Freitag, 29. März 2024

Archiv

Friedliche Revolution 1989
„Geschichte wiederholt sich nicht“

Als ostdeutscher Theologe und SPD-Politiker prägte Richard Schröder die Wendezeit mit. Die Erfahrungen aus dieser Zeit ließen sich nicht eins zu eins auf die Gegenwart übertragen, so Schröder im Dlf. Fest stehe aber: Kirchen sollten keine politisch einseitigen Positionen vertreten.

Richard Schröder im Gespräch mit Andreas Main | 15.10.2019
Der evangelische Theologe, Philosoph und SPD-Politiker Richard Schröder (Foto vom 13.12.13).
Der evangelische Theologe und SPD-Politiker Richard Schröder (imago images /epd)
Andreas Main: Richard Schröder war einer der prägenden Köpfe in der friedlichen Revolution vor 30 Jahren. Mehr noch. Er war auch prägend davor und danach. Als Theologe in der DDR, als Sozialdemokrat auf dem Weg zur Einigung Deutschlands, als Mitglied der SPD-Grundwertekommission, als Professor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Uni in Berlin oder als vielbeachtete Stimme in der Öffentlichkeit und dies bis heute.
Vielbeachtet, weil er auch immer wieder Positionen bezieht, die überraschen, die anecken, die über das hinausgehen, was überall geredet und veröffentlicht wird. Richard Schröder, 1943 geboren im sächsischen Frohburg, sitzt mir nun gegenüber im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks. Ein Gespräch, das aufgezeichnet wird. Herr Schröder, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben und einen schönen guten Tag.
Richard Schröder: Guten Tag.
Main: Herr Schröder, machen wir mal einen Versuch und versetzen wir uns mal in eine Theologiestudentin in Bielefeld, die 1995 geboren ist und aus einer westdeutschen evangelischen Landeskirche kommt. Was kann die von Ihnen lernen, einem nicht mehr ganz jungen Theologen mit DDR-Erfahrung?
Schröder: Also, Geschichte wiederholt sich nicht. Deswegen kann sie von mir zum Beispiel nicht lernen, wie man eine Revolution macht oder eine Diktatur stürzt. Die Umstände waren so spezifisch, wie ich nun auch besonders noch mal gelernt habe, weil ich in einer Kommission bin, wo wir mit Koreanern zusammen beraten, was man etwa aus der Deutschen Einheit für die koreanische Einheit lernen könne. Und wir müssen immer wieder sagen: Es ist bei euch alles so viel anders. Wir können euch einen Katalog ungefähr aufschreiben, woran man alles denken sollte, aber so richtig lernen, wie man es macht, könnt ihr von uns nicht.
Und so ist es also auch hier: Wer sich mit der Kirche in der DDR beschäftigt, der lernt, was Kirche in einer besonderen Situation tun kann oder auch nicht getan hat oder so etwas. Was man daraus für die Gegenwart lernen kann, da gibt es kein 1:1-Übertragen. Sie können ihre Kenntnisse und Erfahrungsschatz erweitern, wie sie ihn auch erweitern würden, wenn sie sich mit den Erfahrungen einer evangelischen Kirche in Südafrika beschäftigen.
"Habe nicht geglaubt, dass die Mauer aufgeht"
Main: Vor 30 Jahren, ein paar Tage nach den entscheidenden Tagen Anfang Oktober, wo waren Sie, in welchem Gemütszustand?
Schröder: Wir hatten also am 9. Oktober erlebt, dass die Staatsmacht vorbereitet hatte, minutiös vorbereitet hatte, die Montagsdemonstrationen niederzuschlagen, und dass sie, weil viel mehr gekommen waren, als sie gedacht haben, mit ihren 5.000 Sicherheitskräften sich nicht zugetraut haben, 70.000 Demonstranten festzunehmen und ins geplante Internierungslager in Markkleeberg zu schaffen, hat die Staatsmacht kapituliert. Und wir waren damals in diesem Zustand, dass wir gesehen haben, es wird ganz starke Veränderungen geben, nicht nur wegen des ungeheuren Verlustes an Menschen durch die Abwanderung über Ungarn und über die Tschechoslowakei. Es wird Veränderungen geben. Honecker wird abgelöst.
DDR - Volkskammertagung zur Deutschen Einheit. Richard Schröder, Fraktionsvorsitzender der SPD-Fraktion, spricht zum Plenum.
