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Freud als Vater

War Sigmund Freud, der Entdecker des Ödipus-Komplexes und symbolischen Vatermordes, ein liebevoller Vater? Die jetzt erstmals veröffentlichten Briefe Freuds an seine Kinder bieten eine Gelegenheit, Freud als Elternteil kennenzulernen.

Von Oliver Pfohlmann | 14.07.2010
    Freud-Biografen wie Peter Gay betonten früh Freuds ausgeprägten Familiensinn. Und beriefen sich dabei auf den damals unveröffentlichten Nachlass des Analytikers in der Washingtoner Library of Congress. Eine jetzt erschienene Edition mit den Briefen Freuds an seine Kinder bestätigt dieses Urteil. Nach der Lektüre des knapp 700 Seiten dicken Bandes muss man sagen: Freud war ein überaus einfühlsamer und humorvoller Vater. Mochte sich die expressionistische Generation nicht zuletzt dank seiner Theorien in Vatermord-Fantasien ergehen, Freud selbst bot dafür keinen Anlass. Selbst die Ehepartner seiner Kinder gewannen bei ihm rasch den Gefühlsstatus von eigenen Kindern. Nur Martins Frau Esti attestierte er, "nicht nur bösartig meschugge" zu sein, "sondern auch im ärztlichen Sinn verrückt" - es war die einzige unglücklich verlaufende Ehe unter Freuds Kindern.

    Die Rolle des allwissenden, das Unbewusste seines Gegenübers durchschauenden Analytikers nahm Freud nur ausnahmsweise ein. Berief er sich doch einmal auf sein ärztliches Wissen, so geschah dies auf eine dezente, beinah zärtliche Weise. Wie gegenüber seiner Tochter Sophie, als diese 19-jährig ihre Eltern wissen ließ, sie habe sich auf ihrer Reise in Hamburg mit einem Fotografen namens Max Halberstadt verlobt. So viel weibliche Autonomie war damals, 1912, in einer jüdisch-bürgerlichen Familie alles andere als selbstverständlich. Zwar reagierten die Eltern in Wien souverän auf die Entscheidung ihrer Tochter, doch Sophie zeigte sich überraschend unbefriedigt, wofür der Analytiker die Erklärung wusste.

    Meine liebe Sophie

    Ein anderer Vater würde schreiben, er begreife nicht, wieso ein Telegramm: 'Mama Papa Max gratulieren dir' in anderem Sinne aufgefasst werden kann als: gratuliren Dir zur Verlobung, begrüßen Dich als Braut, und er könne nicht verstehen, daß ein solcher Gruß Unbefriedigung hervorrufen kann. Ich aber kann mir erklären, daß Dich das böse Gewißen ein wenig geplagt hat weil Du Dich bei der Verlobung selbst so ganz über uns hinweggesetzt hattest u das macht Dir wenigstens Ehre.


    Freud, der Patriarch, gestand seinen Töchtern durchaus zu, sich ihre Ehepartner selbst auszuwählen. Doch jüdisch mussten sie sein, sollten eine Familie ernähren können und frei sein von Erbkrankheiten. Und natürlich musste sich, wer um die Hand einer seiner Töchter anhielt, einer kritischen Prüfung unterziehen. Auch Max Halberstadt, jener stürmische Hamburger Fotograf, erhielt umgehend Post aus Wien:

    Sehr geehrter Herr

    Meine kleine Sophie, die wir für einige Wochen nach Hamburg beurlaubt hatten, kam also vor zwei Tagen heiter, strahlend und entschloßen zurück und machte uns die überraschende Mittheilung, sie habe sich dort mit Ihnen verlobt. Wir verstanden, daß wir somit als überflüßig - in gewißem Sinne - erklärt seien und nichts anderes zu thun haben als die Formalität unseres Segens zu erteilen. Da wir nie etwas anderes gewünscht hatten, als daß sich unsere Töchter nach freier Neigung vergeben, wie es unsere älteste auch gethan hat, so müßen wir mit diesem Ereignis im Grunde sehr zufrieden sein. Aber wir sind doch Eltern, mit allen Einbildungen dieses Standes belastet, fühlen uns verpflichtet, unsere Wichtigkeit zu behaupten und darum wollen wir den energischen jungen Mann, dessen Entschlossenheit auf unser Kind übergegriffen hat, auch selbst ins Auge fassen, ehe wir gerührt Ja und Arm sagen.


