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"Fremdeln mit der Agenda 2010" ist nicht logisch

In ihrem neuen Wahlprogramm will sich die SPD offenbar von der Agenda 2010 distanzieren. Dieses "Fremdeln" trage schon fast schizophrene Züge, sagt Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Einerseits lobe man die damaligen Reformen, andereseits wolle man sie wieder rückgängig machen.

Hilmar Schneider im Gespräch mit Martin Zagatta | 11.03.2013
    Martin Zagatta: Die SPD-Führung will im Laufe des Tages ihr Wahlprogramm vorstellen. Interessant dabei: Die Sozialdemokraten wollen sich auch irgendwie von der Agenda 2010 distanzieren, von dem Reformpaket, das die rot-grüne Koalition einst unter Kanzler Schröder vor fast auf den Tag genau zehn Jahren auf den Weg gebracht hat.
    Am Telefon ist Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik beim Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Guten Tag, Herr Schneider!

    Hilmar Schneider: Hallo, Herr Zagatta.

    Zagatta: Herr Schneider, nach dem, was wir eben gehört haben, ist die SPD aus Ihrer Sicht, ist die SPD da unter Peer Steinbrück auf dem richtigen Weg?

    Schneider: Das kann man so wohl nicht sagen. Es ist zwar nicht alles falsch, was in dem Wahlprogramm jetzt formuliert worden ist, aber dieses Fremdeln mit der Agenda 2010, das trägt schon fast schizophrene Züge. Man sagt auf der einen Seite, das war alles gut und wir haben unter Gerhard Schröder die richtigen Weichen gestellt, aber wir müssen ein bisschen korrigieren, und das, was wir dann korrigieren, bedeutet in der Substanz, die Agenda 2010 wieder rückgängig zu machen. Das ist einfach nicht logisch in sich.

    Zagatta: Nun ist die Mehrheit in der SPD aber offenbar der Meinung, dass ihr die von Gerhard Schröder auf den Weg gebrachte Agenda damals sehr geschadet hat bei den Wählern. Sie ist ja auch abgestraft worden. Ist es dann jetzt nicht naheliegend, dass die SPD von dieser Agenda auch irgendwie wieder abrückt?

    Schneider: Aus politischen Gründen kann ich das durchaus verstehen. Das ist ja so, dass man das der SPD übel genommen hat, und sie fremdelt deswegen ja auch bis heute damit. Aber ökonomisch war das alles richtig, was damals gemacht worden ist, und wenn man glaubt, man könnte dadurch, dass man quasi alte Zeiten wieder herstellt, dann trotzdem die Arbeitsmarkterfolge, die sich in der Zwischenzeit eingestellt haben, behalten, dann täuscht man sich.

    Wer die alten Bedingungen wieder herstellt, wird auch die alten Ergebnisse wieder bekommen, und das ist halt die große Gefahr und wir sind vielleicht in Deutschland jetzt auch ein bisschen träge geworden. Wir ruhen uns auf dem Erfolg aus und es scheint, irgendwie auch in der breiten Bevölkerung nicht wirklich verstanden worden zu sein, wo die ökonomischen Mechanismen wirken, die das sogenannte Arbeitsmarktwunder hervorgerufen haben.

    Zagatta: Darf ich Sie da vielleicht kurz unterbrechen? Hat sich denn diese Agenda tatsächlich so bewährt? Es gibt ja Stimmen, die sagen, der Erfolg der deutschen Wirtschaft sei vor allem darauf zurückzuführen, dass Deutschland in dieser Krise jetzt eben eine so starke Exportnation ist.

    Schneider: Ja. Aber das kommt ja nicht von selber. Wir haben zum Beispiel durch die Liberalisierung der Zeitarbeit den Firmen einen gewissen Flexibilitätspuffer verschafft, den sie sonst gar nicht hätten. Die Agenda 2010 hat in der Substanz ja zunächst einmal paradoxerweise den Regulationsgrat in Deutschland verstärkt. Sie hat ja faktisch die Frühverrentungsmöglichkeiten abgeschafft und dadurch war der Kündigungsschutz, der in Deutschland sehr stark ist, noch präsenter, als er vorher gewesen ist. Früher haben die Unternehmen in Krisen im Prinzip über Vorruhestandsmöglichkeiten den Anpassungsbedarf vorgenommen, haben die Leute halt vorzeitig entlassen, und das war für alle Beteiligten durchaus willkommen. Nachdem das abgeschafft worden ist, war der Kündigungsschutz ganz stark, und wenn man die Zeitarbeit nicht liberalisiert hätte, wäre das eine Katastrophe geworden. Das muss man einfach begreifen, dass diese Dinge miteinander zusammenhängen. Und wenn man jetzt die Zeitarbeit wieder einschränken will, nur als ein Beispiel, dann führt das dazu, dass die Regulierungsdichte in Deutschland höher wird, als sie zum Zeitpunkt der Einführung der Agenda 2010 war. Das kann nicht gut gehen!

    Zagatta: Herr Schneider, jetzt steht aber Zeitarbeit ja auch irgendwie als Synonym für Niedriglöhne, und da sieht nicht nur die SPD im Moment Nachbesserungsbedarf. Das geht ja bis in die Union, ja sogar jetzt, das haben wir gehört, bis in die FDP hinein. Brauchen wir denn da nicht in irgendeiner Form einen Mindestlohn, oder was auch immer?

