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Früher Koch, heute Kellner?

Atomkatastrophe in Japan hin oder her: Es kann doch nicht sein, sagen sich viele Genossen in der SPD, dass nur die Grünen von der schwarz-gelben Schwäche profitieren. Hinter den Kulissen wird heftig über das Profil der deutschen Sozialdemokratie diskutiert.

Von Frank Capellan, Michael Brandt, Günter Hellmich | 13.04.2011
    Gestern Abend in Ludwigsburg, ein paar Kilometer nördlich von Stuttgart. Die SPD Nordwürttemberg hat zu einer Regionalversammlung geladen, um das Ergebnis der Landtagswahl zu diskutieren. Der Saal ist gerammelt voll. Ein Andrang, der ungewöhnlich ist bei der SPD in Baden-Württemberg. Es herrscht Aufbruchsstimmung - die alten Genossen sind ebenso gekommen, wie die jungen. SPD-Chef Nils Schmid bringt es auf den Punkt:

    "Wir haben etwas erreicht, was viele nicht gedacht hätten, dass sie es in ihren Lebzeiten noch mal erleben, nämlich einen Wechsel weg von der CDU hin zu einer Regierung mit SPD und Grünen." (Applaus)

    Zweieinhalb von drei Wahlzielen hätten die Sozialdemokraten erreicht, so Schmid weiter: Die CDU ist abgewählt, die Linkspartei verhindert, und es wird eine Regierung gemeinsam mit den Grünen geben. Dass Grün vor Rot steht, sei natürlich ein Wermutstropfen.

    Nils Schmid hat sich mit seiner künftigen Rolle als stellvertretender Ministerpräsident an der Seite des grünen Regierungschefs Winfried Kretschmann längst abgefunden. Auch wenn das Wahlergebnis der SPD schmerzt: Auf 23,1 Prozent der Stimmen hat es die Partei am 27. März gebracht - das sind 2,1 Prozentpunkte weniger als 2006. Parteivize Leni Breymaier.

    "Lieber regieren und vier Prozent weniger, als in der Opposition und vier Prozent mehr. Aber wenn die SPD in Baden-Württemberg ihr historisch niedrigstes Ergebnis hat, muss man auch angucken, an was lag das."

    Man müsse die nächsten fünf Jahre eben nutzen, um sich organisatorisch neu aufzustellen, so sieht es die Rednerin und so sehen es auch die Genossen im Saal. Aber dennoch: Die Freude dominiert.

    " Ein lachendes und ein weinendes Auge, einerseits regieren wir, andererseits liegen wir hinter den Grünen. - Eine Regierungsbeteiligung ist ein schönes Ergebnis. Aber natürlich wären ein paar Prozentpunkte mehr für die SPD wünschenswert gewesen. - Andersrum wäre es schöner gewesen, jetzt leben wir damit. "

    So ähnlich schätzt man das auch 100 Kilometer weiter nördlich ein, in der früheren SPD-Hochburg Mannheim. Trotz Einbußen landesweit - die Parteimitglieder in der Arbeiterstadt sind durchaus optimistisch. Inhaltlich sei die Partei gut aufgestellt, sagt Jens Hildebrandt, Ortsvorsitzender im Mannheimer Süden. Im Wahlkampf sei positiv quotiert worden, dass die SPD sich wieder auf soziale Themen besinnt und auch wieder den Schulterschluss mit den Gewerkschaften sucht. In Person eines Arbeitsministers im Schattenkabinett.

    "Da hat man ein deutliches Signal gesetzt, dass man sich in eine neue Phase der Beziehung mit den Gewerkschaften einlässt. Ich glaube, da hat die SPD eine Flanke zugemacht."

    Und Walter Schafar aus dem Mannheimer Norden bekräftigt, was in diesen Tagen von vielen zu hören ist: dass Nils Schmid für die SPD Baden-Württemberg der richtige Mann zur richtigen Zeit ist. Obwohl der promovierte Jurist - der stilles Wasser als sein Lieblingsgetränk bezeichnet - so ganz anders ist, als man sich vielleicht einen Sozialdemokraten vorstellt:

    "Natürlich kann auch eine grüne und SPD-Regierung nicht zaubern, sonst hätten wir ja Harry Potter hingestellt und nicht Nils Schmid. Aber ich bin sicher, dass wir vieles anderes und nicht nur anders, sondern auch besser machen werden."

