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Frühlingsopfer aus Caracas

Wieder einmal brilliert das Simón Bolívar Jugendorchester unter Leitung seines Chefdirigenten Gustavo Dudamel mit Temperament, Engagement, Spiellust und ursprünglicher Musikalität. Diesmal kommt es mit Strawinskys "Sacre du Printemps" und einer Filmmusik-Suite des mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas in unsere wirklichen und virtuellen Plattenläden; aufgenommen zuhause in Caracas von der Deutschen Grammophon Gesellschaft.

Von Ludwig Rink | 20.06.2010
    Inzwischen weiß man, dass dieses Simón Bolívar Jugendorchester keine zusammengewürfelte Ansammlung junger Musikliebhaber ist, die sich an hehren Werken der Klassik "vergreifen", nein, diese jungen Musiker sind die Elite-Auswahl eines der größten und teuersten Bildungsprojekte der Welt, die Spitze einer Pyramide, die besten 100 von heute etwa 250.000 Kindern, die sich in einem "System von Jugendorchestern Venezuelas" intensiv mit Musik beschäftigen. Begonnen hat das alles vor über 30 Jahren, als der Ökonom, Organist und Politiker Antonio Abreu zeigen wollte, dass man unterpriviligierte Jugendliche von der Straße holen und sie für klassische Musik begeistern könne. Er stellte ihnen Instrumente zur Verfügung und ließ sie - anfangs noch in einer Tiefgarage - in Ensembles zusammenspielen. Dabei stellte sich schnell heraus, wer Talent hat. Heute gibt es 15.000 Musiklehrer und mehr als 125 Jugendorchester in Venezuela. Klassische Musik erhielt eine Breitenwirkung, von der selbst der in Lateinamerika so beliebte Fußball nur träumen kann.

    Auch der Dirigent Gustavo Dudamel stammt aus diesem groß angelegten Musikförderprojekt, das durch Rücklagen aus Erdölgewinnen in Venezuela finanziert wurde. 2004 gewann er in Deutschland den damals erstmals veranstalteten Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb der Bamberger Symphoniker. Von da an ging alles blitzschnell. Esa-Pekka Salonen, Chef des Los Angeles Philharmonic Orchestra, saß in der Jury und lud Dudamel nach Amerika ein. Ein Jahr später durfte er dieses kalifornische Spitzenorchester dirigieren. Inzwischen ist Dudamel seit der laufenden Spielzeit Salonens Nachfolger in Los Angeles und hat mit diesem Orchester bereits die erste USA-Tournee hinter sich. Daneben steht er seit Herbst 2007 und weiterhin schon als Chefdirigent am Pult der Göteborger Symphoniker. 2008 dirigierte er das immer spektakuläre Sommerkonzert der Berliner Philharmoniker auf der dortigen Waldbühne. Zu Gast war er bei vielen weltweit führenden Orchestern. Einen Ehrendoktor hat er auch schon, und mit immer noch nicht einmal 30 Jahren ist er bereits Chevalier dans l'Ordre des Arts et des Lettres in Paris.

    " Igor Strawinsky
    'Cortège du Sage' aus: "Le Sacre du Printemps"
    Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela, Leitung: Gustavo Dudamel
    Deutsche Grammophon / Universal (LC 00173) 477 8775 "

    Interessant ist, wie dieses jugendfrische Orchester und sein Chef Werbestrategen und die Medien gleichermaßen zu weit über das eigentliche Musikgeschehen hinausgehenden Projektionen anregen. Nach der großen Welle der historischen Aufführungspraxis mit ihrem genauen Partitur-, Quellen- und Traditionsstudium wird hier ganz im Gegensatz dazu der unbefangene Umgang mit der Partitur herausgestellt, das lebendige Musizieren, grade heraus, unakademisch und unverbildet. Andere erhoffen sich durch das frische Herangehen der jungen Musiker eine Revitalisierung des doch etwas matt und borniert gewordenen europäischen Klassikbetriebs: Bei Dudamel, so formulierte es einmal Welt online, "bei Dudamel werden Omas zu Groupies". Und mancher träumt den Traum von einem hier zumindest partiell verwirklichten kulturellen und sozialen Ausgleich im Nord-Süd-Dialog. Ähnlich wie bei diesem Projekt heute in Venezuela spielte auch in Mexiko schon vor 80 Jahren die Rückbesinnung auf die eigene künstlerische Kraft eine große Rolle. Für die Musik ist da vor allem der Name von Silvestre Revueltas zu nennen. Und da dessen Werke bei uns viel weniger bekannt und viel seltener auf CD zu erhalten sind als Igor Strawinskys "Sacre", soll im Folgenden jetzt vor allem von ihm und seiner Suite "La noche de los Mayas" die Rede sein.