    Schneider: Zunächst einmal muss man sagen: Die Tatsache, dass der Niedriglohnbereich zugenommen hat, wird ja in der öffentlichen Diskussion so wahrgenommen, als sei da reguläre Beschäftigung durch Niedriglohnbeschäftigung ersetzt worden. Faktisch ist es genau anders herum. Es ist ja nicht die reguläre Beschäftigung verdrängt worden, sondern Menschen, die vorher arbeitslos waren, sind jetzt in Beschäftigung gekommen. Das ist zwar nicht so, dass man von diesen Gehältern große Sprünge machen kann, aber es ist besser, als arbeitslos zu sein. Wir hatten 2005 über fünf Millionen Arbeitslose. Das scheinen viele Menschen heute vergessen zu haben.

    Und es ist eben nicht wahr, dass jemand, der von Arbeitslosengeld leben muss, besser dasteht als jemand, der, wenn auch vielleicht nur 300 oder 400 Euro mehr im Monat hat, einen niedrig entlohnten Job hat. Und diese sozusagen falsche Suggestion, die in der öffentlichen Wahrnehmung herrscht, das ist halt das Fatale, was dazu führt, dass wir jetzt das Kind mit dem Bade ausschütten. Natürlich ist das nicht toll, dass man zu niedrigen Löhnen arbeiten muss, aber wir dürfen nicht vergessen: Die Alternative ist nicht ein gut entlohnter Vollzeitjob, sondern für viele Leute wird das dann wieder Arbeitslosigkeit bedeuten. Das kann doch niemand ernsthaft wollen!

    Zagatta: Herr Schneider, jetzt will die SPD auf der anderen Seite bei Besserverdienenden oder Vermögenden auch ansetzen. Wir haben das gerade gehört: den Spitzensteuersatz erhöhen, eine Vermögenssteuer einführen. Wenn man das jetzt europaweit vielleicht betrachtet, hat Deutschland da nicht tatsächlich auch Nachholbedarf?

    Schneider: Über Steuererhöhungen kann man sicher reden. Wenn man etwas gegen die wachsende Ungleichheit tun will, ist das möglicherweise opportun. Wo man hier nur aufpassen muss ist, dass das nicht dazu führt, dass der Zweitverdienst im Haushalt dann wieder überproportional bestraft wird. Das ist ja insbesondere in Deutschland ein Problem. Wenn zwei Menschen im verheirateten Haushalt arbeiten, dann ist der zweite Verdiener in der Regel hart bestraft.

    Und wenn jetzt die Spitzensteuersätze für höhere Einkommen noch stärker angehoben werden sollen, dann trifft das möglicherweise genau diese Zweitverdiener, und das ist angesichts der demographischen Probleme, die wir vor uns haben, keine gute Idee, denn wir müssen im Grunde an der Stelle eher die Bremsen wegnehmen, denn wir sorgen ja dafür, dass Frauen, die eigentlich gerne viel mehr arbeiten würden, im Grunde gar keinen finanziellen Anreiz haben. Das ist eine der großen Herausforderungen, um den demographischen Wandel bestehen zu können, dass wir einfach so viel Potenzial, wie wir können, mobilisieren, und das darf man eben nicht durch zu hohe Spitzensteuersätze für Zweitverdiener zunichtemachen.

    Zagatta: Jetzt gehört ja der Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, nicht unbedingt dem linken Flügel an. Wie sehen Sie das jetzt mit Blick auf den Bundestagswahlkampf beim Thema Wirtschaftskompetenz? Ist die SPD da mit Steinbrück in guten Händen?

    Schneider: Wenn überhaupt jemand bei der SPD Wirtschaftskompetenz für sich beanspruchen kann, dann sind es sicher Menschen wie Peer Steinbrück. Man muss nur sehen: Aus politischen Gründen ist er gezwungen, hier Zugeständnisse zu machen, denn es ist ja auch legitim, dass die SPD ein Programm verkündet, mit dem sie wiedergewählt werden kann. Dass man mit Forderungen, die dann eher in die Kiste FDP gehören, als SPD nicht wählbar ist, das ist ja klar und deswegen muss man Herrn Steinbrück, glaube ich, hier ein paar Dinge zugestehen.

    Inwiefern er später, sollte die SPD wieder an die Macht kommen, inwiefern ein Herr Steinbrück dann noch die Möglichkeit hat, sich mit seiner politischen Vernunft durchzusetzen, das steht dann auf einem ganz anderen Blatt. Das wird die Zeit zeigen. Aber im jetzigen Stadium bleibt ihm wahrscheinlich, hat er gar keine andere Wahl. Ich kann mir gut vorstellen, dass es da eine Menge Kröten gibt, die er gezwungenermaßen schluckt, obwohl ihm der ökonomische Sachverstand sagt, dass das alles nicht vernünftig ist.

    Zagatta: Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik beim Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Herr Schneider, ich bedanke mich für das Gespräch.

    Schneider: Danke Ihnen auch, Herr Zagatta.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.