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Frisches Frühwerk

Kein anderer Komponist hat seine Symphonien so häufig überarbeitet wie Anton Bruckner. Um dem Publikum zu gefallen, wurde mit der Zeit alles Sperrige und Eigenwillige geglättet. Claudio Abbado hat sich nun an eine Zweitfassung herangewagt und eine gelungene Interpretation geliefert.

Von Uwe Friedrich | 28.07.2013
    Es ist alles eine Frage der Fassung. Kein anderer Komponist hat seine Symphonien so häufig überarbeitet wie Anton Bruckner, wurde auch so häufig Opfer wohlmeinender Bearbeiter, die den vermeintlich mangelhaften Werken mit Retuschen aufhelfen wollten. Im vergangen August dirigierte Claudio Abbado beim Luzern Festival Anton Bruckners erste Symphonie in der von Bruckner selbst überarbeiteten zweiten Fassung, die nur selten aufgeführt wird. Der Livemitschnitt dieser umjubelten Konzerte ist jetzt bei Accentus Music erschienen, diese Aufnahme möchte ich Ihnen heute Morgen vorstellen.

    Anton Bruckner: Symphonie Nr.1, I. Allegro

    Bruckners erste Symphonie steht nur selten auf dem Konzertprogramm. Die populäre vierte mit den Hornsignalen, die fünfte oder die unvollendete neunte erscheinen vielen Dirigenten dankbarer. Zudem hat sich in den letzten Jahren Konsens unter Musikern und Musikwissenschaftlern gebildet, dass die ersten Fassungen von Bruckners Symphonien interessanter sind als die Überarbeitungen, in denen häufig alles Eigenwillige und Sperrige geglättet wurde, um die Kompositionen des Linzer Sonderlings Bruckner den Hörgewohnheiten eines breiten Publikums anzupassen. Claudio Abbado hat sich bei Bruckners erster Symphonie aber für die überarbeitete zweite, die sogenannte Wiener Fassung aus dem Jahr 1891 entschieden. Dafür gibt es gute Gründe, denn diese Version stammt von Bruckner selbst. Er hat sie ohne äußeren Zwang, also etwa Bitten vonseiten seines Verlegers erstellt. In dieser zweiten Fassung verschiebt Bruckner mal den Einsatz eines Themas um einen Takt, mal verlängert er eine Phrase ein wenig. Das klingt erst mal nicht nach großen Eingriffen, aber so verändert er eine merkwürdige siebentaktige Einheit zur konventionell achttaktigen Periode, so kommen Klangfarbenwechsel eher an den erwartbaren Stellen. Das kann man als Verlust an Eigenwilligkeit oder Schroffheit beklagen. Aber Claudio Abbado entwickelt die Steigerungen des ersten Satzes so elegant, dass Bruckner mit dieser Version seiner letztgültigen Fassung wohl einverstanden wäre.

    Anton Bruckner: Symphonie Nr.1, I. Allegro

    Die vorwärtsdrängenden Rhythmen des ersten Satzes, Allegro, dirigiert Claudio Abbado mit untergründiger Energie, erzielt damit eine vorwärtsdrängende Aufbruchsstimmung. Kaum Weihepathos, wie man es von den ausgedehnten Streichertremoli in Bruckners späteren Symphonien gewohnt ist. Unruhig treibt schon Bruckner die Bewegung und harmonische Entwicklung immer wieder an und Claudio Abbado gestaltet den Bewegungsimpuls der Musik genau kontrolliert und organisch. Das Lucerne Festival Orchestra folgt dem Dirigenten Claudio Abbado mit atemberaubender Virtuosität und samtig schimmernden Klangfarben. Seit dem Jahr 2002 versammelt Abbado bei den Luzerner Festspielen regelmäßig Musikerfreunde aus den bedeutendsten Orchestern. Sie kennen und schätzen die wortkarge Art des Maestros auf den Proben. In seiner Zeit als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker konnte er die Musiker damit in den Wahnsinn treiben, dass er stets auf die Inspiration des Abends vor Publikum vertraute und nicht vorher alles kaputtreden wollte. Wer aber an den Vierwaldstättersee eingeladen wird, um gemeinsam mit Abbado zu musizieren, der weiß, worauf er sich einlässt, der weiß, dass Abbado auch ohne viele Worte einfach zeigen kann, was er sich vom Orchester wünscht. Und so schweben die Gesangslinien im zweiten Satz anstrengungslos und gelassen dahin.

