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Friedensdemonstrationen in Belfast

Der Union Jack sorgt seit zwei Wochen für Streit in Nordirland. Und zwar so sehr, dass zwischen radikalen Katholiken und Protestanten wieder die alten Muster von Gewalt und Gegengewalt aufflammten. Doch in Belfast demonstrierten jetzt die Nordiren gegen die Ausschreitungen.

Von Jochen Spengler | 18.12.2012
    Die schweigende Mehrheit in Nordirland schweigt nicht mehr:

    "Es geht um eine friedliche Versammlung der schweigenden Mehrheit, die Nein sagen zu der anhaltenden Gewalt."

    Über 1000 Demonstranten trommeln am Sonntag für den Frieden. Schon am Vortag haben Hunderte dafür gebetet und eine Menschenkette um das prächtige Belfaster Rathaus gebildet. Das ist mit Tannenbäumen und einem großen Transparent geschmückt: "Merry Christmas, Belfast."

    "Wir haben genug von der Gewalt – die dauert schon viel zu lang – wir wollen eine bessere Zukunft für unsere Kinder.
    Die Nachrichten der letzten Wochen waren bestürzend und schlimm – wir mussten versuchen, was zu tun."

    Die meisten der 1,8 Millionen Nordiren sind des ewigen Streit zwischen den Extremisten überdrüssig. Vorbei ist er nicht.

    Seit dem Karfreitagsabkommen 1998 haben aber die Auseinandersetzungen zwischen den protestantischen Unionisten, die wollen, dass Nordirlands beim Vereinigten Königreich bleibt und den katholischen Republikanern, die am liebsten Teil der Republik Irland würden, erheblich nachgelassen.

    Der jüngste Gewaltausbruch entzündete sich am Beschluss des Belfaster Stadtrats vor zwei Wochen, nicht mehr wie bislang jeden Tag den britischen Union Jack zu flaggen, sondern nur noch an 20 ausgewählten Tagen im Jahr. Seither demonstrieren vermummte und Fahnen schwenkende Unionisten mit Steinen, Molotowcocktails und Feuerwerkskörpern Abend für Abend in der City und im Osten Belfasts – Sympathisanten der militanten "Ulster Volunteer Force. Katholische Hardliner von der "Real IRA" lassen sich nicht lumpen und halten dagegen; Dutzende werden verhaftet, etliche Polizisten verletzt.

    Ziel der Angriffe ist vor allem die überkonfessionelle Alliance-Partei, die den Mehrheitsbeschluss ermöglichte, weil sie glaubt, dass der Union Jack häufig als Symbol der Ausgrenzung verstanden werde. Ein Parteibüro der Alliance wird zerstört und durch das Fenster der jungen Stadträtin Christine Bower fliegt eine Farbbombe, gerade als sie mit ihrem Baby zu Bett gehen will.

    "Das Glas sprang aus dem Fenster und als ich begriff was geschehen war, war ich total aufgeregt, ich konnte nicht aufhören zu zittern."

    Mutter und Kind bleiben auf wundersame Weise unverletzt. Im britischen Unterhaus erklärt die Nordirlandministerin Theresa Villiers:

    "Keiner wird die Unterstützung der Regierung für die Union und ihre Flagge in Zweifel ziehen. Aber jene Leute, die so gewalttätig sind, wie wir es in den letzten Tagen gesehen haben, verteidigen nicht die Unionsfahne. Was sie tun, hat mit Britisch-Sein nicht im Entferntesten zu tun; sie entehren und beschämen die Fahne unseres Landes."

    Eine Verurteilung, die 15 Randalierer nicht davon abhält, einen Polizisten in seinem Streifenwagen mit einem Molotowcocktail zu bewerfen. Die Attentäter werden wegen versuchten Mordes verfolgt, der Polizist hatte Glück. Er war zum Schutz der Alliance-Abgeordneten Naomi Long abgestellt, die Morddrohungen erhalten hat. Ihr Fazit fällt ernüchtert aus:

    "Nordirland ist keine normale Gesellschaft, wir sollten uns da nicht täuschen, nur weil wir etwas Fortschritt gemacht haben. Die Konflikte sind nicht verschwunden und der Versöhnungsprozess ist nicht vorangetrieben worden, so wie es sein sollte. Wir bauen für die Zukunft, aber wir bauen in einem Erdbebengebiet, und die Bruchlinie durch Nordirland, dieser bittere, tiefe Hass ist noch da."

    In den vergangenen zwei Jahren gab es nach Polizeiangaben 300 Schießereien, Messerstechereien oder schwere Schlägereien zwischen den verfeindeten Gruppen. Einen neuen Bürgerkrieg halten die meisten Beobachter aber für unwahrscheinlich. Was man jetzt erlebe seien die letzten Zuckungen einer sterbenden Idee, schreibt ein nordirischer Journalist in der Times. Peter Robinson, der protestantische Regierungschef Nordirlands, und sein katholischer Stellvertreter Martin McGuinness, haben in einem gemeinsamen Aufruf noch einmal ein Ende der Flaggenproteste verlangt.