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Führungskultur und Zukunft der Arbeit
Neue Perspektiven für die digitale Gesellschaft

Wenn gesellschaftliche Transformationsprozesse diskutiert werden, bleibt die Frage der Zukunftstauglichkeit von Organisationen und Führungskräften meist ausgespart. Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie hat sich vorgenommen, dieses Manko auszugleichen: Es will eigene Konzepte mit Projekten in Unternehmen verbinden.

Von Norbert Seitz | 30.03.2017
    Eine Reihe von Männern in Anzügen, der Blick geht auf Hosen und Schuhe.
    Wie können sich Führungskräfte besser aufstellen? (picture alliance / dpa / Grigoriy Sisoev)
    "Wenn wir uns die heutigen Umbrüche anschauen, dann haben die ja sehr häufig einen technologischen Kern, wenn Sie sich die Digitalisierungsdebatte anschauen, neue Mobilität, neue Energiesysteme, und das kommt jetzt zusammen mit vielfältigen ökonomischen Aspekten: Wie sehen die Gesellschaftsmodelle der Zukunft aus? Das beschäftigt die Unternehmen derzeit sehr, sehr stark- Geschäftsmodelle in der Digitalisierung. Wer wird überleben in der Welt der neuen Elektromobilität? Und dann der Sprung in die Gesellschafts- Sozial- und Kulturwissenschaften, denn das, was wir da als Umbruch erleben, bedeutet ja völlig neue Perspektiven über die Zukunft der Arbeit, über die Frage und die Wirkmächtigkeit von Individuen, politische Prozesse, Partizipationsfragen und Veränderungsprozesse", sagt Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal-Institutes für Klima, Umwelt und Energie, das sich nunmehr zu seinem 25-jährigen Bestehen ein ehrgeiziges Projekt vorgenommen hat: Wie schafft man es, anders zu wirtschaften, indem man Debatten zur gesellschaftlichen Transformation mit solchen zur Führungskultur in Unternehmen verbindet?
    Blenden wir zurück: 40 Jahre dominierte das stabile ökonomisch expansive Modell eines demokratisch organisierten Kapitalismus, das für breite Teile der Bevölkerung Wachstum, Wohlstand und Fortschritt garantierte. Darin war die Rolle von Unternehmern klar definiert, erfolgreich zu funktionieren, während sich die Politik um den Ordnungsrahmen zu kümmern hatte.
    Es geht linear nicht mehr so weiter
    "Genau das Modell wird ja nun seit zehn, 15 Jahren immer brüchiger, was besonders deutlich geworden ist dann in der Finanzkrise, als eben klar wurde, dass wir es nicht nur mit ökologischen Nebenfolgen des Modells zu tun haben, sondern dass wir nun seit zehn, 15 Jahren spüren: Aha, es geht auch mit erheblichen sozialen Problemen einher. Dann dieser Schock 2008, dass das ganze Modell anscheinend auch ökonomisch gar nicht mehr aufgeht, die Wachstumsproduktion nur noch dadurch zu erreichen war, dass sie virtuell passierte in Finanzsektoren, die gewaltige Blasen erzeugt haben und sich ökonomische Expansion zunehmend entkoppelte von realwirtschaftlichem Wachstum. Und dieses dreifache Krisenphänomen, dass das bestehende Modell an ökonomische, soziale und ökologische Grenzen kommt, das löst eben einen Großteil der Irritationen aus, weil plötzlich klar ist, vermutlich wird es linear nicht mehr so weiter gehen."
    Für entschiedene Systemkritiker berührt die Frage der Transformation unserer krisenanfälligen Gesellschaft schon seit geraumer Zeit die Substanz unserer demokratischen Kultur überhaupt. Ein Phänomen, das nunmehr auch mit Macht in die Betriebe hineinwirke, meint der Politologe und Publizist Albrecht von Lucke:
    "Wir haben es zu tun mit einer Krise, die, indem sie nicht mehr nur eine neue Form des Automatischen bedeutet, also das, was wir Ende der 90er-Jahre schon erlebt haben, eine große Debatte aufwirft um die Frage neuer Betriebsstrukturen, dass wir neue Formen des Autonomen in Betrieben brauchen; dass wir so etwas haben, wie den Abschied vom Hierarchischen hin zu einer stärkeren autonomen unabhängigen Arbeit in den Betrieben. Das ist jetzt in einer ganz neuen Form gefragt, insofern als wir es mit der Debatte zu tun haben, inwieweit Digitalisierung Arbeit völlig überflüssig macht, die Frage, inwieweit der Kapitalismus auch die Grenzen der Demokratie aufzeigt, also inwieweit Demokratie dann noch möglich ist, wenn der Kapitalismus Arbeit zunehmend überflüssig macht und diese letztlich nur noch durch Roboter oder also auch meinetwegen durch Computer erledigt wird."