Richard Schröder spricht auf der Volkskammertagung zur Deutschen Einheit am 22. August 1990 (imago / Detlev Konnerth )
Von Egon Krenz, seinem Nachfolger, habe ich persönlich nicht Großes erwartet. Ich habe ihn immer für einen Kleingeist gehalten - und das war er, glaube ich, auch. Und insofern war alles irgendwie offen. Es wurde immer gemunkelt, man könne von Markus Wolf, dem früheren Chef der Auslandsspionage, und von Hans Modrow eine Reform der DDR erwarten, aber wir wussten nicht genau, wo das hinläuft und haben damals, eh die Mauer aufging, habe ich jedenfalls nicht geglaubt, dass sie aufgeht, so aufgeht. Und noch weniger habe ich geglaubt, dass das, was es ja dann de facto war, die Weichenstellung zur Deutschen Einheit wird.
"Nicht gemerkt, als die Mauer fiel"
Main: Waren Sie denn dann eher ängstlich oder eher aufgeregt? Was war so Ihre Verfassung?
Schröder: Ja, Sie wollen das so genau beschrieben haben. Ängstlich eigentlich nicht. Also, nachdem die Montagsdemonstration nicht niedergeschlagen worden ist und wir gesehen haben, wie tatsächlich sehr viele gejubelt haben darüber, dass die Demonstranten gewissermaßen gesiegt haben, habe ich mir eigentlich nicht vorstellen können, dass die Sowjetunion – die hätte es ja machen müssen – eingreift, wenn die Reform weiterging.
Denn die Breschnew-Doktrin war von Michail Gorbatschow ausdrücklich widerrufen worden. Er hat gesagt: Wir wollen uns nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der Bruderstaaten einmischen. Konnte man nicht genau wissen, ob das wirklich für alle Fälle gilt, aber jedenfalls, wenn es nicht zur Gewalt kommt, wird die Sowjetunion einen Reformprozess nicht behindern.
Main: Vor 30 Jahren, am 15. September 1989, da kam die Bundessynode der evangelischen Kirchen in der DDR zusammen. Ich meine, Sie auf historischen Fotos erkennen zu können – von hinten in der zweiten Reihe sitzend. Waren Sie dabei oder täusche ich mich?
Schröder: Nein, da täuschen Sie sich. Da war ich nicht dabei. Ich hatte damals ein Freisemester und war mit einer größeren Arbeit, die sich mit Marxismus-Leninismus beschäftigte, befasst und habe deshalb übrigens auch, als die Mauer fiel, an meinem Schreibtisch gesessen und von nichts was gemerkt.
Erst, als ich ins Bett gegangen bin, so vielleicht nach Mitternacht, schalte ich noch mal den Fernseher ein. Da sehe ich doch, dass die Mauer offen ist, habe aber nichts unternehmen können. Wir hatten ja damals kein Telefon. Ich wusste jetzt auch nicht, ob ich meinen Freund aus dem Bett klingele, wenn ich da jetzt hingehe.
Und am nächsten Tag wären wir ja gerne nach West-Berlin gegangen, aber die Frau meines Freundes hat gesagt: "Das geht nicht. Ich muss wegen des Kindes hierbleiben und heute Nacht wird die Mauer wieder zugemacht, dann seid ihr drüben und ich bin hier." Dann haben wir gesagt: "Na, dann nimm doch die Tochter mit. So klein ist sie ja auch nicht mehr." Da hat er gesagt: "So einer Gefahr darf man sein Kind nicht aussetzen." Die war fest überzeugt, dass in der nächsten Nacht die Russen zumachen. Dann mussten wir bis zum übernächsten Tag warten. Da bin ich dann mit meinen Kindern rüber.
"Der Staat wollte sich mit der Kirche nur begrenzt anlegen"
Main: Richard Schröder, Theologieprofessor, SPD-Politiker und Urgestein im Einigungsprozess seit 1989. Hier im Deutschlandfunk in der Sendung "Tag für Tag – aus Religion und Gesellschaft". Herr Schröder, wir sind direkt ins Jahr 1989 gesprungen. Bevor wir den Blick auf Gegenwart und Zukunft richten, lassen Sie uns jetzt noch in die Zeit vor 1989 gehen. Was hat die Evangelische Kirche in der DDR richtig gemacht?
