Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Frisch und aufregend

In "Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer" versammeln sich sämtliche Erzählungen von Bodo Kirchhoff aus den Jahren 1978 bis 2004 in einem ungewöhnlichen Band. In der Schnelllebigkeit des Literaturbetriebs längst Vergessenes steht hier neben ganz aktuellen Texten, die Erzählungen Kirchhoffs wirken aber insgesamt frisch, sie regen auf.

Von Detlef Grumbach | 20.06.2005
    "Diese Geschichte zeigt für mich den Einbruch des Anderen einfach. Man kann zwar sein Leben schön bauen, man kann sich auch einigermaßen nach außen schützen, aber es gibt einfach andere Menschen. "

    So umreißt Bodo Kirchhoff die Idee, die der Titelgeschichte seines Erzählungsbands zugrunde liegt. Das Haus oben über dem See, und sie hätten unten im Ort gesessen. Als sie zurück gekommen seinen, hätten sie zunächst gar nichts bemerkt. So erzählt der Ehemann von einem viel zu spät entdeckten und hier als Metapher dienenden Einbruch in ihr Ferienhaus. Erst Nachts, als sie einander anschrieen, als ihre Beziehung auf Messers Schneide stand, registrierten sie, das wirklich etwas nicht stimmt in ihrer Idylle am Garda-See. In diesem – so der Titel – "Sommer nach dem Jahrhundertsommer":

    "Und andere Menschen sind einfach anders und auf die hat man relativ wenig Einfluss. Und das zeigt sich einerseits in einer Ehe, obwohl man sich sehr gut kennt, aber es zeigt sich auch darin, dass der eine oder andere in dem Haus, das einem gehört, vorbei kommt um sich etwas zu holen und das ist eben etwas, was man hin und wieder vergisst und es ist ja auch so eine Tendenz der Privatheit oder des Feierns der Privatheit, dass man glaubt, man könne sein Privatleben so ideal organisieren. Aber es gibt eben noch das Andere oder den Anderen und den kann man nicht organisieren. "

    "Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer": über dreißig, kurz: sämtliche Erzählungen aus den Jahren 1978 bis 2004 versammelt dieser ungewöhnliche Band. In der Schnelllebigkeit des Literaturbetriebs längst Vergessenes steht hier neben ganz aktuellen Texten, die Erzählungen Kirchhoffs wirken aber insgesamt frisch, sie regen auf. Als Botho Strauß "Paare und Passanten" in einer oft schmerzhaft empfundenen Leere aneinander vorbei laufen lässt, konzentriert Kirchhoff sich in seinen frühen Texten auf das innere Erleben des Einzelnen in einer Welt, in der Intimität es schwer hat. Da flaniert ein einsame Wanderer durch das Rotlichtviertel Frankfurts. Er ist neu in der Stadt und kommt erst richtig an – so die kühle Pointe der ersten Erzählung – nach einem Besuch im Puff. Nein, kein lustvoller Geschlechtsverkehr, nur ein flüchtiger Kuss auf die Möse der jungen Prostituierten aus Portugal – "Milliarden von Bakterien haben ihren Wirt gewechselt" heißt es. Dann ist er da – und bereit, zur Beerdigung seiner Mutter zu gehen. Dieser Flaneur, dieser von innerer Unruhe in Bewegung gehaltene Reisende markiert den Beginn des Erzählers Kirchhoff. Bis hin zu seinem jüngsten Roman "Wo das Meer beginnt" – dessen Protagonist Brantzger ist ein alter Bekannter Kirchhoffs früher Leser – lotet der 1948 geborene Autor das Spannungsverhältnis von Suche nach Nähe und ihrer Bedrohung aus. Intimität ist sein großes Thema – doch:

    "Es ist nicht diese Intimität, die wir heute mit dem Gefühl des Wohlfühlens verbinden, sondern es ist eine ganz andere Intimität, die etwas mit schmerzlicher Nähe zu tun hat und gleichzeitig mit der Mauer, die sich dann auch auftun kann, wenn man jemand anderen wirklich berühren will. Entweder man schafft es oder man schafft es nicht – das eine wie das andere kann ein Schmerz sein. "

    Wo zwei Menschen zusammen sind, bricht dieser Schmerz ein, doch das Indirekte beherrscht zunächst die Szene. Man weiß auf den ersten Blick gar nicht, worum es eigentlich geht. Das Beobachten, das Reden ersetzt die Berührung. In einem Hotelzimmer befriedigt sich eine auf der Straße aufgelesene "Begleitung", wie es heißt – ist es ein Mann?, ist es eine Frau? Der Erzähler selbst schaut derweil aus dem Fenster und wird Zeuge einer ganz alltägliche Beziehungskatastrophe, eines Streits mit gewalttätigem Ausgang. Das merkwürdig-distanzierte Geschehen in dem Hotelzimmer wirkt plötzlich intimer, obwohl es zur körperlichen Intimität gar nicht kommt. Hier sind zwei Menschen bedingungslos zusammen – und können auch bedingungslos wieder auseinander gehen. Weil das "Davor" und "Danach" einer Begegnung, das, was sie nicht miteinander teilen, die Wünsche und Erwartungen, der beglückende oder schale Nachgeschmack bedeutender sind als das Zusammensein selbst. Und die Sprache.

