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Frühlingsverbrechen

Frühling! Sonne, Wärme, Liebe in der Luft. Es ist definitiv nicht die Zeit zum Sterben. Und doch verschwinden Menschen ... einfach so. Und doch sitzen Menschen in der Sonne, der Wärme und im Frühling und lesen Bücher von Menschen, die - einfach so - verschwinden.

Von Andreas Ammer | 12.05.2011
    Das kann in München passieren oder mitten in Amerika.

    In New York, der großen Stadt wird, gemordet und untätig dabei zugesehen.

    Und sogar in einer Hochkultur kann es vorkommen, dass mitten im schönsten Frühling eine Leiche zerstückelt wird.

    All das! Und garantiert ohne störendes Vogelgezwitscher.

    Jetzt in der Krimikolumne.

    Nur echt mit unserem Rezensenten.

    Süden!

    Wie Süden?

    Süden, Tabor Süden heißt der Ermittler in Friedrich Anis gleichnamigen Kriminalroman, der im Droemer Verlag erschienen ist.

    Als Serienheld hat Tabor Süden schon einiges hinter sich: Vor gut 13 Jahren erfand Friedrich Ani, ein damals noch wenig bekannter, doch äußerst talentierter Drehbuchschreiber und Ex-Polizeireporter, diesen Münchner Ermittler, der sich nicht um Mord und Totschlag kümmert, sondern schlicht um Vermisste, um verschwundene Personen.

    Kaum ein Autor vor ihm hatte das erzählerische Potenzial, das im Verschwinden eines Menschen steckt, für den Krimi so konsequent angewendet.

    2001 startete Ani ein fast aberwitzig kreatives Projekt. Teilweise im Abstand nur weniger Monate veröffentlichte er in vier Jahren insgesamt zehn Tabor-Süden-Krimis: Bewusst in billiger Aufmachung aufgelegt, trugen sie so kostbare Titel wie: "Süden und der Straßenbahntrinker" oder "Süden und der Luftgitarrist". Die Reihe etablierte den immer bekannter und erfolgreicher werdenden Friedrich Ani in der ersten Reihe deutscher Krimiautoren und brachte ihm wiederholt den Deutschen Krimi-Preis ein.

    2005 - nach insgesamt 13 Tabor-Süden-Krimis - beendete Ani die Reihe mit "Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel". Ani erfand fortan erfolgreich andere merkwürdige Ermittler wie den ehemaligen Mönch Polonius Fischer oder den erblindeten Kommissar Jonas Vogel.

    Jetzt aber ist Ani noch einmal zu "Süden", seiner leicht depressiven Erfolgsfigur, zurückgekehrt. Es ist eine machtvolle und selbstbewusste Rückkehr, die sich schon im archaischen Titel des Buches ankündigt.:

    Süden!

    Süden hat den Polizeidienst quittiert und heuert nun etwas lustlos in einer Detektivagentur an. Außerdem hat sich sein verschwundener Vater bei ihm gemeldet. Telefonisch, die Verbindung riss schnell ab. Südens übernimmt seinen ersten Fall als Ermittler in einer privaten Detektei: Ein Kneipenwirt ist verschwunden.

    Kein schlechter Fall für den Bierfreund Süden

    Vor allem kein schlechtes Buch!

    Süden löst seine Fälle nicht durch besonders geschickte Befragungen, sondern oft durch besonders intensives Schweigen. Ein Schweigen, das die meisten der Menschen, die Süden derart "verhört", schnell aus der Ruhe bringt und die beredten Lügengeschichten, aus denen manchmal ein Leben besteht, entlarvt.

    So sehr die schnell geschriebenen, trashigen Süden-Krimis der Vergangenheit ihren Reiz hatten: Diesmal hat sich Friedrich Ani selbst die Ruhe und die Zeit genommen, die er seinem Ermittler gerne andichtet und versucht, einen "großen" Krimi zu schreiben.

    Es ist ihm gelungen. Große Kunst ... so etwas wie der Samuel Beckett unter den Krimischriftstellern.

    ... urteilt unser Rezensent angesichts des umfassenden existenziellen Leids, in das die meisten der Ani-Figuren verstrickt sind, über die furiose Fortsetzung des Tabor-Süden-Projektes,

    "Süden" von Friedrich Ani ist im Droemer-Verlag erschienen.



    Noch jemand ist verschwunden. Diesmal mitten in Amerika, irgendwo zwischen Missouri und Arkansas, wo immer das sein mag: Mitten im Nichts. Der Vater von Ree Dolly ist weg.