Schröder: Also, erst mal war es richtig, dass sie den jungen Leuten, die sich für die Themen, die auch in Westdeutschland damals sehr aktuell waren, interessieren, nämlich Friedensfrage, Abrüstung, Dritte Welt, Umwelt. Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung – diese drei Themen haben in den 70er Jahren immer häufiger dazu geführt, dass junge Leute, teils unter Anregung ihres Pfarrers, teils auch aus eigenen Stücken, sich zusammengefunden haben und in diesen Feldern etwas tun oder jedenfalls besprechen wollten.
Und die Kirche hat erklärt: Das gehört zu unserer Arbeit. Dadurch konnte der Staat diese Gruppen nicht einfach zerdrücken, wie man das früher gemacht hätte womöglich, denn alle Eigenorganisation war ja im Grunde unerwünscht. Man hätte Gefängnisstrafen aussprechen können. Man hätte sie nach dem Westen abschieben können. Aber die Kirche erklärte: Das sind unsere Leute. Und der Staat wollte sich mit der Kirche nur begrenzt anlegen, weil die Bundesregierung auf dem Standpunkt stand: Euren guten Willen messen wir daran, wie ihr mit der Kirche umgeht. Und den guten Willen der Bundesregierung, den brauchte die DDR nun wiederum, weil sie Westkredite brauchte.
"Das waren Tabuthemen"
Main: Die berühmten Devisen.
Schröder: Ja, die berühmten Devisen. Das war also ein sehr komplexes Abhängigkeitsverhältnis, was der Kirche, anders als in der Stalinzeit, hier die Gelegenheit gab, solche Gruppen schützend unter ihr Dach aufzunehmen, wenn sie nicht sowieso unter ihrem Dach entstanden waren.
Diese Gruppen hatten mit diesen drei Themen außerdem, ich glaube mehr durch Zufall als durch Absicht, die Themen vermieden, auf die seit dem 17. Juni, dem Volksaufstand, die SED eben hart reagiert hat, nämlich freie Wahlen, Wiedervereinigung Deutschlands, das waren Tabuthemen. Wer so was gefordert hat, der konnte ziemlich sicher sein, dass er im Gefängnis landet, jedenfalls unter Honecker.
Bild von der Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989
Am Montag, dem 9. Oktober 1989, findet nach dem Montagsgebet in der Nikolaikirche die historische, friedliche Montagsdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern statt (dpa / Volkmar Heinz)
Und sie haben diese Themen vermieden, weil sie auch nicht mehr unter dem Schock des 17. Juni standen. Und außerdem hat ja die SED selber, die hat ja auch immer von Frieden und Abrüstung und Dritte Welt und gegen Neokolonialismus, es waren ja eigentlich SED-Themen, nur, dass die SED sie eben anders intonierte. Und, wenn die also gegen die Nachrüstung gewettert hat, die SED, dann hat man in diesen Gruppen gesagt: "Wir sind auch gegen die Nachrüstung. Aber die SS-20, gegen die sind wir auch noch – die sowjetischen." Und dadurch wurde also ein Thema, das nicht tabuisiert war, trotzdem streitig.
"Der Pfarrer kann sich die Prügel dafür abholen"
Main: Was hat die Evangelische Kirche falsch gemacht?
Schröder: Also, in diesen Zusammenhängen wüsste ich jetzt nicht, was sie falsch gemacht hat, denn wir müssen ja jetzt nicht darüber reden, dass der und der Kirchenobere in der und der Situation unglücklich oder auch falsch agiert hat. Also, die Kirchenleute haben aufs Ganze gesehen sich viel Mühe gegeben, diesen Gruppen Raum einzuräumen, obwohl diese Gruppen auch oft nicht ganz einfach waren.
Und die Kirchengemeinden, wenn dann eine Kirchengemeinde gebeten wurde, eine solche Gruppe aufzunehmen, dann haben die im Gemeindekirchenrat auch oft gesagt: Ja, muss das wirklich sein? Oder manche haben auch nein gesagt. Warum? Ja, wenn die zu uns kommen, die kleben nachts Zettel an die Bäume und der Pfarrer kann am nächsten Tag beim Rat der Stadt antanzen und sich die Prügel dafür abholen. Das ist aufs Ganze nicht angenehm. Und in der Tat, die jungen Leute – das ist ja vielleicht ein Vorrang der Jugend – die jungen Leute haben sich oft so benommen, als wenn die SED ein Papiertiger wäre - und sie war es aber noch nicht.