    Willy-Brandt-Haus, 27. März, kurz vor halb sieben abends. Ein Ritual beginnt, seit Monaten das gleiche Bild. Die SPD-Spitze begibt sich hinunter ins Atrium der Parteizentrale, lässt sich bejubeln - und bejubelt sich selbst. Zu feiern gibt es eigentlich nichts, wieder hat die SPD verloren. Allein in Rheinland-Pfalz fast zehn Prozent. Parteichef Sigmar Gabriel spottet da lieber über den Gegner in Mainz.

    "Die Gewinne der CDU gehen zulasten der FDP. Herr Brüderle (Gelächter) hat ja dazu beigetragen, dass Klarheit über die ursprüngliche Absicht bestand, früher musstest du als Minister Angst haben, wenn du beim Lügen erwischt wirst, heute, wenn du bei der Wahrheit ertappt wirst."

    Peer Steinbrück mag solche Auftritte nicht. Schluss mit Spott und Selbstbeweihräucherung, warnt der Ex-Finanzminister: Das komme beim Bürger nicht an:

    "Die Menschen in ihrem Politikverdruss werden darin bestätigt, wenn Parteien sich kontrafaktisch aufstellen in ihren Worten und auch in ihrer politischen Körpersprache!"

    Rheinland-Pfalz so grade verteidigt, in Baden-Württemberg deutlich hinter den Grünen gelandet - diese Tatsachen können wir nicht einfach mit Verweis auf die absolute Mehrheit in Hamburg weglächeln, beklagen auch viele Mitglieder der Bundestagsfraktion. Wie Garrelt Duin vom wirtschaftsfreundlichen Seeheimer Kreis:

    "Der entscheidende Aspekt ist die Erkennbarkeit und nicht das Auftreten an Wahlabenden, sondern die Themensetzung vor den Wahlen war offenbar nicht so prägnant, dass die Menschen gewusst hätten, warum sie die SPD wählen sollen."

    Atomkatastrophe in Japan hin oder her: Es kann doch nicht sein, sagen sich die Genossen, dass allein die Grünen von der schwarz-gelben Regierungsschwäche profitieren! Hinter den Kulissen wird mittlerweile heftig über die Erkennbarkeit, über das Profil der deutschen Sozialdemokratie diskutiert. Wolfgang Thierse, der Vordenker aus dem Osten, spricht da zuallererst ein Thema an, das die SPD-Spitze gerade erst beschäftigt hat:

    "Unser Konzept für die Bürgerversicherung muss öffentlich debattiert werden. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass es Mindestlöhne gibt, dass Bildungspolitik, bei der im Lande immer große Unzufriedenheit herrscht, wieder mit SPD verbunden wird. Wir sollten auch neuerliche Anstrengungen machen zu einem familienpolitischen Konzept, denn wir erleben doch jetzt, dass 30/40-Jährige alle Lasten auf einmal tragen müssen, zugleich sollen sie Familien gründen. Dafür Konzepte zu entwickeln, sie öffentlich zu debattieren und das mit der SPD zu verbinden, das scheint mir aussichtsreich."

    Öffentliche Debatten über den richtigen Kurs? Das lässt aufhorchen, waren es doch in der Vergangenheit immer wieder heftige Flügelkämpfe, die die Partei als zerstrittenen Haufen dastehen ließen. Sigmar Gabriel hat Ruhe rein gebracht, was allerdings nicht allein sein Verdienst, sondern auch dem Schock über das 23-Prozent-Debakel bei der Bundestagswahl 2009 geschuldet ist. Es werde aber höchste Zeit, den Wählern wieder eine breite Themenpalette zu bieten, meint Klaus Barthel von der Parlamentarischen Linken der SPD. Denn: "Wir wollen Volkspartei bleiben", fügt er hinzu:

    "Was dann kommen muss, ist ein klares Steuerkonzept, und was dann noch kommen muss, ist eine wirtschaftspolitische Grundposition im Zusammenhang mit der überhaupt noch nicht ausgestandenen Finanz- und Wirtschaftskrise, und schließlich müssen wir noch eine klare Haltung zu der ganzen Frage der Altersversorgung finden."

    Damit spricht der Gewerkschafter das vielleicht heikelste Thema an: Die verlängerte Lebensarbeitszeit ist und bleibt ein Menetekel. Immer noch leidet die Partei am Erbe ihrer Agenda-Politiker. "Ihr habt die Rente mit 67 gemacht, ihr habt Hartz gemacht!", klagt ein Ehemaliger aus der Parteiführung. "Das hauen uns die Leute immer wieder um die Ohren!" Auch Wolfgang Thierse kann ein Lied davon singen:

    "Es ist ja nicht zu übersehen und zu überhören, dass ein Teil der eigenen Anhänger noch immer enttäuscht ist von der SPD und von Entscheidungen aus der Regierungszeit von Gerhard Schröder oder aus Zeiten der Großen Koalition. Man gewinnt deren Vertrauen nicht so zurück, dass man ganz schnell die Kehrtwende vollzieht, sondern sie muss glaubwürdig sein, sie muss begründet sein."

