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Friedensnobelpreis geht an chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo

Der Friedensnobelpreis für den chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo ist nach Einschätzung des chinesischen Publizisten Shi Ming eine Anerkennung Liu Xiaobos als Kopf der zivilgesellschaftlichen Bewegung in China. Ming rechnet nicht damit, dass der Inhaftierte den Preis persönlich entgegennimmt, doch auch, ob seine Frau nach Stockholm reisen dürfe, sei unklar.

Shi Ming im Gespräch mit Gerwald Herter | 08.10.2010
    Gerwald Herter: Im vergangenen Jahr hatte das Osloer Nobelkomitee den Friedensnobelpreis an den amerikanischen Präsidenten Barack Obama vergeben, äußerst ungewöhnlich, denn Obama war zu diesem Zeitpunkt erst neun Monate im Amt. Viele Beobachter hatten deshalb diesmal auf eine unspektakuläre Entscheidung getippt. Das Komitee ist seiner Linie auch in diesem Jahr in gewisser Hinsicht treu geblieben; es hat überraschend den Favoriten zum Preisträger gemacht und damit Unabhängigkeit bewiesen. Nun bin ich mit dem Journalisten Shi Ming verbunden. Guten Tag, Herr Shi Ming.

    Shi Ming: Guten Tag.

    Herter: Welche Bedeutung hat diese Entscheidung, diese Osloer Entscheidung für den Preisträger selbst, für Liu Xiaobo?

    Shi Ming: Für ihn selbst ist es eine Bestätigung - nicht nur, dass er so mutig und engagiert sich für Menschenrechte und Bürgerrechte in China stark gemacht hat, sondern dass er sich einer ganzen Bewegung vorangestellt hat. "Charta 08" zum Beispiel wurde von ihm, aber auch von 300 anderen Intellektuellen initiiert, es ist ja nicht nur sein alleiniger Verdienst, aber er gilt ab sofort insbesondere mit diesem Nobelpreis als der Kopf der zivilgesellschaftlichen Bewegung in China, und das ist natürlich sehr viel, auch für ihn persönlich.

    Herter: Für diese Bewegung ist es also gut. Was wissen wir aber über die Haftbedingungen des Preisträgers?

    Shi Ming: Bislang sind die Haftbedingungen für die chinesischen Verhältnisse noch relativ zivil. Seine Frau berichtete davon, dass er zumindest im Gefängnis noch lesen und schreiben kann, wahrscheinlich unter Überwachung, aber zumindest bekommt er noch Bücher und Papiere. Seine Gesundheit lässt zwar auch einiges zu wünschen übrig, aber im Vergleich zu anderen, weniger bekannten Dissidenten hat er noch einigermaßen relativ zivile Konditionen bekommen.

    Herter: Sie haben seine Frau erwähnt. Sie kann gelegentlich zumindest Interviews geben, auch westlichen Medien. Rechnen Sie damit, dass sie den Preis entgegennehmen wird?

    Shi Ming: Das Komitee aus Oslo hat ja schon sehr diplomatisch angekündigt, dass man sich an die chinesischen Behörden wenden wird, um die Entgegennahme des Preises zu organisieren. Es ist wohl jetzt schon klar, dass Liu Xiaobo nicht für diesen Zweck vorläufig aus dem Gefängnis freigelassen wird. Das wäre zu viel Gesichtsverlust. Ob seine Frau frei reisen kann, da steht ein großes Fragezeichen, denn zu der Minute, als diese Entscheidung aus Oslo bekannt gegeben wurde, sitzen gerade drei Mitarbeiter der chinesischen Sicherheitsdienste bei ihr zu Hause und versuchen, sie dazu zu bewegen, niemandem ein Interview zu geben, niemandem eine Stellungnahme zu geben, und das wird sicherlich auch weiter die Marschroute der offiziellen Behörden und auch der offiziell organisierten Öffentlichkeit sein. Es ist natürlich abzuwarten, ob China jetzt einen politischen Deal macht, sozusagen klammheimlich: Wir lassen jemanden raus, vielleicht Liu Xiaobo, vielleicht jemand anderen, dafür bekommen wir das und das dann zuerkannt.

    Herter: Die Frau des Preisträgers hat vor einigen Tagen ein Interview gegeben, in dem sie gesagt hat, die chinesischen Behörden versuchten, mit sehr vielen Mitteln, mit Geld und Druck, diese Entscheidung zu verhindern. Was waren diese Mittel?

    Shi Ming: Das ist die sogenannte Soft Power. Das sind die Gesprächsrunden, zu denen die chinesischen, zum Beispiel Konfuzius-Institute, überall in der Welt einladen, insbesondere natürlich in Skandinavien, aber auch in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, die da versuchen, diese kleine zivilrechtliche oder zivilgesellschaftliche Bewegung so unscheinbar zu machen, dass man den Eindruck bekommt, ach ja, wer ist denn eigentlich Liu Xiaobo. Das ist natürlich etwas breiter angelegt. Und dann gibt es immer wieder auch quasi Vorträge der Angehörigen der chinesischen diplomatischen Vertretungen überall, insbesondere aber auch in Skandinavien, die darauf hinweisen, wie wichtig China ist, wie wichtig China für Europa ist und welche Fortschritte China schon gemacht hat und so weiter. Geld spielt natürlich eine große Rolle, wenn da zum Beispiel gespendet wird für bestimmte Organisationen, sicher nicht für die Menschenrechtsorganisationen, aber durchaus auch für politisch interessierte Organisationen. Das alles fließt zusammen, nicht nur, um die Entscheidung, diese eine Entscheidung vom Friedensnobelpreiskomitee zu verhindern, sondern überhaupt auch zu verhindern, dass eine internationale Anerkennung überhaupt irgendeinem Dissidenten zuerkannt wird.

    Herter: Glauben Sie, dass Peking jetzt vielleicht auch auf stur stellt? Das was Sie eben beschrieben haben, ist ja ein diplomatischer Umgang mit dieser ganzen Angelegenheit.

    Shi Ming: Offiziell wird es in einigen Stunden wahrscheinlich schon die ersten Stellungnahmen geben, die man auch so, ohne es gelesen zu haben, schon kennt: Wir verbitten uns, dass der Westen sich in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischt, wahlweise könnte darin auch stehen, Liu Xiaobo habe versucht, die chinesische Staatsmacht zu untergraben, das kann keine Regierung in dieser Welt bei sich erlauben, also ihr seid jetzt scheinheilig und dergleichen mehr. Das ist sicherlich der Kurs, den die chinesische Diplomatie und die chinesische Politik fahren wird.

    Was hinter der Kulisse passiert, das weiß man im Moment nicht, ist auch nicht abzusehen, denn innerhalb von China, auch innerhalb der kommunistischen Partei gibt es durchaus Kursstreitigkeiten mit einer Zuspitzung, die man in der Geschichte der chinesischen KP nur selten gekannt hat. Also es kann durchaus sein, dass da auch ein Stein ins Rollen gebracht wird. Ich erinnere zum Beispiel daran, dass der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao sowohl in New York wie auch jetzt in Brüssel davon gesprochen hat, die chinesischen Menschen schreien nach Freiheit der Worte.

    Herter: Das war der Journalist Shi Ming über die Auszeichnung des Dissidenten und Schriftstellers Liu Xiaobo mit dem Friedensnobelpreis. Vielen Dank!