    Einzige Einnahmequelle in dieser Gegend, die als hinterwäldlerisch korrekt beschrieben wäre, ist das Kochen der Droge Crystal Meth. Aber auch das gibt nicht genug her, um das heruntergekommene Haus der Familie Dolly zu finanzieren. Ein Geldeintreiber steht vor der Tür: Wenn Rees Vater nicht innerhalb einer Woche seine Schulden bezahlt, wird er die Familie aus dem Haus werfen..

    Also macht sich Ree Dolly, Tochter, robust, 16 jährig, auf die Suche. Von ihrer von Tabletten zerfressenen Mutter kann sie keine Unterstützung erhoffen, von ihren kaum erzogenen Brüdern ebenfalls nicht ... aber auch sonst will niemand, dass Ree Dolly ihren Vater sucht oder gar findet.

    Wem die Geschichte bekannt vorkommt: Dieses überaus kraftvolle kleine Buch, das den Namen "Winters Knochen" trägt, von Daniel Woodrell stammt, von Peter Torberg übersetzt wurde und im feinen Münchner Liebeskind-Verlag erschienen ist, lieferte die Vorlage für einen Film . "Winters Knochen", eigentlich ein Independent-Movie wurde erst als bester Film beim Sundance-Festival ausgezeichnet,brachte es dann dieses Jahr sogar zu einigen Oscar-Nominierungen und läuft gerade in den deutschen Kinos.

    Der Film ist beeindruckend. Das ihm zugrunde liegende Buch von einer recht ursprünglichen Kraft. Knapp, exakt und irgendwie von dumpfer Urgewalt, trotz seiner nur 16-jährigen Heldin, die unverdrossen und trotz aller Anfeindungen ihren Vater sucht.

    .in schmales Buch, ein großer Wurf. Fast ein Epos. Nur kompakter.

    So perfekt geschrieben, dass es niemand einen Krimi nennen würde, wenn es nicht um einen verschwundenen Menschen und die Suche nach ihm gehen würde.

    Definitiv eine Empfehlung: Daniel Woodrell, "Winters Knochen", Liebeskind-Verlag.

    Kaufen, lesen, staunen.

    Rät unser Rezensent

    ... und damit zu etwas ganz anderem:

    Definitiv kein Fall für die Krimikolumne ist eigentlich das mit dem Prix Concourt ausgezeichnetes Meisterwerk "Karte und Gebiet" von Michel Houellebecq das in der Übersetzung von Uli Wittmann auf Deutsch erschienen ist.

    Trotzdem!

    In das Buch ist nicht nur eine höchst vergnügliche Kunstparabel und ein zu lautem Lachen komisches Selbstporträt des Autors Houellebecq verwoben, sondern es enthält auch eine der genialsten und überraschendsten Wendungen der jüngeren Literaturgeschichte.

    Die soll freilich hier nicht verraten werden, doch nach gut zwei Dritteln des Romans beginnt plötzlich und unvermittelt auf Seite 263 eine Kriminalgeschichte, Polizisten treten auf als sei es ein Band von Simenon. Der französische Skandalautor Houellebecq macht sich seinen Spaß MIT der Kriminalliteratur.

    Als wär es ein Spätwerk samt Maigret treten beklagen sich die alternden Ermittler, dass es am Quai des Orfevres, dem legendären Pariser Polizeipräsidium, immer noch keine Aufzüge gibt. Ihr Bier trinken sie stilecht an der Place Dauphine

    - statt Maigret in der Brasserie Dauphine -

    Auch hier: Allergrößte Kunst! Große Unterhaltung!

    ... urteilt unser Krimi-Rezensent. Sein Urteil bezieht sich natürlich nur auf die Seiten ab 263, für die er als Krimi-Rezensent professionell zuständig ist.

    Tatsächlich war das Schreiben dieser Krimi-Szenen für den Autor Houellebecq, etwas Besonderes. Sie haben ihn nämlich zu einer Danksagung auf der letzten Seite seines Buches veranlasst. Houellebecq schreibt dort:

    "Gewöhnlich brauche ich mich bei Niemanden zu bedanken, weil ich nur sehr wenig recherchiere (...). Aber im vorliegenden Fall hat die Polizei großen Eindruck auf mich gemacht und mich neugierig werden lassen, und daher erschien es mir nötig, diesmal etwas mehr zu tun."

    Und dann bedankt sich der Ex-Skandalautor Houellebecq brav beim persönlichen Referenten des Pariser Polizeipräsidenten und unser Rezensent hofft,

    ... dass Houellebecq als Nächstes endlich einen Krimi schreibt,

    damit er hier in der Krimikolumne besprochen werden kann.

    Wir hingegen können aus dem Fall Houellebecq jetzt schon lernen:

    Ein Krimi schreibt sich nicht so leicht weg wie ein Stück Weltliteratur.

