Donnerstag, 28. März 2024

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Frühling am Gardasee
Auf Dürers und Rilkes Spuren in Arco

Das Kurstädtchen Arco liegt sechs Kilometer nördlich des Gardasees im Sarca-Tal. Es ist von hohen Felsen vor Wind und Winter geschützt und zieht seit Jahrhunderten Besucher an. Auch der Maler Albrecht Dürer und der Schriftsteller Rainer Maria Rilke waren schon hier, beide als junge Männer. Ihre Reisen liegen allerdings 400 Jahre auseinander.

Von Franz Nussbaum | 17.04.2017
    Blick über Arco. Im Hintergrund ist der Gardasee zu erkennen.
    Arco am Gardasee. (picture alliance / Daniel Karmann)
    Zuerst einmal ein Panorama Blick in dieses Sarca-Tal. Es wurde einst, von den Alpen herunter mit einer gewaltigen eiszeitlichen Gletscherzunge von mehreren hundert Metern Dicke ausgefüllt. Der Gardasee, heute, ist quasi der abgetaute Rest der unvorstellbaren Eismassen. Und genau da, wo dieser Eisgletscher die lotrecht aufsteigenden Felswände des Sarca-Tales vor 10.000 Jahren oder mehr glatt-geschmirgelt hat, da sieht es heute fast aus wie in einem etwas heruntergekommenen Grand-Hotel, wo in den Fluren und an den Möbeln deutliche Kratzer hinterlassen worden sind.
    Der Anblick der Felsen ist so spektakulär, dass er auch den deutschen Maler Albrecht Dürer zum Anfertigen eines Aquarells inspiriert hat. Und diese senkrechten Felswände aus hellfarbigem Kalkstein zählen heute zu den zehn besten Kletterrevieren der Welt. Aber für die Kletterartisten sind die Felsen jetzt im Frühjahr noch etwas zu klamm. Obwohl das "heutige" Klima der ehemaligen Eisgletscher-Rinne hier windgeschützt Palmen und üppige Blumen wachsen lässt. Welch verrückte Gegensätze?
    Der Womanizer Rilke schlawinert wie ein Kurschatten umher
    Ab hier lassen wir es nun etwas "menscheln". Wir führen Albrecht Dürer, Rainer Maria Rilke und auch Thomas Mann in unsere Geschichte ein. Sie sind ungefähr gleich alt, als sie jeweils Arco besuchen. Ihre Reisen liegen 400 Jahre auseinander. Und nur so als Zeitfenster eingefügt, Dürer ist zwölf Jahre älter als Martin Luther. Also, Dürer und Rilke und Thomas Mann sind in Arco junge Kerle, so um die 22. Lassen wir Rilke für das Entre unseres Sonntagsspaziergangs den Vortritt. Er kommt soeben vom Kurkonzert. Wir lesen:
    "Das Kurkonzert ist ein Muss im Stundenplan der Müßiggänger, auch des Sehens und Gesehenwerdens, des Übereinander-Tuschelns."
    Und Rilke mag als Cleverle immer einige seiner Texte dabei haben. Es könnte sich ja auf der Frühlings-Balz im bunten Kurpark mit schönen "Blicken" etwas anbandeln lassen. Und dann hätte man galant einige Reime aus eigener Produktion zur Hand, würde sie dann in die milde Luft säuseln. Dazu diese Blütenpracht im Kurviertel, die süßen Düfte, die, ja überhaupt die Triebe. Bitte, Herr Rilke, einige Zeilen aus Ihrem Schatzkästlein für den täglichen Kur-Gebrauch.
    "Wir standen Hand in Hand und schwiegen,
    Und Deine Augen träumten hell.
    Schon kam die Nacht auf stillen Stiegen
    Ins abendeinsame Castell.
    Und tausend leise Türen gingen,
    Und seltsam rauschte ein Gewand,
    Und hoch wie blasse Blüten hingen
    die Sterne überm Mauerrand."
    Die Blüten und das Castell, da oben. Genau so sieht es Frühlings in Arco aus. Rilkes gereimte Kunst ist geradezu ein Exerzitium für noch etwas hüftsteife Süß-Holz-Raspler. Er schreibt "gezielt" für Frauen. Sie sind seine Leserschaft. Und lassen wir uns noch kurz von Thomas Mann die Musiker und die Kurgäste im Park von Arco skizzieren.
