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Fünf Jahre nach Fukushima
"Menschenleben sind bis heute nicht betroffen"

Der Atomunfall von Fukushima war eine Katastrophe, aber nicht vergleichbar mit Tschernobyl - das meint der Strahlenbiologe Wolfgang-Ulrich Müller. Bis heute gebe es keine nachgewiesenen Krankheits- oder Todesfälle durch die ausgetretenen Strahlen, sagte er im DLF. Denn die Strahlendosen seien wesentlich niedriger gewesen. Allerdings seien Langzeitfolgen schwer abzuschätzen.

Wolfgang-Ulrich Müller im Gespräch mit Rainer Brandes | 11.03.2016
    Am vierten Jahrestag erinnert eine Frau in Fukushima mit Blumen an die Reaktorkatastrophe.
    Am vierten Jahrestag erinnert eine Frau in Fukushima mit Blumen an die Reaktorkatastrophe. (dpa / picture alliance / Kimimasa Mayama)
    Rainer Brandes: Eben wegen dieser Angst vor einem schweren Atomunfall hatte die Bundesregierung ja damals den Atomausstieg beschlossen. Aber wie schwer war der Unfall von Fukushima wirklich? Und vor allem: Wie schlimm sind seine langfristigen Folgen? Darüber möchte ich jetzt mit wolfgang-Ulrich Müller sprechen. Er ist einer der renommiertesten deutschen Strahlenbiologen und war bis zu seiner Pensionierung Lehrstuhlinhaber an der Uniklinik Essen. Guten Abend.
    Wolfgang-Ulrich Müller: Guten Abend.
    Brandes: Es gab direkt nach dem Reaktorunfall ja schlimmste Befürchtungen. Da war die Rede von Tausenden Strahlentoten, die es geben könnte, anschließend Tausende Krebserkrankungen. Was davon ist wirklich eingetroffen?
    Müller: Bisher ist von all diesen Hiobsbotschaften nichts eingetroffen. Ich meine, der Unfall selbst war schlimm, gar keine Frage. Aber Menschenleben sind bis heute nicht betroffen. Das war gleich zu Beginn schon so, dass einige selbst ernannte Fachleute meinten, die Ersthelfer kämen alle nicht lebend zurück, wobei von Anfang an klar war, dass sie alle lebend zurückkommen würden, weil die Japaner natürlich auch Bescheid wissen und Strahlenrisiken kennen und deswegen die Strahlendosen begrenzt haben, die jeder einzelne bekommen durfte, sodass von Anfang an klar war, dass keiner akut sterben würde. Die Langzeitfolgen sind natürlich schwieriger abzuschätzen, weil da geht es immer um Wahrscheinlichkeiten. Wir wissen ja nicht genau Bescheid, was im niedrigen Dosisbereich passiert, und die Bevölkerung war, wenn überhaupt, dann von niedrigen Strahlendosen betroffen, von denen wir nicht genau wissen, welche Auswirkungen sie haben. Es kann sein, dass sie gar nichts machen; es kann sein, dass einige wenige Fälle auftreten, die man nicht wird nachweisen können; es könnte sogar sein, dass einige behaupten - ich bin nicht ein Fan davon, aber grundsätzlich kann man das auch behaupten -, dass so niedrige Strahlendosen sogar einen gewissen Schutz darstellen könnten.
    Mehr Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern: "Das ist so ist nicht richtig"
    Brandes: Es gibt aber doch immerhin einen Hinweis, dass es eventuell einen geringen Anstieg an Raten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern gegeben hat. Bedeutet das, dass wir in späteren Jahren noch mit Toten rechnen müssen?
    Müller: Ja Moment! Da muss man jetzt das ein bisschen klarer darstellen, weil das, was da auch durch die Medien geisterte, dass es nachgewiesen sei, dass Schilddrüsenkrebs bei Kindern erhöht in der Umgebung Fukushimas auftritt, das ist so nicht richtig. Tschernobyl, ganz klar, da hat es diesen Anstieg gegeben. Da waren die Strahlendosen in der Bevölkerung wesentlich höher als in Fukushima. Was in Fukushima dann durch die Presse geisterte war, dass zunächst nur in der Umgebung Fukushimas mit hoch modernen Geräten Schilddrüsenuntersuchungen gemacht wurden. Und das wissen wir schon seit Langem: Wenn man so ein Screening durchführt, findet man große Zahlen von Knoten in den Schilddrüsen. Das ist lange bekannt und deswegen ist das in erster Linie einfach ein Untersuchungseffekt. Man hat dann in anderen Gegenden Japans diese Untersuchung wiederholt und genau dieselben Häufigkeiten gefunden. Das ist dann allerdings in der Presse kaum noch zur Sprache gekommen.
