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Friedrich Schleiermacher
"Religion ist ein Gefühl"

Vor 250 Jahren wurde der evangelische Theologe und Philosoph geboren. Religion sei eine "eigene Provinz im Gemüte", sagte er, etwas anderes als Moral und Vernunft. Seine Reden provozieren, damals wie heute.

Von Michael Reitz | 21.11.2018
    Holzschnitt von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher - evang. Theologe und Philosoph.
    Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher - evang. Theologe und Philosoph. (picture alliance/akg-images)
    Religion ist nur das unmittelbare Gefühl der Abhängigkeit des Menschen von Gott; es ist noch nicht durch den Begriff hindurch gegangen, sondern nur im Gefühl erwachsen. (…) Daher muss alles Handeln und Thun ein religiöses werden. Die Offenbarung ist keine von obenher gekommene, ausserordentliche Mittheilung, sondern das Bewusstwerden des eigenen innersten Lebens und einer neuen Anschauung des Unendlichen.
    (Aus: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799).
    Religion, so Friedrich Schleiermacher, kommt von Innen. Ebenso wenig wie sich die Existenz Gottes mit den Mitteln der Wissenschaft beweisen lässt, kann man eine schlüssige verstandesmäßige Erklärung darüber abgeben, warum Menschen religiös sind. In der Philosophie der Aufklärung hatte man versucht, der Religion einen randständigen Platz im Reich der Vernunft zuzubilligen. Das ging jedoch auf Kosten der Spiritualität. Friedrich Schleiermacher, so der Berliner Philosoph Andreas Arndt, geht einen anderen Weg:
    "In diesen Reden über die Religion macht Schleiermacher etwas, was radikal neu ist. Bis dahin war ja in der Philosophie das Konzept von der Vernunftreligion oder natürliche Religion gängig, wobei man sich dann fragen muss, was ist eigentlich noch daran religiös, wenn ich das alles mit Vernunft stütze? Und Schleiermacher zerreißt das, sagt also, die Religion sagt sich los von Moral, von Weltanschauung, ist ein eigenes Gebiet eine eigene Provinz im Gemüte, wie Schleiermacher sagt."
    Die Religion ist weder eine besondere Art des Denkens, noch eine besondere Art, sich zu betragen; sie ist weder Wissen, noch Thun; sie ist Gefühl; sie ist das unmittelbare Bewusstsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche; ein Liegen an dem Busen der unendlichen Welt.
    Religionsbegriff kommt ohne Dogmen aus
    Wenn Religion ein Gefühl ist, eine Grundstimmung, die im Gemüt des Menschen und nicht durch Reflexion entsteht, dann gerät eine theologische Disziplin in die Schusslinie: die Dogmatik.
    Friedrich Schleiermachers Religionsbegriff kommt ohne Dogmen aus. Für ihn ist Religion ein Prozess, wirkliche Religion ist nur erfahrbar, wenn der einzelne Mensch sie als ewigen Neuanfang begreift. Und nicht als etwas Gelerntes, einmal Angenommenes, das wie von selbst weiterläuft. Religion ist unfassbar, nicht dingfest zu machen. Um ihrem Wesen näher kommen zu können, muss der Mensch sich nicht in die Einöde oder die Stille eines klösterlichen Lebens zurückziehen. Was er stattdessen braucht, ist Kommunikation mit seinen Mitmenschen.
    Wie sollte er gerade die Einwirkungen des Universums für sich behalten, die ihm als das größte und unwiderstehlichste erscheinen? Wie sollte er gerade das in sich festhalten wollen, was ihn am stärksten aus sich heraustreibt, und ihm nichts so sehr einprägt als dieses, daß er sich selbst aus sich allein nicht erkennen kann? Sein erstes Bestreben ist es vielmehr, wenn eine religiöse Ansicht ihm klargeworden ist, oder ein frommes Gefühl seine Seele durchdringt, auf den Gegenstand auch Andere hinzuweisen und die Schwingungen seines Gemüts womöglich auf sie fortzupflanzen.
    Die Religion wird als eigenständiges Element konzipiert, unabhängig von Moral und metaphysischer Spekulation. Religion reißt sich dabei immer los von dem, was als vorgegeben gilt. Sie wird bei Friedrich Schleiermacher undogmatisch, aber auch verbindlich.
    Produktive Einladung zum Dialog
    Es wäre allerdings falsch, Schleiermachers Ideen als bloße Auseinandersetzung unter Intellektuellen und Theologen zu sehen. Ihm ging es auch um eine Kritik, die den Nerv der Epoche treffen sollte. Dabei stellt er seinen Zeitgenossen ein vernichtendes Zeugnis aus:
    Den Einen gebietet die unersättliche Sinnlichkeit eine immer größere Masse irdischer Dinge um sich her zu sammeln, die sie gern aus dem Zusammenhange des Ganzen herausrisse, um sie ganz und allein sich einzuverleiben; in dem ewigen Wechsel zwischen Begierde und Genuß kommen sie nie über die Wahrnehmungen des Einzelnen hinaus, und immer mit selbstsüchtigen Beziehungen beschäftigt, bleibt ihnen das Wesen der übrigen Menschheit unbekannt. Die Anderen treibt ein ungebildeter, sein Ziel überfliegender Enthusiasmus rastlos im Universum umher.
    Das ist eine Passage aus den "Reden über die Religion", die modern anmutet. Neben dem Genussimperativ unserer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft mit ihrer Jagd nach immer neuen Events und Kicks existiert eine nervöse Verweigerungsmentalität. Friedrich Schleiermacher will auch diejenigen ansprechen, die in Kirchen gehen, ohne an spezifisch theologischen Diskussionen interessiert zu sein. Der Theologe und Religionsphilosoph Friedrich Schleiermacher entwirft in seinen Reden kein Theoriegebäude, das mit der politischen Wirklichkeit seiner Zeit nichts zu tun hätte.
    Schleiermacher hat sich vor der zunehmenden Deutungsmacht des wissenschaftlich-technischen Weltbildes nicht in ein religiöses Schneckenhaus geflüchtet. Vielmehr ist er nach außen gegangen mit einer Ahnung davon, dass viele Menschen mit diesem Weltbild unzufrieden sind, ihre spirituelle Obdachlosigkeit aber nicht artikulieren können. Und auch hierin liegt die Modernität Friedrich Schleiermachers: Seine Thesen sind Aufforderung zur Diskussion. Zwar eine sehr provokative, aber auch produktive Einladung zum Dialog.