    Das Verhältnis von Kriminalroman zur Realität ist ein merkwürdiges:

    Einerseits ist das Kriminalgenre ein zutiefst realistisches Genre. Jede Krimihandlung würde in sich zusammenbrechen, wenn für einen Fall eine metaphysische Lösung gefunden würde.

    Andererseits ist die Ausgangslage der meisten Krimis völlig unrealistisch: Es gibt in unserer Welt gottlob nicht annäherungsweise so viele Morde wie allwöchentlich in Fernsehserien und Kriminalromanen beschrieben werden. Nirgendwo wird so viel gemordet, wie Verbrechen in Büchern und Filmen aufgeklärt wird.

    Ein kleines, besonderes Untergenre des Kriminalromans ist da der dokumentarische Kriminalroman, die True-Crime-Story, die auf einem realen Fall beruht.

    Ein kleiner, besonderer Fall eines solchen Romans ist Didier Decoins, bei Arche erschienenes und von Bettina Bach übersetztes Buch "Der Tod der Kitty Genovese".

    Kitty Genovese hat wirklich gelebt und sie wurde am 13. März 1964 wirklich ermordet. Ihr Fall ist Kriminalgeschichte und in der Psychiatrie gibt es ein nach ihr benanntes Genovese-Syndrom. Dieses Syndrom beschreibt das Phänomen, dass Menschen als Augenzeugen eines Unfalls oder Überfalls mit desto niedrigerer Wahrscheinlichkeit eingreifen oder Hilfe leisten, je mehr weitere Zuschauer, also "Bystander" anwesend sind.

    Im Fall der Kitty Genovese sahen 38 Menschen ihrer Vergewaltigung und dem Mord an ihr zu, ohne einzuschreiten. Didier Decoin hat aus diesem realen Fall ein recht eindringliches und geschickt gebautes Stück Literatur gemacht, an dem unglaublicherweise fast alles wahr ist.

    Ein kleines Manko hat dieses Büchlein allerdings:

    Es ist zu brutal.

    ... findet unser Rezensent, muss sich allerdings eingestehen, das offensichtlich in diesem Fall die Realität selbst derart brutal ist.

    Zugegeben: Das Buch ist grandios, intelligent, erschütternd.

    Wer also starke Nerven hat und sich von drastischen, realistisch geschilderten Vergewaltigungsszenen nicht abschrecken lässt, der greife zu "Der Tod der Kitty Genovese" von Didier Decoin, erschienen im Arche-Verlag.

    Für seine realistischen Schilderungen einer fremden Welt wurde hier in der Krimikolumne schon des öfteren auch Matt Beynon Rees gelobt. Der in Jerusalem lebende Waliser Rees hat mit Omar Jussuf vor ein paar Jahren den ersten palästinensischen Ermittler erfunden und für diese originelle Idee und seine realistischen, ideologiefreien Schilderungen des Lebens in Palästina zu Recht international und hier in der Kolumne einiges an Kritikerlob eingefahren.

    "Der Attentäter von Brooklyn" heißt der vierte Fall um Omar Jussuf, der in der Übersetzung von Klaus Modick bei C. H. Beck erschienen ist.

    Schon der Titel des Buches lässt seine kleine Schwäche erahnen.

    Denn der Reiz der Bücher von Matt Beynon Rees bestand in seiner realistischen Schilderung der Verhältnisse in den palästinensischen Gebieten. Einen Krimi im Gazastreifen, Bethlehem oder in Nablus spielen zu lassen, erzählte uns mehr vom Leben dort als jeder politische Kommentar über Selbstmordattentäter oder die Taten der Hamas.

    Jetzt aber lässt Rees seinen Helden, den Lehrer Jussuf, nach New York reisen. Er soll dort vor den UNO auftreten und er will nebenbei seinen jüngsten Sohn besuchen. In dessen Wohnung jedoch findet er statt diesem eine geköpfte Leiche. Jussufs Sohn wird als Verdächtiger festgenommen.

    Nicht gerade die geschickteste und überzeugendste Ausgangsposition für einen Krimi, trotzdem:

    Auch wenn in Rees' neuestem Krimi das New Yorker Lokalkolorit der palästinensischen Community in Bay Ridge, Brooklyn, weniger reizvoll ist, als das originale Palästina seiner ersten drei Büchern: Immer noch fasziniert die Schilderung des palästinensischen Alltags, auch wenn es diesmal der Alltag der Exil-Palästinenser ist und am Ende natürlich mindestens eine internationale Verschwörung aufgedeckt werden muss.

    Zurück nach Palästina!

    ... würde unser Rezensent den Ermittler Omar Jussuf am liebsten schicken. Allerdings wird sein Wunsch mittelfristig nicht in Erfüllung gehen, denn als nächstes hat Rees auf Englisch einen historischen Krimi über Mozart veröffentlicht.