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Fünf Jahre Arabische Revolution
Ankunft in der Gegenwart

Fünf Jahre nach den großen Umwälzungen in Nordafrika und in Teilen der arabischen Welt fragen nur noch wenige nach den Gründen für Krieg, Flucht und Terror. Was ist geschehen - und warum ist insgesamt so wenig Positives geblieben? In ihrem Buch "Der arabische (Alb-)Traum. Aufstand ohne Ziel" bietet die Journalistin und Nahost-Expertin Anne-Béatrice Clasmann wertvolle Antworten zur rechten Zeit.

Von Alexander Göbel | 25.01.2016
    Tunesier beklagen ihre Verwandten, die während des sogenannten Arabischen Frühlings ums Leben kamen.
    Tunesier beklagen ihre Verwandten, die während des sogenannten Arabischen Frühlings ums Leben kamen. (Mohamed Messara, dpa picture-alliance)
    Brauchen wir noch ein Buch über die Arabellion und die Folgen? Gar eine Art Monografie der Aufstände in der arabischen Welt? Wer so etwas angesichts voller Bücherregale zum Thema auch nur versucht, muss angesichts unzähliger Ereignisse, Hoffnungen, Widersprüche und Reformansätze, die es in den vergangenen fünf Jahren gegeben hat, eigentlich scheitern. Aber um es gleich zu sagen: Anne-Béatrice Clasmann ist eine mutige, schonungslose und sehr lesbare Gesamtschau gelungen –, gerade weil die Autorin keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern sich auf Leitlinien konzentriert. Weil sie nicht nur die Geschichte und die vielen Vorgeschichten der Arabellion darstellt, sondern beides immer auf die Gegenwart bezieht. Und weil dann kein Mythos mehr bleibt, der die Analyse bisher so oft verstellt hat:
    "Wer heute eine erste Bilanz ziehen will, sieht: noch mehr Menschenrechtsverletzungen, Hunderttausende von Flüchtlingen, die in Europa um Schutz bitten, ein grausamer Mehrfrontenkrieg in Syrien, ein Erstarken der militanten Strömungen des politischen Islam, eine Auflösung staatlicher Strukturen im Jemen, im Irak, in Syrien und Libyen."
    So sieht er aus, der arabische Albtraum, der einmal ein Traum war. Doch Anne-Béatrice Clasmann macht es sich nicht einfach. Sie verweigert sich Zirkelschlüssen oder der wohlfeilen Ex-post-Analyse der Arabellion. Vielmehr nimmt sie den Leser mit auf eine detailreiche Erkundungsreise, bei der dieser Wandel von der Unterdrückung zur Befreiung zum Niedergang, der Weg vom Traum zum Albtraum, greifbar, nachvollziehbar und - ganz wichtig: differenzierbar wird. Denn Aufstand ist eben nicht gleich Aufstand.
    Clasmann würdigt Tunesien als Vorbild der Demokratisierung
    Im ersten Teil ihres Buches arbeitet Clasmann die Ingredienzen heraus, die zu Revolten und auch zu ihrem Scheitern geführt haben. Ihr Fazit: Der kleinste gemeinsame Nenner, die Vertreibung eines Despoten, war zu wenig. Clasmann nennt weitere Gründe, warum die Revolutionsbewegungen gescheitert sind: die Instrumentalisierung des politischen Islam, die "Sehnsucht nach dem großen Baba" – und der Mangel an Führungsfiguren unter den Aufständischen.
    "Bedauerlich ist es, dass es den meisten Protestgruppen der ersten Stunde nicht gelungen ist, die Wut der Straße zu bündeln und in eine politische Bewegung zu überführen. Sie ließen sich davontragen von einer Welle der ersten Euphorie. Die schmutzigen Machtspielchen überließen sie anderen. Das mag zwar ehrenhaft sein – zielführend ist es jedoch nicht."