    "Die Sprache ist ja beides. Die Sprache ist eine körperliche Geschichte, die Sprache ist Signifikant und Signifikat, das ist die alte Sache. Und in diesem Zusammenwirken entfaltet sie überhaupt erst ihre Macht. Und die Liebesfähigkeit und die Fähigkeit zur Lust oder dazu, eine Begierde auszuleben, ist ohne Sprache für mich gar nicht denkbar – da ist man dann beim Tier. Und ich glaube selbst auf einer Ebene, die sich relativ gewaltsam abspielt, spielt die Sprache immer noch eine große Rolle. Einmal ist sie ein Machtinstrument. Und auf der anderen Seite ist sie auch eine Art Echo dessen, was man tut. Sie ist auch eine Form des Spiegels. "

    Als kalt und emotionslos wurde Kirchhoffs frühe Prosa oft beschrieben. Tatsächlich hat sie die Härte und die Distanz, die eine tiefe Begegnung der Figuren verhindert! Aber in ihr spricht derselbe Autor, der sich in den Romanen "Infanta", "Parlando" oder "Wo das Meer beginnt", aber auch in seinen Drehbüchern zu den Filmen "Manila" oder "Mein letzter Film" alle Zeit der Welt nimmt, ohne Action oder nur vordergründige Spannung in die Seelen seiner Protagonisten zu blicken. Auch in den Erzählungen kommt Kirchhoff seinen Figuren auf unmittelbare Weise nahe, dort, wo sie sich nur einen Moment lang einem Gegenüber öffnen: Sei es einer Prostituierten, dem eigenen Spiegelbild, oder der Ehefrau. Sie bewegen sich einsam in einer kalten Welt, doch in ihrem Innern erleben aber etwas Großes. So zeigen die Erzählungen aus 25 Jahren ein tief liegendes Kontinuum im Schreiben Kirchhoffs:

    "Die Erzählungen waren für mich letztendlich immer Annäherungen an den Roman. Ich habe vieles darin ausprobiert und ich vieles auch für mich in so eine Art Zwischenablage gepackt, dass daraus nicht unbedingt ein Roman werden musste. Was ja manchmal auch ganz sinnvoll ist. Es waren aber Bewegungen, die für mich von dem Impuls getragen wurden, mehr zu machen und irgendwie zum Roman hin zu kommen. Später waren es dann auch Bewegungen auf dem Film zu. "

    So liefert der vorliegende Band nicht nur außergewöhnlichen Lesestoff. Er dokumentiert darüber hinaus die Entwicklung eines Gegenwartsautors in einer Zeit, in der Moden das Geschäft bestimmen und das neuste Buch eines Autors, so Kirchhoff mit einem etwas bitteren Augenzwinkern, allzu oft für sein erstes gehalten wird. Den "Wahnsinn des Literaturbetriebs nicht mehr ertragen, sondern zum Gegenstand eines Romans machen" – so lautete sein Credo beim Schreiben des "Schundromans", einem handwerklich exzellent gemachten Spiel mit der Kolportage, in dem ein mächtiger Kritiker zu Tode kommt und ein Star der Literaturszene als Plagiator enttarnt wird. Bedeutet dieser Band sämtlicher bisheriger Erzählungen eine Herausforderung an diesen Literaturbetrieb, eine Demonstration für eine leise, ganz unspektakuläre Beständigkeit?

    "Ja, das wäre schön, wenn es so wäre. Für mich selbst war es ganz wichtig, noch einmal mir diese ganzen Geschichten vorzunehmen, mich noch einmal tief da hinein zu begeben, gleichzeitig auch mit dem, was mich im Moment beschäftigt und von den Möglichkeiten, die ich heute habe, weitere Erzählungen zu schreiben und dann zu sehen, was da heraus kommt. Natürlich ist das eine gewisse Wegmarke, wenn Sie so wollen, das Buch, ich habe aber relativ wenig Hoffnung, dass das funktioniert bei und einfach weil das Gedächtnis doch kurz geworden ist. "

    Bodo Kirchhoff:
    "Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer"
    (Frankfurter Verlagsanstalt)