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Für den eingebildeten Kranken

Bücher, die "Lebenshilfe" versprechen, füllen schon seit Jahren die Regale der Buchhändler und finden dankbaren Absatz: Hilfsbedürftige jeder Art, ob beziehungskrank oder an "Ich-Schwäche" leidend, suchen hier handfesten Rat. Der Amerikaner Dennis DiClaudio, Jahrgang 1973, hat jetzt eine weitere wichtige Zielgruppe für die Lebenshilfe entdeckt: den eingebildeten Kranken.

Von Sabine Peters | 11.08.2006
    An Magengeschwüren, Fußpilz und Krebs kann jeder laborieren; die hohe Kunst des Siechen-Diskurses allerdings besteht in befürchteten, in fantasierten Beschwerden und Gebrechen. DiClaudio stellt den Hypochondern und allen, die es werden wollen, ein umfassendes, um nicht erschöpfend zu nennendes Lexikon der eingebildeten Krankheiten zur Verfügung. Das hier ausgebreitete reiche medizinische Wissen sollte alle Berufenen dazu befähigen, aus jedem Mückenstich eine maligne – gleich bösartige - Elephantoperose zu machen. "Der kleine Hypochonder" wird sich wahrscheinlich besonders für Jüngere im Kreise älterer Verwandtschaft bewähren: Endlich wird man Tante Gilgi und ihre auf Dauer ermüdenden Darstellungen ihrer Wehwehchen mit einer so ausdrucksstarken Erkrankung wie "Cornu Cutaneum", dem Wachsen eines Horns ausstechen können.

    DiClaudio, der Lektor bei einem amerikanischen Fachverlag für Medizin ist, beziehungsweise jetzt vermutlich gewesen ist, geht streng wissenschaftlich vor: Das Lexikon der eingebildeten Krankheiten verzeichnet natürlich die lateinischen Namen der Gebrechen, es nennt Symptome, Diagnose, Prognose, Prävention und Therapie. Beigefügt sind dem Band zahlreiche zweckentfremdete Abbildungen realer Krankheiten, wie sie in medizinischen Handbüchern früherer Zeiten abgebildet wurden. Beim Betrachten dieser Bilder drängt sich einem der Eindruck auf: Sie haben den gleichen Charme wie diverse fotografische Poster in Warte- und Behandlungszimmern, die dort so heimtückisch wie kalkuliert aufgehängt werden, um weitere Hypochonder und damit potentielle Patienten heranzuzüchten.
    Es ist eine schöne Idee, dem armen Hypochonder einen Ratgeber zur Seite zu stellen, aber an der Umsetzung DiClaudios ist dann doch Einiges zu bemängeln. Dass in dem Band auch reale Krankheiten wie Lepra oder Diarrhoe auftauchen, ist politisch unkorrekt. Soll man etwa reale Leiden ebenso belachen wie die eingebildeten? Das ist außerdem bewusst verwirrungsstiftend und besorgniserregend: Denn so rücken auch unmöglich erscheinende Krankheiten in den Bereich des Denkbaren und Möglichen. Ein Beispiel wäre das "alien hand syndrom" oder das Syndrom der anarchistischen Hand, die sich unverhofft selbständig macht; bei diesem Krankheitsbild könnte es sein, dass man sich selbst erwürgt, oder dass die Hand einem in aller Öffentlichkeit sämtliche Knöpfe an Hemd und Hosen öffnet. Behandlungsmöglichkeiten: Keine, außer dass man die Hand beschäftigt, etwa ihr ein Stofftier gibt oder ein Jojo.

    Sehr schön, zumal man hier sehen kann, dass der Autor nicht nur der Schulmedizin verhaftet ist, sondern durchaus auch alternative Therapien erwägt. Das Manko dieses Buchs liegt darin, dass DiClaudio sich anscheinend nicht genug mit der hypochondrischen Persönlichkeitsstruktur auseinandergesetzt hat. Jane Austen hat in ihrem Roman "Emma" dem greisen Hypochonder Mr. Woodhouse ein wunderbares ironisches Denkmal gesetzt. Es zeigte neben der egomanischen Art des woran-immer-Leidenden auch Mr. Woodhouses Zartsinn: Geladenen Gästen das Dinner zu verweigern, zugunsten eines Schälchens Haferschleims, wie er selbst es allabendlich genießt, zeugt von geradezu krankenschwesterlicher Fürsorge. Oder man denke an Frau Stöhr vom Thomas Mannschen Zauberberg und das "korrekte Bedauern", das Leutnant Ziemßen äußert, wenn er ihre morgendliche Temperatur erfährt. So muss es sein: Jeglicher Kranke, auch und gerade der Hypochonder, verdient Achtung und Respekt.

    DiClaudio dagegen begegnet den so feinfühligen Betroffenen nicht sensibel -unterstützend. Sein Ratgeber leidet vielmehr an Wurstigkeit und Häme. So wird demjenigen, der an einem Kiefer-Ameloblastom beziehungsweise Admantinom leidet, höhnisch entgegengehalten, wofür er denn seinen Kiefer schon brauche, außer zum Reden, Essen, und weil er sich eben ganz gut im Gesicht mache. Mitleidlos ist auch ein Krankheitspräventions-Vorschlag wie "Essen Sie nichts", ganz abgesehen davon, dass die letale Nebenwirkung nicht in wünschenswerter Aufmerksamkeit erwogen wird.

    Weitere Kritikpunkte: Bei der Ursachenforschung diverser Gebrechen verlässt DiClaudio teilweise den Boden der Wissenschaft und kehrt zurück ins Religiöse. Zu einem Gott, der beispielsweise Pubertierende mit Krankheit straft. Ein Fachbuch wie das vorliegende sollte über solch mittelalterliche, abergläubische Erklärungsmuster hinausgewachsen sein. Und das Rezept für vergiftete Muscheln mit Knoblauch und Rosmarin gehört ins Kochbuch, nicht in einen medizinischen Ratgeber. Aus zweierlei, sich widersprechenden Gründen sollte man den "kleinen Hypochonder" nicht am Stück lesen. Erstens: Zu viele Wiederholungen immergleicher Symptome, zu viel gewollte Munterkeit, zu viele Witzeleien auf einem Niveau unterm Meeresspiegel. Zweitens sollte man dies Machwerk nicht am Stück lesen, weil die Lektüre Juckreiz, Augenflimmern, unwillkürliche Hühnergeräusche, Gesichtsverzerrungen, Stimmungsschwankungen und Haarweh auslöst – und das spricht allerdings für das Buch.

    Dennis DiClaudio: Der kleine Hypochonder. Lexikon der eingebildeten Krankheiten. Aus dem Englischen von Anne Uhlmann DVA, 256 Seiten, 14,90
    (Ab 25.9.)