Gewaltfreiheit als Verdienst der Kirchen
Main: Richard Schröder, es gibt ja gerade die Tendenz, dass Kollegen von Ihnen – auch ein evangelischer Theologe – die Rolle der Kirchen damals als überschätzt bezeichnen. Aus Ihrer Sicht ein bedenkenswerter Gedanke oder neuerliche Enteignung, diesmal kulturell-geistig?
Schröder: Überschätzt? Was heißt überschätzt? Es ist einfach so gewesen, dass diese Gruppen unter dem Dach der Kirche entstanden sind und arbeiten konnten. Es gab dann diese großen drei Treffen – Ökumenische Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Main: An denen Sie auch beteiligt waren.
Schröder: Ja, da war ich auch beteiligt in der Arbeitsgruppe "Mehr Gerechtigkeit in der DDR". Und da sind die Gruppen und die sogenannte Amtskirche – unter Einschluss auch der katholischen Kirche übrigens – zusammengekommen und haben zu den wichtigen Themen, die sie interessiert haben, Papiere fabriziert, die dann auch in die Gemeinden gegangen sind. Das Papier über "Mehr Gerechtigkeit in der DDR", an dem ich beteiligt war, ist nach meiner Vermutung das kritischste DDR-Papier, das zu DDR-Zeiten innerhalb der DDR veröffentlicht worden ist. Das will schon was heißen.
Aus diesen Gruppen sind dann die oppositionellen Bewegungen, die sich im September 1989 gegründet haben, hervorgegangen. Und, wenn man sagt, die Rolle der Kirchen wird überschätzt, dann muss man sagen: Na ja, wir wissen nicht, ob ohne diese Vorbereitungszeit unter dem Dach der Kirchen es doch tatsächlich zu wirksamen Gruppenbildungen gekommen wäre. Demonstriert hätten die Menschen vielleicht auch, ohne dass die Kirche ihre Hand mit im Spiel gehabt hätte. Die Gewaltfreiheit allerdings, die Gewaltfreiheit - dafür dürfen sich die Kirchen und die Gruppen ein großes Verdienstkreuz an die Brust heften.
Wir haben, als die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft durch Dresden fuhren, erlebt, dass diese Demonstrationen, diese spontanen Demonstrationen überhaupt nicht friedlich verlaufen müssen. Und noch mal: Ich weiß nicht, wie viele Demonstranten dort verletzt worden sind, aber jedenfalls auch 40 Polizisten, und ein Streifenwagen der Polizei im Bahnhof ist in Flammen aufgegangen.
Da hat man sehen können, dass eben die Gewaltfreiheit nicht in der Natur der Sache lag so einfach, sondern dass es Menschen geben musste, die dafür gesorgt haben, die auch für "Agent Provokateure" eine Taktik in der Hand hatten, nämlich "einhenkeln". Wenn dort jemand also aus der Demonstration heraus Krach machen wollte, dann haben die Leute vom Neuen Forum ihn eingehenkelt und auf diese Weise auch den Sicherheitskräften gezeigt, dass hier die Friedlichkeit der Demonstration an oberster Stelle steht.
"… dann hätte es keinen Runden Tisch geben können"
Main: Sie haben kürzlich einen Vortrag gehalten zur Bedeutung der Kirche für die Entwicklung der DDR. Ich zitiere daraus einen Kernsatz. Zitat: "Die Kirchen haben einen gewissen Ersatz für die fehlende Öffentlichkeit in der DDR bieten können." Welche Folgen hatte das?
Schröder: Also, es war ja so, dass sich diese neuen Gruppen gebildet haben. Das Neue Forum, der Aufruf des Neuen Forum hatte am Jahresende, glaube ich, 200.000 Unterschriften. Das hatte eine enorme Wirkung. Aber nun gehört natürlich zu solchen oppositionellen Gruppen auch, dass sie sich zeigen und dass sie für sich werben können.
Die Kirchen haben nicht nur den Gruppen vor dem Herbst eine Unterkunft gegeben, sondern sie haben auch Rathaus und Marktplatz ersetzt, als sie nun, nachdem die Demonstration in Leipzig nicht niedergeschlagen worden ist, den Gruppen und Parteien Gelegenheit gegeben haben, sich öffentlich bekanntzumachen. Ersatz für den Marktplatz und das Rathaus.
