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Fünf Jahre nach "Mavi Marmara"
Türkisch-israelische Eiszeit

Die Türkei hatte als erstes muslimisches Land Israel anerkannt, später pflegten beide Länder gar eine Waffenbrüderschaft. Unter Recep Erdogans AKP-Regierung kühlte das gute Verhältnis deutlich ab – und dann kam die Eiszeit: Als vor genau fünf Jahren israelische Soldaten das türkische Schiff Mavi Marmara erstürmten.

Von Thomas Bormann und Christian Wagner | 30.05.2015
    Türkische Demonstranten treten auf eine israelische Flagge bei dem Protest gegen die israelischen Angriffe auf Gaza nach dem Freitagsgebet in der Fatih Moschee in Istanbul am 25. Juli 2014.
    Anti-Israel-Demonstration im Juli 2014 in Istanbul (picture alliance / dpa / Sedat Suna)
    Für Çigdem Topcuoglu war der 31. Mai 2010 der wohl schrecklichste Tag ihres Lebens. Zusammen mit 500 anderen Aktiven und Gästen der islamischen Hilfsorganisation IHH war sie damals an Bord des Passagierschiffs "Mavi Marmara". Ihr Ziel: der Hafen der palästinensischen Stadt Gaza. Sie wollten die israelische See-Blockade durchbrechen, damit sie Medikamente und Lebensmittel zu den Not leidenden Menschen nach Gaza bringen können. "Plötzlich war da ein höllischer Lärm", sagt Cigdem Topcuoglu.
    Auf Video-Filmen von damals ist festgehalten, wie sich israelische Kommando-Einheiten aus Hubschraubern abseilen. Die Soldaten stoßen an Deck auf Widerstand – und schießen daraufhin mit scharfer Munition: "Mein Mann wurde erschossen, als er versuchte, Verwundete vom Oberdeck zu bergen. Eine Kugel bohrte sich in seinen Nacken und blieb in seiner Brust stecken - so steht es im Autopsie-Bericht. Als ich eine Herz-Massage vornehmen wollte, schien es, als würde die Kugel in seinem Brustkorb zu explodieren. Aus den Ohren, dem Mund, der Nase meines Mannes - überall drang Blut heraus."
    Seit dem 31. Mai 2010 ist Cigdem Topcuoglu Witwe. Sie arbeitet nach wie vor bei der islamischen Hilfsorganisation IHH in Istanbul. Sie fordert, die Soldaten, die ihren Mann und weitere acht Aktivisten auf der Mavi Marmara getötet haben, müssen bestraft werden.
    Undenkbar für die israelische Regierung. Sie steht zu der Militäraktion, bei der ihre Soldaten die Mavi Marmara in internationalen Gewässern geentert haben, um ein Durchbrechen der See-Blockade des Gaza-Streifens zu verhindern. Der Sprecher des israelischen Außenministeriums, Emmanuel Nahshon: "Es gibt nichts, für das wir uns wirklich entschuldigen müssten. Denn die Provokation und die Gewalt sind von der anderen Seite ausgegangen. Wir haben nur reagiert. Aber trotzdem: Wir bedauern den Verlust von Menschenleben. Deshalb haben wir schon vor zwei Jahren gesagt: Wir sind bereit, mit der türkischen Seite über alle Themen zu sprechen."
    Die militärische Abriegelung des Gaza-Streifens bleibt
    Nicht aber über ein Ende der Gaza-Blockade. Das Palästinensergebiet bleibt abgeriegelt, durch Panzer, Zäune, Mauern. Was Abriegelung für die rund 1,8 Millionen Palästinenser im Gaza-Streifen bedeutet, kann man auf dem Markt von Gaza-Stadt sehen: Es gibt Lebensmittel und Haushaltswaren, selbst produziert oder importiert, auch aus der Türkei. Aber es gibt kaum Kunden. Bei 60 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit in dem Palästinensergebiet:
    "Wir können uns das alles nicht leisten. Viele Leute hier sind dem Tod näher als dem Leben. Sie bekommen Lebensmittel-Rationen von Hilfsorganisationen oder den Vereinten Nationen. Alles andere können wir nicht kaufen."
    "Wir haben keinen Strom, uns fehlt das Gas zum Kochen, es gibt zu wenig Benzin. Lebensmittel können wir nicht viel kaufen, wir leben von der Hand in den Mund. Und uns geht es noch vergleichsweise gut."
    Die militärische Abriegelung des Gaza-Streifens bleibt, genauso wie die politischen Folgen der israelischen Militäraktion gegen die Mavi Marmara vom Mai 2010. Keine offiziellen Kontakte zur Türkei auf Regierungsebene, keine Botschafter, keine Annäherung. Deprimierend sei das, sagt Gallia Lindenstrauss vom israelischen Institut für Nationale Sicherheits-Studien in Tel Aviv: "Das fehlende Vertrauen ist ein Problem. Nicht nur auf höchster politischer Ebene, sondern zwischen den beiden Völkern. Beide Seiten sind verletzt. Die Türken wegen der Toten auf der Mavi Marmara. Und die Israelis fühlen sich verraten, sehen die Türken in Allianz mit ihren Feinden. Kein Wunder also, dass wir zu den einst guten Beziehungen der 90er-Jahre nicht zurückgefunden haben. Das wird noch lange dauern. Vielleicht geht es auch gar nicht."