    Mit Recht konstatiert der Herausgeber Michael Schröter, dass Freud die Balance zwischen seinem väterlichen Verantwortungsgefühl und der Rücksicht auf das Eigenrecht seiner Töchter mit bemerkenswertem Takt bewahrt habe. Ebenso takt- wie liebevoll und zugleich dem Ethos der Aufrichtigkeit verpflichtet erweist sich Freud auch da, wo er Sophie Ratschläge in Sachen Empfängnisverhütung gibt. Oder seiner ältesten Tochter Mathilde, die, 21-jährig, unter Torschlusspanik litt, ihre Komplexe über ihre vermeintlich mangelhafte Schönheit ausredet.

    Meine liebe Mathilde

    ... Ich ahnte längst, daß Du bei all Deiner sonstigen Vernünftigkeit Dich kränkst, nicht schön genug zu sein u darum keinem Mann zu gefallen. Ich habe lächelnd zugeschaut, weil Du mir erstens schön genug schienst, u weil ich zweitens weiß, daß in Wirklichkeit längst nicht mehr die Formenschönheit über das Schicksal des Mädchens entscheidet, sondern der Eindruck ihrer Persönlichkeit. Dein Spiegel wird Dich darüber beruhigen, daß nichts Gemeines oder Abschreckendes in Deinen Zügen liegt, u Deine Erinnerung wird Dir bestätigen, daß Du Dir noch in jedem Kreis von Menschen Respekt u Einfluß erobert hast.


    Die Beispiele zeigen: Freuds Kinder sind hier keine Kinder mehr; die Briefwechsel mit den Töchtern Mathilde und Sophie sowie den Söhnen Martin, Oliver und Ernst beginnen alle nach dem Jahr 1907: Die Kinder sind auf dem Sprung ins Erwachsenenleben, Freud selbst bereits eine international bekannte Koryphäe, mit Schülern und einer florierenden Privatpraxis, an deren Schicksal die Kinder Anteil nahmen. Leider lässt der Herausgeber die Kinder selbst nur exemplarisch zu Wort kommen, auch wäre eine stärkere Auswahl wünschenswert gewesen. Denn das Gros der Briefe handelt von Alltäglichkeiten: Grüße aus den Sommerferien in Südtirol oder Kärnten, Verabredungen für Treffen, Ankündigungen von Geschenken, dem Austausch von "Familienneuigkeiten". Es galt, eine wachsende Großfamilie über das Medium Brief zusammenzuhalten, um so mehr, als die Zeitläufte nach 1914 den Familienverbund auseinanderzureißen drohten. Als im August 1914 sein in Prag als Jurist arbeitender Sohn Martin die Absicht äußerte, sich freiwillig zu melden, schrieb ihm Freud:

    "Lieber Martin

    ... Ich verstehe, daß Du kommen und irgendwie mitthun willst. Ich hoffe aber, nicht als Soldat, ehe man dich einberuft, was vielleicht nicht der Fall sein wird, denn wie man tragen muß, was einem zufällt, darf man auch genießen, was einem geschenkt wird, in diesem Falle die Lebenschance."


    Typisch für Freud war seine Reaktion, nachdem er erfuhr, dass Martin sich doch gemeldet hatte. Statt die Entscheidung zu kritisieren, bescheinigte er seinem Sohn umgehend, "korrekt und anständig" gehandelt zu haben. Er stellte die Familiensolidarität über die eigene Sorgenlast und trat niemals moralisierend auf, sondern unterstützend und ermutigend. Alle drei Söhne zogen 1914 in den Krieg, ebenso zeitweilig die Schwiegersöhne, jedes ihrer Lebenszeichen wurde sofort an den Rest der Familie weitergegeben. In der Not von Nachkriegszeit und Exil, als seine Söhne mit ihren Familien ihr Glück erst in Deutschland, später in Frankreich und England suchten, half Freud ihnen mit finanziellen Zuwendungen, wann immer er konnte. Und erfand immer neue Wendungen, um etwaigen Gefühlen der Beschämung bei den Empfängern vorzubeugen.

    Wie schwer es Väter heutzutage oft haben, in ihre Rolle zu finden, kann man beispielsweise in der Autobiografie des US-Präsidenten Barack Obama nachlesen. In Freuds Briefen begegnet man einem Vater, der eine von Güte und Menschlichkeit bestimmte väterliche Autorität ausstrahlt, deren Selbstverständlichkeit heutige Leser staunen lässt. Das macht seine Briefe, jenseits des sprachlichen Genusses, zu einer anrührenden Lektüre.



    Bibliografie

    Sigmund Freud: Unterdeß halten wir zusammen. Briefe an die Kinder. Berlin: Aufbau Verlag, 2010. 684 Seiten, 32 Euro.