    Anton Bruckner: Symphonie Nr.1, II. Adagio

    Die erste Symphonie Anton Bruckners gehört zu seinen weniger populären Werken. Beim Luzern Festival wurde sie zum ersten Mal 1973 gespielt, auch damals dirigierte Claudio Abbado, zuletzt spielte sie dort Riccardo Chailly mit dem Orchester des Amsterdamer Concertgebouw, dessen Chefdirigent er damals war. Beide Male erklang die erste Fassung. Die Stückauswahl im vergangenen Festspielsommer dürfte also einigermaßen überraschend gewesen sein, aber Abbados treues Fanpublikum war sich schon vorher sicher, ein außergewöhnliches Konzert erleben zu dürfen. Im dritten Satz, dem Scherzo, überfällt schon die reine Lautstärke den Zuhörer. Nur im Trio scheinen kurze Momente der Ruhe auf.

    Anton Bruckner: Symphonie Nr.1, III. Scherzo. Lebhaft

    Während Anton Bruckner in der äußeren Form immer der klassischen Wiener Symphonie mit ihren vier Sätzen, schnell, langsam, schnell aber tänzerisch, schnell, verpflichtet blieb, setzte er schon im Finale seiner ersten Symphonie sehr eigenwillige Akzente. Hier sind die Blechbläser- und Streicherpassagen streng voneinander abgesetzt, unterscheiden sich in Klangfarbe und Charakter stark voneinander. Dieser weitgehende Verzicht auf Klangmischungen ist immer wieder mit den Registern einer Orgel verglichen worden, die der Organist, der Bruckner im Hauptberuf war, ebenso schroff gegeneinanderstellte. Brucknerverächter werfen ihm diesen Verzicht auf die Klangfarbenmischung bis heute vor. Claudio Abbado hingegen schöpft die Steigerungsmöglichkeiten dieser Kontrastdramaturgie aus.

    Anton Bruckner: Symphonie Nr.1, IV. Finale. Bewegt und feurig

    Claudio Abbado lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf die vielen Details in Bruckners erster Symphonie, die er im vergangenen Sommer mit dem Lucerne Festival Orchestra in der zweiten, der Wiener Fassung aus dem Jahr 1891 aufgeführt hat. So entgeht er auch im Finale jedem Weihepathos. Die weiten Dimensionen von Bruckners Klangarchitektur sind in der ersten Symphonie ohnehin erst in Ansätzen spürbar, also versucht Abbado gar nicht erst, sie künstlich zu betonen. Hier wird der Zuhörer nicht überwältigt, sondern soll den kleinen Veränderungen nachlauschen, den leicht verschobenen Farben und Nuancierungen, den vielen Details im hochvirtuosen Spiel des Orchesters. So nimmt Abbado eine Symphonie ernst, die interessanterweise überhaupt nur in wenigen Aufnahmen vorliegt. Und von diesen wenigen Aufnahmen kann keine so überzeugen wie diese. Mit dem heute 80-jährigen Claudio Abbado steht offensichtlich ein Dirigent vor dem Orchester, der seine verbleibende Zeit nicht mit Halbheiten verschwenden möchte, der nur noch Werke aufführt, an die er wirklich glaubt. Das macht er so ernsthaft, aber auch mit einem so persönlichen Zugang, dass selbst ein Bruckner-Skeptiker hinterher davon überzeugt ist, es mit einem genialen Werk zu tun zu haben.

    Anton Bruckner: Symphonie Nr.1, IV. Finale. Bewegt und feurig

    Wie alle Symphonien Bruckners endet auch die erste eher unvermittelt. Als hätte der Komponist nun einfach genug gehabt von den Steigerungen und Ausbrüchen, den neuen Ansätzen von Spannungs- und Entspannungsphasen, von dem charakteristischen punktierten Rhythmus, als hätte er einfach einen Doppelstrich dahinter gesetzt und die Partitur zugeklappt. Bei den Luzerner Aufführungen im August 2012 war damit noch längst nicht Schluss, es folgte noch der lang anhaltende Jubel des begeisterten Publikums. Davon ist auf dieser Veröffentlichung des Konzertmitschnitts nichts zu hören. Überhaupt ist die Tonqualität exzellent, störende Huster und Nebengeräusche wurden völlig eliminiert. Fast könnte man meinen, es handele sich um eine perfekte Studioproduktion, wüsste man nicht, dass Claudio Abbado nicht mehr ins Tonstudio geht, sondern nur noch Livemitschnitte veröffentlicht. Anton Bruckners erste Symphonie in der Wiener Fassung, aufgenommen beim Luzern Festival 2012 und veröffentlicht bei Accentus Music ist ein weiterer Höhepunkt in Abbados Diskographie und in der Schallplattengeschichte dieser Symphonie.

    Musik:
    Anton Brucker: Symphony No. 1
    Lucerne Festival Orchestra, Claudio Abbado (Dirigent)
    (kein LC) Accentus Music ACC 30274, 4260234830378