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Freizügigkeit nach Innen

Die Europäische Einigung ist vor allem eine Geschichte der wirtschaftlichen Integration. Die ursprüngliche Idee, die Menschen Europas einander näher zu bringen, wurde dagegen erst spät verwirklicht. Vor zehn Jahre besiegelte das Schengener Abkommen die Öffnung der EU-Grenzen.

Von Matthias Rumpf | 26.03.2005
    In der Nacht zum 26. März 1995 gab es an vielen deutsch-polnischen Grenzstationen kein Durchkommen. Auch in Görlitz ging so gut wie nichts mehr.

    "Es war eine sehr lange Schlange, ich stand bald die halbe Nacht. Es ist kalt. Bei mir ging die Überprüfung schnell, aber die Schlange geht nur langsam vorwärts."

    Pedantisch tippten die Grenzschützer seit dieser Nacht alle Ausweisdaten in eine Art überdimensionales Handy. Bis zu drei Minuten dauerte es dann, bis der Zentralrechner des Schengen-Informationssystems mitteilte, ob die Person in einem der Schengenstaaten zur Fahndung ausgeschrieben war.

    "Das Schengener-Abkommen ist ein Freizügigkeitsabkommen im Inneren Westeuropas und ein Sicherheitsabkommen nach außen. Das zweite Bein des Schengener Abkommens ist ein in der Welt einmaliges Fahndungssystem, die Schaffung eines gemeinsamen Systems der Außengrenzkontrollen, der sieben, später neun und noch mehr Schengen-Staaten und deshalb müssen wir immer beides zusammen sehen."

    So der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther. Bis zu dieser Freizügigkeit nach Innen war es ein weiter Weg. Schon 1985, zehn Jahre bevor tatsächlich die Grenzkontrollen verschwanden, vereinbarten Deutschland, Frankreich und die Beneluxstaaten einen solchen Schritt. Weil in der gesamten Europäischen Gemeinschaft ein Abbau der Grenzkontrollen nicht zu machen war, schlossen die fünf im Luxemburgischen Örtchen Schengen einen gesonderten völkerrechtlichen Vertrag.

    Neben der gemeinsamen Fahndungsdatei gehörten zum Schengener Abkommen eine gemeinsame Visapolitik und die engere Zusammenarbeit der Polizeibehörden im Kampf gegen Drogenkriminalität. Wichtigste Neuerung war die so genannte Nacheile, nach der die Polizei der Schengenstaaten Straftäter auch über die Grenze hinweg verfolgen durfte.

    "Artikel 41. Beamte einer Vertragspartei, die in ihrem Land eine Person verfolgen, die auf frischer Tat bei der Begehung einer Straftat nach Absatz 4 angetroffen wird, sind befugt, die Verfolgung auf dem Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei ohne deren vorherige Zustimmung fortzusetzen, wenn die zuständigen Behörden nicht zuvor unterrichtet werden konnten oder nicht rechtzeitig zur Stelle sind, um die Verfolgung zu übernehmen."

    Gegen so viel Machtzuwachs für die Polizei regte sich Unmut. Für die Bundesregierung und ihren Verhandlungsführer den Staatsminister im Kanzleramt Bernd Schmidbauer gab es dafür freilich keinen Grund.

    "Da waren lauter so große Europäer in den letzten Jahren die vom Niederreißen der Schlagbäume... Jetzt haben wir es. Und jetzt zittern die ersten und machen sich vor lauter Schreck auch noch ins Hemd, nur weil die Dinge realisiert werden, die für uns gut sind. Der Bürger muss Europa erfahren, der Verbrecher muss erfahren, dass Europa sicherer wird durch diese Maßnahme."

    Für die Bundesregierung sollte das Abkommen noch einem anderen Zweck erfüllen: es ebnete den Weg zu der lange gewünschten restriktiveren Asylpolitik. Denn der Schengen-Vertrag sah auch die so genannte Drittstaatenregelung für Asylbewerber vor. Wer in einem der Schengenstaaten als Asylbewerber abgelehnt war, sollte in Deutschland keinen Anspruch auf ein weiteres Verfahren haben. Das widersprach dem Grundgesetz, und so brachte die schwarz-gelbe Koalition die Ausführungsbestimmungen des Schengener Abkommens 1992 gemeinsam mit einer Grundgesetzänderung in den Bundestag ein. Die Opposition schäumte.

    "Ich finde es bedauerlich, dass dieses Vertragswerk jetzt mit einer Änderung der Verfassung betreffend des Asylrechts verknüpft wird. Das Schengener Abkommen hätte es verdient - gerade unter dem Aspekt der Europamüdigkeit, die wir feststellen -, dass es als Schengener Abkommen gewürdigt wird, was das für unsere Bürger in einem Raum ohne Grenzen bedeutet."

    Sagte der SPD-Abgeordnete Gerd Wartenberg in der Debatte. Ein Jahr später lenkten die Sozialdemokraten ein und stimmten der Drittstaatenregelung im Grundgesetz zu. In der Europäischen Union wurde das Abkommen zum Selbstläufer. Portugal und Spanien machten von Anfang an mit, es folgten Italien, Griechenland und Österreich. Mittlerweile ist das Schengener Abkommen, abgesehen von Großbritannien und Irland, in allen Staaten der alten EU in Kraft. Auch für Norwegen und Island gilt die Freizügigkeit. Selbst die Schweiz will beitreten und die neuen EU-Staaten bereiten sich auf eine Teilnahme vor.