut, aber ich denke mal nicht, dass ich in dem Bereich später arbeiten will. Ich habe auf jeden Fall Zeit, mehr herauszufinden, was mich interessiert, und vor allen Dingen auch ein bisschen Ruhe, um drüber nachzudenken, wie es jetzt weitergeht.
    Und mich einfach mehr mit mir selbst zu beschäftigen und nicht ständig in dem geregelten Alltag von zu Hause zu sein, wo alles immer gleich ist, sondern einfach mal so eine Auszeit zu nehmen und mal sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Und jetzt habe ich mich eigentlich schon festgelegt, was ich jetzt machen will, wenn ich wieder zu Hause komme. Und da bin ich jetzt auch schon froh drum.
    Böddeker: Und was wird das sein?
    Pschorn: Ich werde vermutlich Pflege und Gesundheit studieren.
    Böddeker: Haben Sie bei dieser Reise auch andere junge Europäer kennengelernt, die vielleicht auch gerade diesen Freiwilligendienst machen?
    Pschorn: Ja, wir sind ja mehr als hundert Freiwillige in ganz Estland, und wir kennen uns eigentlich alle untereinander durch die verschiedenen Seminare, aber auch dadurch, dass ich jetzt hier in der Hauptstadt wohne.
    Ich wohne allein mit acht weiteren Freiwilligen in einer Wohnung oder beziehungsweise in einem Haus, und wir gehen ständig auf Reisen zusammen oder unternehmen am Wochenende Sachen und besuchen uns gegenseitig. Und so hat man auf jeden Fall ständig diesen interkulturellen Austausch.
    Und das ist unheimlich interessant, und ich hätte nie gedacht, dass man so viel voneinander lernen kann. Ich habe mich vorher nie so intensiv mit den verschiedenen Kulturen oder den Verhaltensweisen und Gewohnheiten so beschäftigt, aber das ist einfach so interessant, wie man dadurch Sachen dazulernen kann. Also, es ist auf jeden Fall eine tolle Erfahrung.
    "Das ist kein Vergleich zu materiellen Dingen"
    Böddeker: Das heißt, Sie haben andere junge Europäer kennengelernt. Haben Sie auch Europa über Tallinn hinaus noch ein bisschen kennengelernt?
    Pschorn: Ja. Auf jeden Fall habe ich im Baltikum die meisten Länder bereist in den letzten Monaten. Ich war mehrmals in Finnland, in Schweden. Das wurde mir schon nähergebracht. Und damit hatte ich auch vorher nicht gerechnet, dass ich die Möglichkeit habe, so viel zu sehen. Aber wenn man mal genauer drüber nachdenkt, ist das Reisen hier total einfach, weil es viel billiger ist als bei uns in Deutschland. Und alles liegt so nahe aneinander, und da Estland ja auch nicht besonders groß ist im Vergleich zu Deutschland, deswegen war das super einfach, da die Reisen zu planen und einfach mal übers Wochenende zwei, drei Tage sich eine andere Stadt anzuschauen.
    Böddeker: Das heißt, das würden Sie auch empfehlen? Wenn man so ein Erasmus-Austauschpraktikum macht, ruhig mal noch ein bisschen weiter rumzureisen?
    Pschorn: Ja, auf jeden Fall. Ich kenne auch Freiwillige, die bleiben immer zu Hause und sparen das bisschen Geld, was sie hier kriegen, und kaufen sich dann später ein neues Laptop. Aber ich finde einfach, das kann einem niemand nehmen, wenn man diese Reisen gemacht hat. Und was man dadurch alles erfährt und wie das einen verbindet, wenn man mit anderen Menschen dort hinreist oder auch fremde Leute dort kennenlernt. Das ist kein Vergleich zu materiellen Dingen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.