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Früher war nicht alles besser

Karl-Markus Gauß sieht einen paradoxen Gegensatz: Zum einen werden den Jungen so viele Freiheiten geboten wie noch nie in der Geschichte vorher; andrerseits wird ihre Freiheit sozial rigoros beschnitten. Früher sei es umgekehrt gewesen.

Von Karl-Markus Gauß | 04.08.2011
    Liebe Ophélie,
    wir sind uns einig, dass die Empörung der Jungen in Europa nur zu berechtigt ist und die Welt, die sie vorfinden, es vielen von ihnen fast unmöglich macht, sich in ihr zu behaupten. Das heißt nicht, dass früher alles besser war. Als ich, der ich 1954 geboren wurde, das Gymnasium besuchte, war nahezu alles verboten, was Spaß machte. Wer lange Haare trug, galt vor der schulischen Obrigkeit als Aufrührer, wer sich keine Krawatte umgebunden hatte, kam in die besseren Cafés der Stadt nicht hinein.

    Unvergessen ist mir, wie mich, als ich mit 17 die erste Reise ins Ausland wagte, ein Flic in Paris aufscheuchte, weil ich mit ein paar anderen Jugendlichen auf den Stufen eines Brunnens saß und dort Baguette und Käse verzehrte. Sich einfach irgendwo in der Stadt niederzusetzen, war nämlich nicht erlaubt, sondern als unbefugte Inbesitznahme des öffentlichen Raumes verboten: Er gehörte ja nicht den Menschen, sondern der Obrigkeit. Volljährig und wahlberechtigt wurde man mit 21 Jahren, der Mann in der Familie war damals amtlich das "Familienoberhaupt", dem die Frau zu gehorchen hatte, die jungen Frauen, die ein uneheliches Kind bekamen, galten nicht nur in Salzburg, wo ich aufwuchs, wenn nicht als Huren, so doch als gefallene Mädchen, und wer schwul war, der lebte in der ständigen Gefahr des bürgerlichen Ehrverlusts, ja des Gefängnisses.

    Viele geschriebene und ungeschriebene Gesetze, die Euch Jüngeren lächerlich anmuten werden, ja, von denen Ihr Euch gar nicht mehr richtig vorstellen könnt, welche Macht sie einmal hatten, haben damals das soziale und alltägliche Leben jedes Einzelnen reglementiert. Es war ein radikaler Kulturwandel, der vor rund vierzig Jahren die Gesellschaft erfasste und auch den Staat umformte. Was einer anzieht und wie er aussieht, nach welcher Fasson er glücklich werden möchte und welche Obsessionen er von sich öffentlich machen will, schert heute niemanden mehr. Diese kulturellen Freiheiten sind schier grenzenlos geworden, zu ihnen gehört auch die, sich öffentlich lächerlich zu machen, und für jedes abweichende Verhalten findet die Kulturindustrie bald eine eigene Marke.

    Ich will damit nicht die Not, den Druck, den Zwang kleinreden, denen heute vor allem die studierenden Jugendlichen ausgesetzt sind. Aber ich möchte die Situation von heute erfassen, und die scheint mir durch einen paradoxen Gegensatz geprägt zu sein. Zum einen werden den Jungen - aber auch allen anderen Generationen – so viele Freiheiten geboten wie noch nie in der Geschichte vorher; andrerseits wird ihre Freiheit sozial rigoros beschnitten.

    Als ich so alt war wie Sie, war es umgekehrt: Die nichtigen und wichtigen Freiheiten, so zu leben, wie wir wollten, mussten wir uns erst erkämpfen; sozial und beruflich aber waren wir in einer viel besseren Situation als Ihr. Seit damals glaube ich, dass die meisten Revolutionstheorien falsch sind: Der kritische Geist hat es leichter, sich zu entfalten, wenn die Leute nicht in Armut, Unsicherheit, Elend gedrückt sind.

    Was bedeutet das für Sie heute, liebe Ophélie - für den Protest der Jugend? Einer Jugend, die einerseits von keinen Tugendwächtern mehr drangsaliert wird, also nicht gegen kulturelle Normen rebellieren muss, die aber zugleich in beruflicher Abhängigkeit und materieller Bedrängnis gehalten wird?

    Es grüßt Sie herzlich

    Ihr Karl-Markus Gauß

    Serie "Liebe Ophélie - lieber Karl-Markus". Jugendprotest in Europa. Ein Briefwechsel.

    Zu hören wochentäglich vom 1. bis 10. August 2011 im Deutschlandfunk in der Sendung "Europa heute" ab 9:10 Uhr und die Wiederholung um 14:35 Uhr in "Campus & Karriere".