    Das Neue heute schon ausprobieren
    Doch noch sind wir nicht soweit. Wenn herkömmliche Geschäftsmodelle an ihre Grenzen stoßen, gilt immer noch das Zauberwort von der Resilienz. Damit ist ein effizientes Prinzip der Widerstandsfähigkeit gemeint, das Uwe Schneidewind am Beispiel der Veränderungen in der Automobilbranche zu erläutern versucht.
    "Also die Frage, wie kann es zum Beispiel den Automobilkonzernen heute gelingen, genau diese zukünftigen Anforderungen, - einer Mobilität, die mit sehr viel weniger Automobilen auskommt, die im Wesentlichen elektrogestützt ist, die die Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern nutzt -, heute vorzubereiten, vorzudenken und dabei genügend Stabilität zu besitzen, dass einen das nicht unter den heutigen Marktbedingungen komplett aus dem Markt drängt. Denn das ist ja genau die Herausforderung, vor der die Konzerne ja stehen. Resilienz heißt ja, wie mache ich eine Organisation schockresistenter, dass wenn die Veränderungen kommen, ich darauf vorbereitet bin und mich entsprechend anpassen kann. Da geht es eben darum, überhaupt dieses Bewusstsein in die Veränderungsnotwendigkeiten breit in der Organisation zu verankern. Da geht es darum, Experimentierräume in der Organisation zu schaffen, in denen das Neue heute schon ausprobiert werden kann, Testmärkte aufzubauen, Inseln zu schaffen, in denen das lange Undenkbare und Verbotene in den Organisationen angedacht werden kann."
    Der Begriff der Nachhaltigkeit ist "unsexy"
    All diese Reformvorschläge laufen letzten Endes auf die Frage zu: Wie erhalte ich offene Gesellschaften unter materiellen Stagnationsbedingungen? Ein zentrales Problem, die auch Harald Welzer umtreibt, den Direktor der Zukunftsstiftung "Futur Zwei". Er plädiert für einen radikalen Schnitt, eine "reduktive Moderne", ohne Rücksicht auf falsche Wachstumserwartungen. Dabei räumt er zuallererst den gängigen Begriff der "Nachhaltigkeit" beiseite:
    "Der Begriff der Nachhaltigkeit ist in der Tat total unsexy, weil er für alles anwendbar ist – wir haben ja auch nachhaltige Geldanlagen und nachhaltige Investments und alles Mögliche, was nachhaltig sein soll. Inhaltlich ist aus meiner Sicht das große Problem, dass Nachhaltigkeitspolitik eben nicht als Politik verstanden wurde, also nicht als eine gesellschaftliche Aufgabe und politische Fragestellung, sondern zunehmend als eine technische Fragestellung."
    Wo Welzer zur Rückkehr vom unabschließbaren Konsumpfad rät, arbeitet das Wuppertal-Institut lieber an neuen Führungsmodellen. Möglichst "plural" und "integral" soll es beim "anderen Wirtschaften" zugehen. Denn Unternehmen hätten sich permanent neu zu erfinden, meint Jens Hollmann. Er ist Berater für Organisations- und Führungskräfteentwicklung in Transformationsphasen. Heute sei es für keine Organisation mehr möglich, außerhalb des eigenen Kontextes Entwicklung zu befördern, weil der Markt letztlich sehr viel mehr von Konsumenten bestimmt werde als dies in der Vergangenheit der Fall war.
    Ohne Mitgestaltung geht es nicht mehr
    "Das bedeutet in den Organisationen, dass Führungskräfte häufig nicht mehr in der Lage sind, aus der alleinigen Sicht, sprich: aus der Sicht einer Führungskraft, in dieser Multiperspektivität zu sehen. Sondern es gibt halt Entwicklungen zunehmend, wo Konsumenten in die Organisationen geholt werden, wo mit von Konsumenten gemeinsam und Mitarbeitern Produkte entwickelt werden und nicht die Absatzmärkte gesucht werden, nachdem die Produkte entwickelt worden sind. Das heißt: Es dreht sich etwas um in den Zyklen. Und das bedeutet, das Thema der Organisationen und der Führung ist stark heute verändert zu dem, wie es vielleicht noch vor 15 oder 20 Jahren der Fall war."