    Es ist ein Spagat. Über die Rente mit 67 möchten viele Genossen am liebsten gar nicht mehr öffentlich reden. Parteichef Gabriel verfolgt die Linie, erst müssten die Älteren wieder Arbeit finden, bevor man über einen späteren Rentenbeginn sprechen könne. Doch für Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, ist es eher vergebliche Mühe, die Enttäuschten zurückgewinnen zu wollen. Er verweist auf Hamburg. Dort ist es Olaf Scholz, immerhin ein Schröder-Mann, der auch für die Rente mit 67 steht, gelungen, für die SPD die politische Mitte zu gewinnen:

    "Diese Mitte ist das sozialdemokratische Publikum. Es gibt Thesen, die sagen, man muss sich mehr dem unteren Drittel der Gesellschaft zuwenden. Aber man muss andererseits auch sehen: In dem unteren Bereich der Gesellschaft sind inzwischen genügend von der Sozialdemokratie enttäuschte Leute, die sprechen der Sozialdemokratie jede Glaubwürdigkeit ab, wenn die heute kommen würden und sagen, wir ändern Hartz IV, Rente mit 67, das ist verloren, weil die Sozialdemokratie in der Gegenwart keinen Test machen kann, wie glaubwürdig sie eigentlich ist."

    Das eine tun - ohne das andere zu lassen. Die SPD als "Partei des kleinen Mannes", dieses Attribut wollen viele Sozialdemokraten auf keinen Fall kampflos an die Linkspartei abgeben. "Partei der sozialen Gerechtigkeit", das sind wir, das bleiben wir, erklärt Fraktionsvize Hubertus Heil:

    "Die SPD muss die Kraft in Deutschland sein, die deutlich macht, dass man soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft nicht gegeneinander ausspielt. Wir dürfen uns nicht verengen. Wir müssen breit aufgestellt sein. Wir haben früher mal viel Erfolg gehabt, weil wir in zwei Bereichen der Gesellschaft sehr stark waren. Wir haben in beiden Bereichen 2009 verloren, das betrifft eine arbeitende Mitte, die Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Das betrifft zudem ein linksliberales Bürgertum in großen Städten, und in beiden Bereichen müssen wir erfolgreich sein. Das können wir nur, wenn wir glaubwürdig für soziale Sicherheit stehen und für wirtschaftlichen Fortschritt."

    Um das liberale Bürgertum allerdings hat sich überaus erfolgreich auch der Wunschpartner der Sozialdemokraten gekümmert. Mit Sorge wird beobachtet, dass die Grünen gerade nicht nur die FDP ersetzen, sondern sich sogar aufmachen, der SPD den Rang als Volkspartei abzulaufen. Auf dem letzten Parteitag im September glaubte Gabriel noch, das mit lockeren Sprüchen abtun zu können. Er stichelte, seine Partei hätte doch weit größere Wählerschichten im Auge als die Latte-macchiato- und Bionade-Trinker im Berliner Prenzlauer Berg. Das klang überheblich, sollte aber klarmachen, wer im rot-grünen Haus der Koch, wer der Kellner ist: Eine Koalition in Baden-Württemberg unter einem grünen Ministerpräsidenten wollte der Vorsitzende damals noch ausschließen.

    "In Baden-Württemberg wird es auch darum gehen, dass das Land das Automobilland Nr. 1 bleibt. Da gibt es in diesem Land zwei Unternehmen, deren Hauptprodukte jedenfalls nicht in das klassische Bild von grüner Umweltpolitik passen. Ich glaube aber, dass sie umweltfreundliche Autos nicht im Smart beginnen lassen können, sondern in der S-Klasse, weil die Öko-Innovation am Anfang teuer ist, und deswegen muss man auch für eine starke Automobilindustrie auch in der Oberklasse eintreten. Ich glaube, dass es schon - und da hat sich mein Bild von den Grünen überhaupt nicht geändert - schon darum geht, dass man die gesamte Gesellschaft zusammenhalten muss."