Und das andere, nachdem die Kirchen zu einem zentralen Runden Tisch eingeladen hatten nach polnischem Vorbild: Wenn es die Gruppen nicht gegeben hätte, hätte es auch keinen Runden Tisch geben können. Und ohne den Runden Tisch hätte die SED nicht so schnell abgewirtschaftet. Sie hätten eben unter dem Ruf "Die SED erneuert sich" den Prozess sozusagen verschleppen und verlangsamen können. Und man weiß nicht, was dann passiert wäre. Dann hätte es natürlich auch Explosionen geben können, weil die Leute sagen, wir haben jetzt genug, an der Nase langgeführt zu werden.
Der Runde Tisch, von den Kirchen moderiert, hat der gesamten Bevölkerung vermittelt, das ist jetzt hier ernsthaft und das ist kein Schauspiel. Und irgendwie wird es vorangehen. Und das hat sich eben daran dann auch bewahrheitet, dass die freien Wahlen, die Modrow möglichst weit rausschieben wollte – 6. Mai war das Datum, das zunächst von ihm empfohlen wurde – dann in den März vorgezogen wurden und dadurch eben viel schneller eine vom frei gewählten Parlament gewählte Regierung zustande kam.
"Tendenz zu linken Themen"
Main: Die Kirchen als Ersatz für den Marktplatz und das Rathaus. So haben Sie eben formuliert. Wenn ich da anknüpfen darf und noch mal aus dem Vortrag zitiere. Da sagen Sie: "Es steht den Kirchen immer gut an, wenn sie ein Ort des freien Wortes sind, der Nachdenklichkeit und der Meinungsbildung ohne Scheuklappen." Höre ich da Zweifel durch, was die Gegenwart betrifft?
Schröder: Na ja, was die Gegenwart betrifft. Ja, also, es gibt eine gewisse Tendenz, ich sage jetzt mal, linke Themen bei Kirchenleuten, auch bei Kirchenvertretern, sagen wir mal linksorientierte Themen, sozusagen nicht nur einzufordern, dass sie diskutiert und behandelt werden, sondern Stellung zu nehmen. Wir setzen uns nicht nur dafür ein, dass niemand im Mittelmeer ertrinkt, sondern wir schicken dort selber noch ein Schiff hin, obwohl es eben Bedenken gibt, ob das die beste Methode sei.
Diese Art von "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es", also schnell zur Tat schreiten, sich dadurch aber zur Partei machen. Richard von Weizsäcker hat mal gesagt: "Die Kirche soll nicht Politik machen, sondern sie ermöglichen." Das finde ich eigentlich gut. Er dachte dabei zum Beispiel daran, dass die Ostdenkschrift der evangelischen Kirche, die sich auf das Verhältnis zu Polen und das Problem der Oder-Neiße-Grenze und die Flüchtlinge bezog – diese Ostdenkschrift hat Politiker darin gestärkt, ein neue Ostpolitik zu konzipieren. Aber die Kirche hat die Politik nicht konzipiert, sondern die Problematik so aufbereitet, dass sie besser diskutiert werden konnte.
"Völlig in Ordnung, wenn Christen sich politisch engagieren"
Main: Aber war 1989 nicht der Punkt schlechthin, an dem Kirchenmenschen auch Politik gemacht haben, wo sie sich politisch engagiert haben? Also ist da nicht ein Widerspruch zu erkennen?
Schröder: Nein, nein. Ich selber habe also einen Brief geschrieben zum Beispiel in Sachen Brüsewitz, habe mich da also beschwert beim Neuen Deutschland.
Main: Also, der Pfarrer, der sich selbst verbrannt hat.
Schröder: Der Pfarrer, der sich selber verbrannt hat. Habe mich darüber beschwert, dass der Fall im Neuen Deutschland richtig gehässig beschrieben wurde. Dann wurde der Superintendent vorgeladen, und es wurde ihm gesagt, er solle da hinwirken, dass Schröder solche Briefe nicht mehr schreibt. Da hat der Superintendent gesagt: "Also, tut mir leid, den Brief hat er mir gar nicht gezeigt, den hat er nicht in seiner Eigenschaft als Pfarrer, sondern in seiner Eigenschaft als Bürger geschrieben. Wenden Sie sich auch an ihn selber."