    Unbestritten scheint: Märkte haben sich so verändert, dass es ohne Mitverantwortung und Mitgestaltung bei der Entwicklung von Produkten offensichtlich nicht mehr geht. Meint Jens Hollmann:
    "Es ist sehr interessant, wenn man in die Organisationen schaut, dass es dort eine starke Diskussion gibt nach dem Motto: Wollen wir noch Autos bauen, die eben 10, 15 oder 20 Liter verbrauchen, nämlich auf Elektromobilität setzen. Der entscheidende Punkt ist oft in den Organisationen, dass es Mitarbeiter gibt, die beispielsweise das Thema Mobilität nutzen und sagen: Wenn wir uns dem Thema Mobilität stellen, dann werden wir zukünftig weniger Motoren brauchen und weniger produzieren. Dann wird es spannend in den Organisationen, dann bedeutet das gleichzeitig, dass in den Organisationen selbst der Prozess angestoßen wird, dass Mitarbeiter, die vielleicht selbst Motorengenerationen entwickelt haben, wissen, ihr Absatz wird, was den Motor betrifft, bei steigender Mobilität sinken."
    Nur Teilhabe an der eigenen Entmündigung?
    "Mir kommt das ein bisschen so vor, als würde man jetzt die Ratte im Experiment zum Teilnehmer an dem Experiment erklären. Und wenn ich jetzt sage, die muss auch noch partizipieren an dem Ganzen, dann schiebe ich auch noch die Verantwortung von dem Experimentator weg und schiebe es auch noch der armen Ratte – Schrägstrich - den Konsumenten zu", meint Harald Welzer zu Hollmanns Ansatz. Aber auch für Albrecht von Lucke greift dieses Konzept zu kurz. Der Kapitalismus sei letztlich in sich so innovativ, dass er jede neue Form eines autonomeren Arbeitens sich einverleiben könne:
    "Heute wird die Frage noch radikaler zu denken sein, weil wir es nicht mehr zu tun haben mit neuen Formen autonomen Arbeitens, sondern eine Autonomie der Dinge, kann man regelrecht sagen, es ist das Internet, es sind auch die mobilen Autos, die für sich selber arbeiten. Das heißt: Die menschliche Arbeit wird in einem ganz großen Maße abgeschafft, beispielsweise in dem klassischen Taxi-Gewerbe, wo das autonom fahrende Auto zukünftig die Arbeit ganz allein erledigt, oder auch im Bereich des Bankenwesens, wo die Digitalisierung den klassischen Bankangestellten in hohem Maße überflüssig machen soll."
    Eine Neudefinition des Unternehmers
    Jens Hollmann hält freilich an seinem Konzept fest, das einen anderen Unternehmenstyp voraussetzt, einen, der sich mehr an "integralen" Führungsmodellen orientiert und bei abnehmendem Wohlstand flexibel genug ist, sich mehr um Gemeinwohlökonomie zu kümmern.
    "Also beispielsweise ist es durchaus denkbar, es haben ja einige darüber in den letzten Monaten diskutiert, über eine Automatisierungsdividende, es ist über Maschinensteuern gesprochen worden, es ist über verschiedene Ansätze gesprochen worden: Wie kann man eigentlich Unternehmen für einen Teil an gesellschaftlicher Entwicklung mitverantwortlich machen. Und muss man eigentlich den Begriff des Unternehmers neu definieren und auslegen, um diese gemeinsame Verantwortung für einen gesellschaftlichen Prozess auf die gemeinsame Entwicklung hin auszubreiten."
    Die Zeiten von oben angeordneter Veränderungen scheinen vorbei
    Hollmanns Ansatz, Konsumenten in die Organisation zu holen, um gemeinsam mit Mitarbeitern Produkte zu entwickeln, hält der radikale Systemkritiker Harald Welzer hingegen bloß für eine Teilhabe an der eigenen Entmündigung:
    "Also die große Kernideologie in den Wirtschaftswissenschaften besteht ja darin, dass der Konsument etwas will, und der Unternehmer dieses, was er will, dann befriedigt. In Wirklichkeit ist es natürlich umgekehrt: Sobald Grundbedürfnisse befriedigt sind, entsteht für jede Form kapitalistischer Wirtschaft das große Problem: Wie erzeuge ich neue Bedürfnisse? Und diese Kaskade von Bedürfnissen erleben wir ja Tag für Tag, dass ständig etwas als Bedürfnis suggeriert wird – one day delivery– man muss das Paket am selben Tag bekommen, und so weiter, und so weiter."