    Das Lästern über die grün wählenden Bionade-Trinker ist manchem aufgestoßen. "Das war nicht glücklich", sagt Hubertus Heil im Rückblick:

    "Aber man muss schon feststellen, dass die Grünen in ihrem Segment eher die politische Nachfolge auch der FDP angetreten haben, wenn man sich anguckt, dass es eine Partei ist, die im Wesentlichen auch Besserverdienende als Anhängerschaft gewinnt. Das will ich gar nicht kritisieren. Die SPD muss die Partei sein, die in den unterschiedlichsten Teilen der Gesellschaft Anschlussfähigkeit erwirbt und insofern: Eine modernisierte Idee von Volkspartei, das ist der sozialdemokratische Auftrag!"

    Der Politologe Gero Neugebauer sieht Gabriel dabei in der Zwickmühle: Denn eigentlich müsste die SPD einen Kuschelkurs gegenüber den Grünen fahren. Denn die durch die Atomdebatte erstarkte Öko-Partei könnte sich im Bundestagswahljahr 2013 durchaus der CDU zuwenden. Vorausgesetzt, das Thema Kernenergie ist bis dahin abgeräumt:

    "Er darf die Grünen nicht brüskieren. Er tut gut daran, deutlich zu machen, dass im Verhältnis SPD/Grüne eine Stimmung entsteht, die notgedrungen dazu führt, dass man sagen kann: Die SPD ist unser erster Partner!"

    Daran arbeitet die Parteispitze hinter den Kulissen bereits äußerst aktiv. Vorbei die Zeiten, als Generalsekretärin Andrea Nahles trotzig erklärte: "Kein Welpenschutz für die Grünen". Jetzt wird eine Neuauflage von Rot-Grün vorbereitet. Rot-Rot-Grün ist für die SPD derzeit keine Option, nach wie vor halten die Sozialdemokraten die Linkspartei für nicht regierungsfähig. Da ruft die Generalsekretärin schon lieber den Gedanken an eine Ampelkoalition in Erinnerung.

    Im Wahlkampf 2009 hatte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier für die Ampel gekämpft. Und das schlechteste Ergebnis aller Zeiten eingefahren. Wird er es 2013 noch einmal versuchen? Der Oppositionsführer ist in der aktuellen Beliebtheitsskala deutscher Politiker erstmals seit zwei Jahren wieder auf Platz eins gerutscht - gefolgt von - man höre und staune - Peer Steinbrück, Finanzminister und Krisenmanager in der Großen Koalition. 59 Prozent der Befragten sagen im aktuellen Deutschlandtrend, sie seien mit der Arbeit des gebürtigen Hanseaten mehr als zufrieden. "Mit welcher Arbeit?" spotten da einige in der SPD, in der Steinbrücks Sympathiewerte beileibe nicht so überzeugend sind. Tatsächlich fiel der spröde Exminister nur durch eine einzige Rede auf, als er in der Euro-Debatte gegen seine einstige Chefin Angela Merkel antrat:

    "Das war ein geschickter Schachzug, den Steinbrück auftreten zu lassen, weil er tatsächlich ein Renommee genießt."

    Urteilt Politologe Neugebauer. Steinbrück stehe für Solidität und Verlässlichkeit, für sozialdemokratische Kompetenz in der Finanzpolitik. SPD-Chef Gabriel weiß um dieses Zugpferd. Vor einem halben Jahr noch wollte er Steinbrück als möglichen Konkurrenten im Rennen um die Kanzlerkandidatur zur Friedrich-Ebert-Stiftung abschieben. Jetzt soll der 64-Jährige wieder häufiger in Erscheinung treten. "Würden wir ihn fragen, würde er es machen", meint ein führender Parteistratege im Willy-Brandt-Haus mit Blick auf die K-Frage. Steinbrück wird zumindest zugetraut, den Höhenflug der Grünen stoppen zu können. Denn dass "Grün vor Rot" doch einmal zum Dauerzustand werden könnte, ist für Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin keinesfalls ein abwegiger Gedanke:

    "Die Grünen werden von einer kleineren zu einer mittleren Partei, und die Performance der SPD sieht eher so aus, dass sie mit dem Fahren zwischen 23 und 27 Prozent eher auch an dem Status einer mittleren Partei als einer größeren Partei sind."

    Im Bund wird die SPD die Nase vorn behalten, glaubt Neugebauer. Für Berlin allerdings sei das noch längst nicht ausgemacht!

    Vergangenen Samstag in einer Fußgängerzone im Norden Berlins. Hier in Tegel sieht es aus wie im Zentrum einer beliebigen Kreisstadt, das Publikum kleinbürgerlich und eher älter. Am Infostand der SPD kämpfen die Genossen mit Flötenspiel und Flugblättern gegen die Atomkraft und um die Aufmerksamkeit der Passanten. Dazu verteilen sie Kekse: Atomkraftwerke zum Aufessen.