    "Eine Kurkapelle konzertiert am Vormittag im Freien mit schwacher Besetzung und spielt den auf dem letzten Loch pfeifenden Herrschaften, die dort lustwandeln, leicht fassliche und sanft ermunternde Weisen. Man sitzt in Orchester-Fauteuils und an Gesellschaftstischen. Der Eintritt kostet 30 Kreuzer."
    Und in dieser "Küss-die-Hand-Kulisse" schlawinert also der Womanizer Rilke wie ein Kurschatten umher. Wenden wir uns nun Albrecht Dürer zu. Christian Ulrich, Sie kennen Dürers Kupferstiche, seine Holzschnitte, seine Aquarelle, seine Porträtkunst, und auch seine "Apokalyptischen Reiter", mit denen er damals die unruhige Zeiten der Reformation bebildert und uns ja selbst heute noch aufrüttelt.
    "Machen wir uns also selber ein Bild von dem Bildermann Dürer. Er wird 1471 in der zweitgrößten deutschen Stadt, in der freien Reichsstadt Nürnberg geboren. Kommt dann in die Goldschmiedewerkstatt seines Vaters. Ich habe hier ein junges Selbstbildnis von ihm dabei. Wir sehen ihn als 16-jährigen Buben mit schulterlangem Blondhaar. Er hat sich heimlich in einem großen Altar-Bild der Nürnberger Augustiner-Kirche am Rande unauffällig dazu gemalt."
    "Dürer zeichnet uns ein Selfie"
    Witzig und auch cool. Er hat sich da also entschieden, gegen die Goldschmiederei und für das Bebildern. Und er arbeitet da als Lehrling einer großen Nürnberger Malerwerkstatt in einer Art Fließbandproduktion.
    "Wo Heiligenbilder auf Halde gepinselt werden. Und wo die älteren Gesellen den Jüngsten, noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, doch ziemlich gepiesackt und schikaniert haben sollen."
    Und dann geht der junge Dürer auf seine Lehr- und Wanderjahre. Seine Reisen-Notizen kommen nun aus Frankfurt, Colmar, Elsass, Basel, Straßburg.
    "Und in Straßburg zeichnet er uns als 'Reisenotiz' ein Zwischenzeugnis seiner schon ausgeprägten Porträtkunst. Konterfei hat er in seinen Wanderjahren gelernt. Dürer zeichnet uns ein Selfie. Er malt sich von einem Spiegel ab. So wie wir uns heute gedankenfrei auch immerfort abfotografieren. An seinem Selfie mag Dürer, geschätzt, zwei, drei Wochen gearbeitet haben. Ein sehr aussagekräftiges 'Dreiviertel-Porträt'. Es könnte ein Verlöbnisbild für die von Dürers Eltern schon ausgesuchte Braut Agnes gewesen sein. Er wird immerhin in eine bessere Familie aus dem Nürnberger Patriziat verheiratet.
    Er malt sich mit einem roten Mützchen, darunter seine schulterlangen Haare, leicht verzopft. Sein Gesicht ist rein, ist offen, ist ansteckend jugendlich. Der Blick? Er schielt etwas zu uns rüber, schaut uns aber nicht direkt an. Es ist eine Mischung aus 'noch-kein-Wässerchen-trüben' und 'hoppla-jetzt-komm-ich'. Wir müssen kulturhistorisch wissen, dieses gespiegelte Selbstporträt von Dürer ist das erste bekannte Bildnis in dieser Machart in der abendländischen Kunstgeschichte."
    Wie er sich da selber inszeniert, auch seine ausgesuchte modische Kleidung. Dieses Bildnis würde sich jedes Frauenzimmer unter das Kopfkissen verstecken und abends davon träumen.
    "Da arbeitet also ein Filou. Und er übertrifft dabei an Tiefe und Aussage vielleicht sogar sein bekanntes Porträt des Kaisers Maximilian, das er 20 Jahre später, natürlich auf Bestellung zeichnet."
    Wer ist der bessere Frauenversteher?