    Doch wie reagieren Unternehmen auf die Herausforderungen in unserer Gesellschaft im Umgang mit ihren Mitarbeitern? Die Zeiten von oben angeordneten Veränderungen scheinen vorbei. Wie aber kann es einem Unternehmen gelingen, diejenigen, die Lust auf Veränderungen und Freude an Neuem haben, auch entsprechend einzubinden.
    Holokratie als Zukunftsmodell
    Katharina Daniels begleitet Unternehmen in allen kommunikativen Prozessen, wenn es um Transparenz- und Motivation geht, von der Intensivierung des Intranets bis zum Einzelcoaching. Dabei schwört sie auf das Prinzip der Holokratie:
    "Holocracy leitet sich ursprünglich her aus einer Philosophie von Arthur Koestler, der dieses Gedankenmodell autonom entscheidender Einheiten entworfen hat".
    Und die sind untereinander vernetzt und aufeinander angewiesen. Dieser Gedanke ist als neues Betriebssystem für Unternehmen entdeckt worden, mit der bahnbrechenden Konsequenz, dass es keinerlei Hierarchien mehr gebe, sondern nur noch dynamisch wechselnde Rollen und Funktionen.
    "In dieser holokratischen Organisation tut jeder das und nimmt die Aufgaben wahr, die ihm wirklich liegen, zu denen er sich berufen fühlt und für die er eine Liebe spürt. Es gibt in allen Entscheidungsfindungen keine autokratischen Entscheidungen mehr. Sobald eine Entscheidung für das Unternehmen gefällt werden soll, werden Entscheidungskreise einberufen", (…) die nicht länger als eine Stunde tagen und nicht darüber entscheiden, was für, sondern was gegen ein Vorhaben spricht, wobei grundsätzlich von Schuld- und Fehlerzuweisungen abgesehen wird. Doch dieses Modell einer absoluten und umfassenden Verantwortung jedes einzelnen Akteurs stößt bei Albrecht von Lucke auf erhebliche Zweifel:
    "Der Gedanke der Holocracy, also der Holokratie, der Idee, dass es eine völlige Auflösung von Hierarchien gebe, die dann letztlich den Menschen zu einer völligen Freiheit in die Lage setzt, ist natürlich von bestechend utopischer Qualität, verführerisch, aber natürlich mit ungemeinen Fallstricken verbunden, weil natürlich das auch gleichermaßen bedeutet, dass in dieser holokratischen Gesellschaft, die keine Hierarchie mehr kennt, jeder letztlich für das Ganze verantwortlich ist. Jede Hierarchie hat natürlich auch im hohen Maße Entlastungsfunktion, weil jeder Mensch, der auf einer gewissen Ebene steht, für diese Ebene zuständig ist, und dass er sich darauf verlassen kann, dass der unter ihm Stehende die nächste Ebene verantwortet. Die holokratische Gesellschaft, die den Eindruck erweckt, jeder ist für alles verantwortlich, erweckt die Illusion der völligen Freiheit, bedeutet aber die totale Eingebundenheit, weil jeder ständig mit allem schwanger gehen muss. Und das ist natürlich eine Gefahr, die wir generell im Kapitalismus haben, dass er den Menschen gewissermaßen mit Haut und Haar sich zu Eigen macht."
    Offene Gesellschaften müssen expansive Gesellschaften bleiben
    Und für Harald Welzer stößt sich der holokratische Anspruch ohnehin mit der empirischen Realität: "Denn die empirische Realität, die wir haben, ist eine zunehmende Zerlegung von Verantwortung, dadurch, dass die Handlungsketten immer länger werden und jeder nur noch einen Teilbereich innerhalb dieser sehr langen Handlungsketten überhaupt Verantwortung übernehmen kann. Auch hier würde ich sagen: Wenn man sagt, das kann man holokratisch alles viel schöner machen, ist das aus meiner Sicht auch nicht mehr als Ideologie."
    Doch vollmundige Ausstiegsszenarien sind nicht die reißerische Botschaft der Autoren um den Wuppertaler Thinktank. Denn bei aller Notwendigkeit, eingeschlagene Wege infrage zu stellen – an einer Prämisse führt noch immer kein Weg vorbei: Offene Gesellschaften müssen expansive Gesellschaften bleiben, auch wenn über die Richtung und Ziele heftig gestritten werden darf.