    Vertreter der türkischen und der israelischen Regierung haben sich mehrfach zu geheimen Verhandlungen getroffen. Angeblich ist Israel bereit, 21 Millionen Dollar an Entschädigung zu zahlen, hat Gülden Sönmez gehört. Sie ist Anwältin bei der islamischen Hilfsorganisation IHH und sie sagt: 21 Millionen Dollar – das reicht uns nicht. Es gehe nicht nur um Geld:
    "Wir fordern, dass die Blockade gegen Gaza beendet wird. Wir fordern, dass alle Betroffenen der Mavi Marmara entschädigt werden. Und wir fordern, dass die Verantwortlichen bestraft werden: Alle, die an der Erstürmung des Schiffes beteiligt waren - egal ob aktiv oder passiv, egal ob Soldaten oder Politiker - sie alle sollen sich vor Gericht verantworten."
    Gegen vier ranghohe Angehörige der israelischen Armee läuft bereits ein Prozess an einem Istanbuler Gericht, freilich ohne dass die Angeklagten jemals erschienen sind. Die Staatsanwaltschaft Istanbul wirft ihnen Totschlag, Freiheitsberaubung und Plünderei vor. Die islamische Hilfsorganisation IHH lässt nicht locker. Sie hält an ihrem wichtigsten Ziel fest, nämlich: Hilfsgüter nach Gaza bringen. Die IHH bereitet gemeinsam mit anderen Organisationen deshalb schon die nächste „Gaza-Flotte" vor, also einen Schiffs-Konvoi, der die israelische Blockade durchbrechen und Gaza erreichen soll. In wenigen Wochen sollen die Schiffe in See stechen. Der neuerliche Konflikt ist vorprogrammiert.
    Der Handel zwischen beiden Ländern ist um die Hälfte gewachsen
    Erstaunlich ist, was abseits der Politik zwischen Israel und der Türkei noch immer möglich ist. Der Handel zwischen beiden Ländern ist seit 2009 um die Hälfte gewachsen. Die israelische Türkei-Expertin Lindenstrauss sagt, ohne die politische Krise könnte das Handelsvolumen noch über den fünfeinhalb Milliarden US-Dollar vom vergangenen Jahr liegen: "Israel importiert aus der Türkei Textilien und Lebensmittel. Und wir exportieren vor allem Chemie-Produkte in die Türkei. Das ist sehr ausgewogen. Und bemerkenswert ist: Turkish Airlines ist am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv die zweitgrößte Gesellschaft, nur die israelische EL Al bietet dort mehr Flüge an. Israelis fliegen also weiterhin mit Turkish Airlines, wenn auch nicht in die Türkei, sondern von dort zu anderen Zielen."
    Und: Noch immer sind türkische Bauunternehmen in Israel aktiv, nur öffentliche Aufträge können sie nicht übernehmen.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt keine Gelegenheit aus, Israel wegen seiner Politik gegenüber den Palästinensern zu kritisieren. Dafür erntet Erdogan in der Türkei viel Beifall. Allerdings fragen etliche Oppositionspolitiker: Warum eigentlich ist der Handel zwischen Israel und der Türkei während der Regierungszeit der islamisch-konservativen Partei AKP stetig gewachsen? Wie passt das zu der heftigen Kritik an Israel? "Da stimmt doch was nicht", meint Oppositionspolitiker Sinan Ogan:
    "Länder pflegen zu Freunden gute Handelsbeziehungen. Wenn die Regierung Israel als Freund sieht, dann habe ich nichts einzuwenden. Wenn die Regierung aber Israel öffentlich immer wieder heftig kritisiert, dann muss sie sich auch so verhalten. Wenn die Regierung aber nur mit ihrer Kritik angibt, dann werden wir und das Volk der Regierung 'Halt! Stopp!' sagen."
    Entweder müsse die türkische Regierung also den Handel mit Israel stoppen oder aber sich in ihrer Kritik zügeln, heißt es von der türkischen Opposition. Fünf Jahre hält die israelisch-türkische Krise schon an. Dabei haben beide Länder eine gemeinsame Geschichte. Sehen kann man sie im alten Zentrum von Jaffa,. Nicht weit vom Mittelmeer-Ufer steht das alte Sarraya-Gebäude, zur Zeit des osmanischen Reichs Palast des Gouverneurs: "Die Türkei hat das Gebäude mit großem finanziellen Aufwand restaurieren lassen. Ein türkisches Kultur-Institut sollte dort entstehen. Aber es ist bisher nicht eröffnet worden, man konnte ja wegen der eingebrochenen Beziehungen keine Delegation schicken. So bleibt das Gebäude in Jaffa im Dornröschenschlaf. Beide Länder würden sehr davon profitieren, wenn sie ihr osmanisches Erbe gemeinsam erforschen könnten."
    Ein türkisches Kulturinstitut in Israel - momentan ist das so unwahrscheinlich wie ein Ende der Blockade des Gaza-Streifens, auch fünf Jahre nach dem blutigen Einsatz der israelischen Armee gegen die Flottille der Mavi Marmara.