    Dann nehme ich mal Ihre Steilvorlage mit Blick auf unseren Ort Arco auf. Die Frühlingsfrage - hier - könnte heißen, wer ist der bessere Frauenversteher? Wenn wir Dürers Selbstporträt mit den romantischen Reimen des gleich alten Rilke vergleichen steht es vielleicht 2 : 0 für Dürer? Liebe Hörerinnen, gehen Sie bitte nach der Sendung ins Internet. Und klicken sie sich Dürers "Selbstbildnis von 1493" an. So könnte der junge Dürer damals auch durch Venedig oder Arco gestrolcht sein.
    "Erhöhen wir den Spielstand sogar auf 3 : 0. Denn Dürer hat mehr Frauen gemalt, porträtiert, in Proportionsstudien oder im Akt dargestellt, Adam und Eva, einschließlich der vielen Variationen der Gottesmutter mit dem Kinde. Viel mehr Frauen, als Rilke sie bedichtet hat. Zudem hängt dieses Selfie als Pergament-Zeichnung nicht zufällig in Paris im Louvre. Dürers Selfie soll es durchaus mit der Mona Lisa im Louvre aufnehmen können. Leonardo da Vinci malt seine Lisa zehn Jahre nach Dürers Selbstbildnis. In der Kunstgeschichte spricht man speziell bei diesem Dürer-Porträt von einer 'neuen' Qualität. Das heißt, in der italienischen Renaissance sieht sich ein Selbst-Porträtist nicht mehr als Handwerker, er pappt nicht irgendetwas ab, er spricht gleichsam aus dem Bild heraus mit dem Betrachter. Das ist "Ping-Pong". Aufschlag Dürer und dann die Returnwirkung des schauenden und denkenden Betrachters."
    Wie kommt denn nun der junge Dürer zu dieser Italienischen Renaissance, also 1494/95 nach Venedig und nach Arco? Fragezeichen?
    "Es ist wirklich ein Fragezeichen. Die Kunstwelt tut sich schwer mit sicheren Beweisen für Dürers ersten Aufenthalt in der Lagunenstadt. Ist er wirklich dort gewesen?"
    Ein halber Beweis wäre, Dürer kommt immerhin über den Brenner und malt hier in Arco ein Aquarell des mächtigen Burgkegels.
    "Und in der Kunstgeschichte lesen wir, in Arco entsteht, wahrscheinlich auf der Rückreise von Venedig Dürers wohl schönstes, weil bildtechnisch am meisten ausgearbeitetes und auch von großer Farbigkeit geprägtes Italien-Aquarell. Es hängt auch im Louvre."
    Wir sehen in Dürers Aquarell, das Sie mir zeigen, also oben das von Reiner Maria Rilke bedichtete Castell, auf einem schroffen Felsen. Und ganz unten, am Fuß des Berges versteckt sich ein sehr geducktes, fast ängstliches Arco, ein kleines Nest damals, hinter Mauern. Und Dürer malt uns auch in zarten Farben den Frühling von Arco. An seinen knorrigen Bäumen sehe ich erste Knospen und Blüten.
    "Es ist aber nicht die Magnolien-Blüte von heute. Die Magnolien kommen erst gegen 1870/80 nach Arco. Da herrscht hier Österreich. Der Erzherzog Albrecht lässt sich hier eine noble Bleibe in der bescheidenen Größe eines Palastes bauen. Wenn aber der Erzherzog hier baut wird das die Initialzündung für die Immobilien-Banker aus Wien und auch aus München."
    Hier trifft sich eine feine Welt
    Man baut also in Arco Villen, baut ein Kur-Viertel, mit Hotels, Kliniken, Pensionen, und einen Kurpark. Der Herr Erzherzog sammelt und pflanzt Bäume aus der "exotischen" Welt, darunter auch Magnolien aus Südamerika für die k.u.k.-Hautevolee. Nachdem man in Wien festlich den Opernball abgewalzert hat verbringen die gehobenen Kreise den nordeuropäischen Restwinter lieber im milden Frühling von Arco. Und wir lesen:
    "Modeärzte verordnen Kuren, Bäder, Spaziergänge, Luft und Sonne, Güsse und Küsse, bei Hüsteln, Brust- und Nervenbeschwerden, bei seelischen Verspannungen, bei Langeweile, gepaart mit Fantasielosigkeit und Zickigkeiten."
    Hier trifft sich eine feine Welt, umhegt von Dienstboten und Mamsellen. Man kurt mit und ohne Kurschatten.
