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Früher Verkünder religiöser Toleranz

Wie viel Toleranz muss man Andersgläubigen zugestehen? Diese Frage stellte sich inmitten der europäischen Religionskriege der französische Philosoph Pierre Bayle, der heute vor 300 Jahren starb. Mit seinen Überlegungen zum Miteinander der unterschiedlichen Glaubensrichtungen wurde er zum Wegbereiter des europäischen Toleranzgedankens.

Von Kersten Knipp | 28.12.2006
    In den Religionsstreitigkeiten ist ein jeder Richter und Partei zugleich; denn man prüft die Gründe seines Gegners nicht, nachdem man sich mit einem skeptischen Geist bewaffnet hat. Man würde ein Verbrechen zu begehen glauben, wenn man sich in diesen Stand versetzt hat; ( ... ) Drei Wahrscheinlichkeiten auf Seiten unseres Vorurteils überwiegen zehn oder zwölf von der anderen Seite. Denn die Aufmerksamkeit unserer Seele ist unendlich aufmerksamer gegenüber den Wahrheiten, welche uns gefallen, als gegen die, die uns missfallen.

    In Glaubensdingen ist auf die Vernunft kein Verlass. Pierre Bayle weiß, wovon er spricht: Im 17. Jahrhundert tobt in Europa der Streit der Religionen, können sich Katholiken und Protestanten über den rechten Glauben nicht einig werden. Und der 1647 in Südfrankreich als Sohn eines hugenottischen Predigers geborene Philosoph hat lernen müssen, was das bedeutet: 1669 trat er als Zögling des Jesuiten-Kollegs von Toulouse zum Katholizismus über, widerrief seine Entscheidung dann aber wieder. Als Re-Konvertit sah er sich verschärfter religiöser Verfolgung ausgesetzt. So floh er nach Genf, wo er als Hauslehrer arbeitete. Dort konnte er in Freiheit leben, jenseits allen religiösen Zwangs. Doch das Ansinnen, Zwangsbekehrungen durchzuführen, schloss er aus seinen Erfahrungen, würde auf Dauer ohnehin scheitern. Denn wer kann dem Menschen schon ins Herz schauen?

    Wie sollte man wissen, ob man jemanden tatsächlich überzeugt hat, dass er im Unrecht ist? Ist ein Glaubenspropagandist wirklich scharfsichtig genug, um das Gewissen eines Menschen zu durchschauen? Teilt er mit Gott die einzigartige Begabung, die Überzeugungen eines Menschen zu erkennen? Es wäre eine ziemliche Anmaßung, so etwas anzunehmen.

    Pierre Bayle war ein früher Verkünder religiöser Toleranz. Damit reagierte er auf die Umstände seiner Zeit. Im späten 17. Jahrhundert stieg im katholischen Frankreich der Druck auf die Protestanten, die 1681 sämtliche religiösen Schulen schließen mussten. Bayle, der 1675 eine Professur in Sedan angetreten hatte, verlor seine Anstellung und floh nach Rotterdam - wenige Jahre nur, bevor Ludwig XIV. 1685 das Edikt von Nantes aufhob, worauf 200 000 Hugenotten aus dem Land flohen. Frankreich war nun fast durchgehend katholisch. Doch das, schrieb Bayle, würde dem Land nichts nützen. Denn Konkurrenz belebt das Geschäft - auch in religiösen Dingen.

    Wenn die Vielfalt der Religionen einem Staatswesen schadet, dann nur darum, weil man einander nicht tolerieren, sondern vernichten will. Das ist der Ursprung allen Übels. Wenn jedermann wahrhafte Toleranz zeigte, gäbe es Einheit sogar in einem Staat, in dem zehn Religionen existierten - vergleichbar einer Stadt, in der sich die verschiedenen Handwerkszünfte gegenseitig unterstützen.

    Doch nicht nur Religion vernebelt die Vernunft - auch der Aberglaube tut es. Als 1680 ein über Europa fliegender Komet die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte, veröffentlichte Bayle seine "Pensées diverses sur la Comète", die "Gedanken über den Kometen". Unsinn, schrieb er darin, Kometen sind keine Sendboten eines zürnenden Gottes, sondern schlicht astronomisch erklärbare Ereignisse. Doch im Zeitalter der Frühaufklärung argumentierte und empfand Europa noch immer in religiösen Kategorien. Kategorien, die bösem Eifer den Weg bahnten: 1685 wurde Bayles Bruder verhaftet, der im selben Jahr den schweren Haftbedingungen erlag. Ein Bauernopfer, mit dem man den religiösen Dissidenten, als der Bayle nach seiner doppelten Konversion galt, treffen wollte. Acht Jahre später wurde der Philosoph selbst unter fadenscheinigen Vorwürfen seiner Rotterdammer Professur enthoben. Unkontrollierte Gewalt, schloss Bayle daraus, ist wesentlich gefährlicher als angeblicher religiöser Irrglaube. Ihn muss man tolerieren. Nicht tolerieren darf man hingegen politischenExtremismus.

    Es gibt Ansichten, die nicht nur falsch sind, sondern die sich direkt gegen die Ruhe des Staates und die Sicherheit der Bürger richten. Sie halte ich der Toleranz für unwürdig.

    Auch nach seiner Entlassung blieb Bayle in Rotterdam. Dort vollendete er sein berühmtes "Dictionnaire historique et critique", das "Historische und Kritische Wörterbuch", eine Art philosophischer Enzyklopädie. In Rotterdam starb er auch, am 28. Dezember 1706, als einer der großen Vordenker des zeitgenössischen Toleranzgedankens.