    "Die Strahlendosen waren wesentlich niedriger als in Tschernobyl"
    Brandes: Sie haben eben schon Tschernobyl erwähnt und diese Befürchtungen, die in der Bevölkerung existieren, die basieren ja auf den Erfahrungen mit Tschernobyl, wo es tatsächlich Strahlentote gegeben hat,…
    Müller: Richtig.
    Brandes: …wo es diese Schilddrüsenerkrankungen und auch schwere Fehlbildungen bei Neugeborenen gegeben hat. Wie kommt das, dass all diese Folgen jetzt in Fukushima offenbar nicht auftreten?
    Müller: Weil die Strahlendosen wesentlich niedriger waren in der Umgebung Fukushimas im Vergleich zu Tschernobyl und auch bei den Ersthelfern große Unterschiede in der Höhe der Strahlendosis bestanden. In Tschernobyl haben die etwa 130 Ersthelfer Strahlendosen bis zu 16 Sievert bekommen und von diesen 130 Ersthelfern sind 28 an den Strahlenfolgen gestorben. In Fukushima hat es eine Begrenzung bei 250 Millisievert gegeben, also deutlich unterhalb von einem Sievert. Ab einem Sievert muss man mit Todesfällen rechnen. Das ist der wesentliche Grund dafür, warum es keine akuten Toten gegeben hat, und in der Umgebung waren in Tschernobyl die Strahlendosen wesentlich höher, gerade die Schilddrüsendosen wesentlich höher. Man hat in Tschernobyl vor allen Dingen auch versäumt, den Kindern rechtzeitig inaktives Jod zu geben, um die Schilddrüse zu schützen.
    "Die Umwelt wird mit solchen Katastrophen besser fertig, als wir dachten"
    Brandes: Das heißt, man kann sagen, die Japaner haben aus den Erfahrungen von Tschernobyl gelernt und die richtigen Schlüsse gezogen?
    Müller: Im Grunde genommen waren diese Erkenntnisse weitgehend auch in Tschernobyl schon bekannt. Dass bei Kindern die Schilddrüsentumore so früh auftraten, das war nicht überall bekannt. Es gab zwar schon Literaturhinweise, aber das war nicht so bekannt. Das wusste man jetzt in Fukushima sicher deutlich besser. Aber die Höhe der Strahlendosis, ab wann es zu akuten Todesfällen kommt, das war auch in Tschernobyl schon bekannt. Nur die Ersthelfer hatten gar keine andere Chance. Die mussten ja irgendwas tun und konnten jetzt nicht sagen, nun laufen wir schnell weg und lassen das Ganze so richtig zur Katastrophe werden. Eine Katastrophe war es natürlich, klar.
    Brandes: Wenn wir noch mal bei Fukushima bleiben, dann gibt es ja trotzdem das Gebiet rund um das AKW. Bestimmte Gebiete davon bleiben auf unabsehbare Zeit unbewohnbar. Bis heute weiß auch niemand, wohin mit den abgetragenen Teilen und dem abgetragenen Erdreich. Das lagert alles in Hunderttausenden von Säcken an der Oberfläche. Niemand weiß, wohin damit. Muss man doch sagen, dieser Unfall war schon eine Katastrophe und es bleiben doch gravierende Umweltschäden?
    Müller: Eine Katastrophe war es. Das will ich auch gar nicht beschönigen. Nur, was häufig durch die Medien geht, dass mit Tausenden von Toten zu rechnen sei und dass schon viele gestorben seien und dergleichen, das ist Unsinn. Ein Problem ist das auf jeden Fall und ich beneide die Japaner auch nicht darum, mit diesem Problem fertig werden zu müssen. Wenn man das Ganze vernünftig durchführt und entsprechende Schutzmaßnahmen ergreift, ist nicht damit zu rechnen, dass jetzt Menschen betroffen sind. Die Umwelt ja, das kann passieren. Nun sehen wir allerdings in Tschernobyl auch, um wieder zu Tschernobyl zurückzukehren, dass die Umwelt eigentlich mit solchen Katastrophen besser fertig wird, als wir uns das gedacht haben. In der Anfangszeit Tschernobyls hat es fehlgebildete Tiere gegeben, hat es wahrscheinlich auch Todesfälle bei den Tieren gegeben. Inzwischen hat die Natur sich aber derart gut erholt, dass sie besser da steht als vor Tschernobyl, in erster Linie allerdings, weil der Mensch nicht mehr da ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.