    " Silvestre Revueltas
    aus: I. La noche de los mayas
    Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela, Leitung: Gustavo Dudamel
    Deutsche Grammophon / Universal (LC 00173) 477 8775 "

    Silvestre Revueltas lebte von 1899 bis 1940. Er gilt als temperamentvolle, idealistische, tragische Figur mit der bei einem bestimmten Künstlertyp offenbar wenig ausgeprägten Eignung fürs alltägliche Leben und seine materiellen Voraussetzungen. Er stammte aus einer armen Familie, die immer unterwegs war, konnte aber trotzdem schon mit 8 Jahren mit ernsthaftem Musikunterricht beginnen. Später studierte er in den USA und arbeitete dort als Geiger und Dirigent von Theaterorchestern. 1929 holte ihn Carlos Chávez, der damals wohl wichtigste Musiker des Landes, zurück nach Mexiko, wo er als Assistent beim neu geschaffenen Orquesta Sinfónica Nacional de México anfing. Hier verlagerte sich seine Tätigkeit zunehmend von der Violine zum Dirigieren; außerdem begann er bald auch mit dem Komponieren. Nach Lehraufgaben am Staatlichen Konservatorium, einem bitteren Zerwürfnis mit Chavez und dem vergeblichen Versuch, in Mexiko City ein neues professionelles Orchester zu gründen, folgte Revueltas seinen antifaschistischen Überzeugungen und engagierte sich im Spanischen Bürgerkrieg. Doch nach dem Sieg Francos kehrte er als Lehrer nach Mexiko zurück. Er verdiente schlecht, verarmte und verfiel dem Alkohol. Der war angeblich auch Schuld an seinem Tod, ihm soll er bei der Feier nach der Vorführung von "La noche de los Mayas" allzu sehr zugesprochen haben.

    " Silvestre Revueltas
    aus: La noche de los mayas: IV Noche de encantamiento
    Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela, Leitung: Gustavo Dudamel
    Deutsche Grammophon / Universal (LC 00173) 477 8775 "

    Silvestre Revueltas ist neben Carlos Chávez wohl der wichtigste und mexikanischste Komponist seines Landes in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Nach der Befreiung Mexikos von der Diktatur entstand unter den Künstlern das Bestreben, eine durch nationale Identität geprägte Kultur zu schaffen. Anders als manche Kollegen arbeitete Revueltas dabei aber nicht mit Zitaten aus Volks- und Tanzmusik. Das typisch Mexikanische suchte er eher in sich selbst und dem, was ihn umgab: im damaligen Mexiko mit seinen Festen, Straßen und Märkten, seinen Landschaften, den Gewohnheiten und Bräuchen seiner Menschen.

    So heißen seine Kompositionen zum Beispiel Caminos (Straßen), Ventanas (Fenster) oder Esquinas (Straßenecken). Gerade in solchen kürzeren beschreibenden Stücken gelangte er zu höchster Meisterschaft. Den konventionellen Formen von Sinfonie oder Solokonzert widmete er sich dagegen überhaupt nicht, schrieb aber gerne für das noch relativ junge Medium Tonfilm: Die Filmindustrie Mexikos war damals eine der aktivsten und experimentierfreudigsten der Welt. In seinen später auch für den Konzertsaal als Suiten eingerichteten Filmmusiken gelangte Revueltas dann auch im Orchesterbereich zu einer höchst originellen und kraftvollen Musiksprache - mit komplexen Rhythmen, glänzender Melodik, außergewöhnlichen Harmonien, faszinierenden Klangfarben und prägnanten, dichten Strukturen.

    " Silvestre Revueltas
    aus: La noche de los mayas: III Noche de Yucatán
    Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela, Leitung: Gustavo Dudamel
    Deutsche Grammophon / Universal (LC 00173) 477 8775 "

    Aus Revueltas Musik für den im Kino wenig erfolgreichen Film "La noche de los mayas - Die Nacht der Maya" von Chano Urueta stellte der mexikanische Dirigent José Limantour dann Anfang der 1960er Jahre diese vierteilige Suite zusammen, die jetzt vom Simón Bolívar Jugendorchester aus Venezuela eingespielt wurde. Dem Film liegt die Idee zugrunde, dass die Maya, ein moralisch und intellektuell hoch stehendes Volk, beharrlich auf ein Zeichen ihrer Götter warten, um aufzustehen und ihr Land zum Wohle aller wieder zurückzuerobern. Das erste Stück der Suite zeigt die geheimnisvolle Nacht, wenig ist zu sehen, manches bedrohlich, versteckt irgendwo möglicherweise jetzt noch schlafende unheimliche Kräfte. Dann folgt ein quirliges, farbenreiches und sehr stark von den Schlaginstrumenten dominiertes Scherzo mit dem Titel "La noche de jaranas - Die Nacht des Feierns", wobei das spanische Wort "jaranas" nicht nur feiern bedeutet, sondern in Mexiko auch der Name einer Tanzform ist, die spanische und indigene Elemente verbindet.

    " Silvestre Revueltas
    aus: La noche de los mayas: II Noche de jaranas
    Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela, Leitung: Gustavo Dudamel
    Deutsche Grammophon / Universal (LC 00173) 477 8775 "

    Die Neue Platte - heute mit der Neuaufnahme von Igor Strawinskys "Sacre du Printemps" und der Suite "La noche de los Mayas" von Silvestre Revueltas, gespielt vom Simón Bolívar Jugendorchester aus Venezuela unter der Leitung von Gustavo Dudamel, einer CD, die beim Label Deutsche Grammophon erschienen ist. Zuletzt erklang das Scherzo, der 2. Satz aus dieser Filmmusik-Suite. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.