    Der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich Ende 2010 im Süden von Tunesien aus lauter Verzweiflung über seine Lage verbrannte, der von der ägyptischen Polizei ermordete Blogger Khaled Said: Sie taugen Clasmann zwar als Märtyrer, aber nicht als Helden: Schmerzlich! Tragisch! Aber wahr, dass in den meisten Ländern die Schwarmintelligenz nicht ausreichte, um aus Revolutionsbewegungen auch politische Akteure zu machen: Das ist die Ausgangslage für den zweiten Teil des Buches, in dem der Leser von Tunesien bis nach Syrien reist – übrigens auch durch die Länder im Windschatten der Arabellion – etwa Algerien, Sudan, Oman, Bahrain, Jordanien oder Marokko.
    Tunesien würdigt Clasmann zu Recht als Vorbild der Demokratisierung. Die Autorin liefert gute Gründe, warum das kleine Land bessere Chancen hat als andere. Gleichzeitig verschweigt sie nicht, wie dünn selbst im vermeintlichen Musterland der Arabellion der Firnis der politischen Errungenschaften ist – dann nämlich, wenn die Revolution keine Dividende auszahlt. Angesichts der Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit, die Tunesien gerade wieder Tote, Tränengas und Ausgangssperren bescheren, geht es kaum aktueller.
    Wie Krimis lesen sich die Länder-Kapitel
    "Die Menschen in Tunesien (..) haben den militanten Salafisten den Kampf angesagt und zumindest den ernsthaften Versuch unternommen, die Ausreise weiterer Terroristen in das irakisch-syrische Kampfgebiet zu unterbinden. Sie haben zwei Mal einen friedlichen Regierungswechsel hinbekommen. Doch ohne Hilfe für die ländliche Bevölkerung und ohne Perspektive für die Jugend werden immer wieder Tunesier ihr Heil im Dschihad oder in der illegalen Migration nach Europa suchen. Und ohne wirtschaftlichen Aufschwung im Hinterland und im Süden werden Waffenhändler, Schmuggler, islamistische Terroristen und Drogenhändler in diesen Gebieten auch künftig leichtes Spiel haben."
    Wie Krimis lesen sich auch die anderen Länder-Kapitel. Etwa der Abschnitt über Ägypten, in dem Clasmann die fatale Verbindung von immer neuen Pharaonen, Macht, Geld und Militär darstellt - von Nasser über Sadat bis zu Mubarak und dem heutigen Präsidenten al-Sisi. Besonders spannend ist Clasmanns Darstellung des machtpolitischen Spiels der ägyptischen Führungsfiguren mit der Muslimbruderschaft, gleichzeitig mit dosiertem – aber nie ernst gemeintem – Laizismus. Oder das Kapitel über Syrien: Dort ordnet sie den Niedergang der Rebellion historisch ein, analysiert die aktuelle Situation der Syrien-Krise und ihrer religiösen und politischen Akteure, beschreibt den schädlichen Einfluss von Regionalmächten wie Saudi-Arabien und Iran - und lässt die Arabellion (und das, was von ihr übrig ist) endgültig in der unmittelbaren Gegenwart ankommen. Dadurch wird klar, wie sehr dieser so schwer greifbare Ereignis-Komplex der Arabellion uns alle betrifft. Clasmann schont den Leser nicht mit einer deutlichen Warnung.
    Hoffen, dass der Albtraum wieder zum Traum wird
    "Für uns in Europa wäre es fatal, wenn wir die Augen vor diesen Entwicklungen verschließen würden. Selbst wenn man moralischen Fragen und Menschenrechten keine Priorität einräumt, so liegt es doch in unserem ureigensten Interesse, da mit Diplomatie und "public diplomacy" einzugreifen, wo sich in absehbarer Zeit der nächste Krisenherd auftun könnte, dort zu helfen, wo sich Staatlichkeit auflöst und Zivilisten im Bombenhagel um ihr Leben rennen. Wenn wir das nicht tun, werden noch mehr Menschen ihre Heimat verlieren. Sie werden zu einem Destabilisierungsfaktor in den Nachbarländern werden, und sie werden auch bei uns Schutz suchen."
    Anne-Béatrice Clasmanns Buch ist ein Kompass, mit dem man sich in einem komplizierten, epochalen Umbruch wie der Arabellion besser zurechtfindet. Es bietet Orientierung und Lösungsansätze in einem nicht abgeschlossenen Prozess. Dabei birgt es insgeheim die stille Hoffnung, dass der arabische Albtraum irgendwann auch wieder zu einem Traum werden könnte.