    "Mit Schokoladenüberzug, zum Verspeisen und Verputzen und anschließend Abschalten. Das ist natürlich ne schöne Sache."

    Schokolade gegen den Fukushima-Effekt, der die Grünen in den jüngsten Umfragen für die Wahl am 18. September auf Platz 1 hievte. Es geht um die Mobilisierung der ehemaligen Stammwählergruppen. Man will zeigen, dass auch die SPD was gegen die Atom-Angst tut. Die Überzeugungsarbeit bleibt aber ein oft mühsames Geschäft.

    "Sie wollen einfach nur Frust und Dampf ablassen. Argumentationen sind nicht gefordert."

    48 Stunden später im Kurt-Schuhmacher-Haus - Fotoshooting mit Klaus Wowereit: Gleich wird er das vom Parteivorstand beschlossene Wahlprogramm vorstellen. Anders als seine SPD liegt der Regierende Bürgermeister trotz bald zehnjähriger Amtszeit im Kandidatenvergleich vorn: Mit 55 zu 30 Prozent führt er bei infratest-dimap vor Renate Künast. Anders als ihre Partei - die Grünen legten um fünf Prozentpunkte zu - profitiert die Spitzenkandidatin weder von Fukushima noch von den jüngsten Landtagswahlen. Ein Grund mag auch sein, dass Künasts neue Begeisterung für die Berliner Landespolitik nicht jeden überzeugt. Für den Amtsinhaber immer wieder Anlass, den Finger in diese Wahlkampfwunde zu legen:

    "Wenn man die jüngsten Aussagen von Frau Künast sieht, dass sie jetzt auch schon fürs Kanzleramt kandidiert, dann wird deutlich, dass ihr Herz auf der Bundesebene schlägt und nicht in Berlin. Und das ist die Situation."

    Nimmt man die Umfragen zum jetzigen Zeitpunkt, gibt es kein Indiz für eine Wechselstimmung in der Bundeshauptstadt. Nur muss der Kandidat Wowereit die eigenen Sympathiewerte noch in Stimmen für seine SPD ummünzen. Denn in den Umfragen legt er persönlich um zwei Prozentpunkte zu, die seine Partei aber verliert. Es wird ein höchst komplizierter Wahlkampf für den SPD-Politiker: Seine politischen Ziele ähneln denen bei Grünen und Linken - auch wenn die Einzigartigkeit proklamiert wird.

    "Es gibt fundamentale Unterschiede in der Programmatik der einzelnen Parteien und Alleinstellungsmerkmale für die SPD mit dem Themenschwerpunkt soziale Gerechtigkeit und eine Politik für alle, und das unterscheidet uns ganz deutlich von anderen Parteien hier in Berlin, die darum kämpfen, im Abgeordnetenhaus vertreten zu sein."

    Während die Berliner Grünen auf den Erfolg ihres Parteifreundes Kretschmann in Baden-Württemberg schauen, haben Wowereit und seine Genossen Hamburg und Olaf Scholz als Vorbild vor Augen. Sozialdemokratisches Klientel samt Mittelschichten zu mobilisieren, sei einen Versuch wert. Und ganz unverkennbar fühlt man sich an Scholz erinnert, wenn Wowereit seine Priorität nennt.

    "Wir sind der Auffassung, dass diese Stadt wirtschaftliches Wachstum braucht!"

    Teilweise gegen Widerstand in der eigenen Partei setzt sich Wowereit in diesem Sinne für Infrastrukturprojekte wie eine Verlängerung der Stadtautobahn A 100 ein. Ein Beispiel der Abgrenzung zum möglichen Koalitionspartner Grüne oder Linke.

    Abgrenzung ist die Devise. Koalitionsverhandlungen werden nach dem 18.September geführt. Wobei die Sozialdemokraten dieses Mal nicht davon ausgehen können, dass sie - selbst wenn sie stärkste Partei werden sollten - wieder wie vor fünf Jahren die Auswahl zwischen Linken und Grünen haben. Und auch das ist möglich: Wenn es das Wahlergebnis zulässt, könnten die Grünen sich theoretisch dafür entscheiden, statt Juniorpartner bei den Sozis lieber Führungskraft der ersten Grün-Schwarzen Landesregierung zu werden. Eine Perspektive, die Renate Künast jedenfalls nicht klipp und klar ablehnt.