Blick auf die Montagsdemonstration: Siegbert Schefke filmte am 9. Oktober 1989 vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig.
Blick auf die Montagsdemonstration: Siegbert Schefke filmte am 9. Oktober 1989 vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig (transit-Verlag / Siegbert Schefke)
Sehen Sie, das meine ich. Es ist völlig in Ordnung, wenn Christen und auch, wenn es denn sein muss, Pfarrer sich politisch engagieren. Es muss aber irgendwie erkennbar sein. Ich finde, wenn sie von der Kirche dort nicht hingeschickt worden sind, dann lassen Sie mal die Amtskleidung zu Hause und nehmen an der Demonstration erkennbar als Bürger teil.
"Wenn du ausgetreten bist, kräht kein Hahn mehr nach dir"
Main: Also, um es jetzt noch mal festzuhalten, politische Verantwortung übernehmen, ja, selber Politik machen, nein?
Schröder: Für die Kirche als Institution.
Main: Okay.
Schröder: Für die Christen ist das dann noch mal eine andere Frage.
Main: Wie müssten Kirchen agieren, damit sie Kitt für die Gesellschaft und nicht Spaltpilz sind?
Schröder: Ach, na ja, Spaltpilz, finde ich, sind sie doch auch jetzt nicht. Auch dieser Einsatz, den ich hier kritisiert habe, dass die evangelische Kirche da ein Rettungsschiff schicken will, das ist ja kein Spaltpilz. Das ist zwar in meinen Augen zu einseitig Position bezogen, aber ein Spaltpilz ist das nicht. Und ich meine, es gibt ja nur noch diejenigen, die der Meinung sind, man soll die Leute zur Abschreckung ertrinken lassen.
Und da muss ich natürlich sagen, da bleibt mir ja die Spucke im Mund stecken und ich fange an zu stottern. Da sind die Kirchen natürlich auch, wenn ich sage, sie schießen ein bisschen übers Ziel hinaus, völlig im Recht, wenn sie sagen, das ist nun völlig indiskutabel.
Also, insofern, dass die Kirche spaltet, das sollte man nicht zu schnell sagen. Gerade im Westen gibt es ja sehr oft das Phänomen, dass irgendeine Entscheidung eines Kirchenvertreters oder auch einer Synode, die gefällt jemandem grundsätzlich nicht, weil er politisch ganz anders gestrickt ist und dann sagt: Ich trete aus. Ich sage: Ja, das sollst du mal lieber nicht machen. Die Waffe kann man immer nur einmal benutzen. Nachdem du ausgetreten bist, kräht kein Hahn mehr nach dir. Aber, wenn du drinbleibst und sagst, hört mal zu, die Kirche soll sich so artikulieren, dass ich nicht in die schwarze Ecke geschoben werde, ist viel wirksamer.
"Wünsche mir stabile Gemeinden"
Main: Abschließend, wenn Sie mal in die Zukunft schauen. 30 Jahre nach 1989, wie wünschen Sie sich Ihre Kirche in 30 Jahren, im Jahr 2049?
Schröder: Ach, das ist für mich schwer zu sagen.
Main: Aber ein Wunsch.
Schröder: Ach so, ein Wunsch. Ja, ich wünschte mir, dass es stabile Gemeinden gibt. Auch wenn das Einzugsgebiet immer größer wird, sollte diese Gemeinde, wie ich das zum Beispiel bei der evangelisch-deutschen Kirche in Chile gerade vorige Woche erlebt habe, sollte die Gemeinde ein Treffpunkt sein von Menschen, die sich – auch, wenn sie die Woche über sehr weit voneinander entfernt leben und arbeiten – treffen und kennen, miteinander an ihrem Leben und Schicksalen teilnehmen und das unter dem, wie man so kurz sagen kann, unter dem Wort Gottes, also im Lichte dessen, was wir von Jesus Christus gelernt haben, sich ihren Alltag im Gottesdienst beleuchten lassen.
Main: Richard Schröder, evangelischer Theologe, engagierter Sozialdemokrat in den Jahren 1989 folgende und ein zentraler Mitgestalter dieses Landes. Herr Schröder, danke Ihnen für Ihre Ausblicke, Einblicke und Rückblicke, danke für das Gespräch.
Schröder: Danke schön.