    "In der Villa Florida wohnt Sophie Rilke. Sie lebt getrennt von ihrem Mann, der ihren hohen gesellschaftlichen Erwartungen nicht genügen konnte. Große Hoffnungen setzt Frau Mama in ihren Sohn René Maria, den jungen Dichter. Er besucht sie im Frühling 1897."
    Wir bleiben noch etwas bei der immer noch unbeantworteten Dürer-Frage, wenn er nachweislich in Arco ein Aquarell malt, war er dann auch in Venedig? So bitten wir imaginär den tüchtigen TV-Commissario Brunetti. Wir kennen ihn aus vielen Serienfolgen aus der Lagunenstadt. Und er kennt hier Krethi und Plethi. Herr Commissario, ist Ihnen bekannt, ob Dürer beispielsweise mit seiner EC-Karte in Venedig ein Zimmer oder sonst was bezahlt hat? Bitte, blättern Sie doch mal in Ihren vergilbten Akten.
    "Dürer hat auf der Anreise Aquarelle von Innsbruck gezeichnet, es gibt von Dürer auch eine bekannte Ansicht aus Klausen am Eisack. Und er hat auch Landschaften in Trient gemalt. Es ist verbürgt, Nürnberger Kaufleute bedienen damals regelmäßig im Geleitzug die Strecke über Augsburg, Innsbruck, Verona nach Venedig. Die Münz-Präge von Venedig wird mit Silber von Nürnberger Kaufleuten beliefert. Vielleicht hat dem jungen Dürer ein Nürnberger Kaufmann erlaubt mit einer Backe hinten auf einer Karre über den Brenner aufzusitzen?
    Vor 500 Jahren wird der junge Maler in dem quirligen Venedig als sprichwörtlich unbekannter Bengel untergetaucht sein. Er muss Kontakt zur starken Nürnberger Kaufmannschaft in Venedig gehabt haben. Ist ja der Sohn eines Nürnberger Goldschmieds. Vielleicht wird er bei Bekannten logiert haben? Er mag sich schwarz, also an der Steuer vorbei, hier und da ein paar Kreuzer verdient haben, wenn er in den großen Werkstätten der großen venezianischen Maler ein paar pausbackige Engelchen im Stall von Bethlehem hinzu tupfen darf. Meine Ermittlungen ergeben abschließend, er soll vermutlich sein ‚Selfie‘ als Arbeitsprobe vorgezeigt haben. Dürer ist jedenfalls, nach Aktenlage, nicht unter die Räuber gefallen. Er wird in den ungefähr sechs Monaten seines Aufenthaltes, den er ja ohne seine junge Ehefrau hier verbringt, wird er auch den ausschweifenden Karneval kennengelernt haben. Wo hinter Masken versteckt der Unsitte gehuldigt wird. Mit den ersten Fastnachtsspielen in Nürnberg von Hans Sachs, macht er erst 20 Jahre später Bekanntschaft."
    Danke, Herr Commissario.
    "Das Problem ist ja auch, der junge Dürer signiert noch nicht alle seine Werke mit dem markanten Buchstaben A und dem kleineren D darin. Er setzt zu jener Zeit auch nicht immer eine Jahreszahl dazu. Natürlich gibt es noch andere kleinere Hinweise auf einen möglichen ersten Besuch Dürers in Venedig."
    Und wir konzentrieren uns wieder auf Arco. Kaum einer sucht hier und heute nach Dürer. Reiner Maria Rilkes Spazierwege werden hingegen heute werbewirksam "Rilke-Wanderwege" genannt. Es gibt rund 20 Gedichte, Erinnerungen, Briefe von ihm aus Arco. Und auch Thomas Mann verarbeitet einige seiner Reisebeobachtungen in seinem Roman "Der Zauberberg". Doch Manns Zauberberg ist nicht Rilkes Castell auf der Höhe und noch viel weniger Dürers Burgberg von Arco. Und so beenden wir unsere Reise-notizen mit einem Rilke Gedicht zum Schweben.
    "Die Hochschneezinne, schartig scharf,
    loht auf wie eine Mauerkrone,
    in die der lachende Nerone,
    der Morgen, ... seine Fackel warf.
    Und wie die Flammen bis ins Blau
    sich zu verblühten Sternen strecken
    erwacht das Tal in schönem Schrecken
    und taucht empor aus Traum und Tau."