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Für ein besseres Leben!

Er ist der lebensverliebte Schöngeist unter den Schriftstellern seiner Generation: für Hans Pleschinski ist das Schöne niemals nur läppisches Beiwerk grauer Alltagsfron oder gar Blendwerk ohne Tiefe und Substanz. Der Wahlmünchner, in den 70er Jahren in die von ihm gern als "Diwan der Republik" titulierte Isarmetropole gekommen, als viele andere sich in verrauchten Seminarräumen politisierter Universitätsstädte wie Frankfurt oder Berlin drängten, hatte jeher seine Vorliebe für den unprotestantischen Überschwang des Schönen, wo immer er zu finden sein mag.

Von Uwe Pralle | 15.07.2007
    Und für einen Schwärmer, dem alle Nüchternheit zuwider ist, gibt es Grenzen weder im Raum noch der Zeit, wenn er nach seinen Schwingungen sucht: Byzanz liegt dann ebenso nah wie die Bars um den Münchner Gärtnerplatz und das Barock Dresdens nicht ferner als die karge Schönheit der Heide im Blick aus der "Osthannoverschen Eisenbahn". Vielleicht ist sogar der Begriff des "Abendlandes" erst groß genug, um das Gefäß zu umreißen, aus dem Pleschinski das Schöne zu schöpfen sucht, setzte er 1995 in seinem Roman "Brabant" doch der Uniformierung des Globus eine Eloge auf die Vielfalt des altehrwürdigen Europa entgegen:

    Wir wollen nicht die Walze der Ex- und Hopp-Mentalität. Wir wollen nicht die zügellose, auf Profit getrimmte Medien- und Konsumgesellschaft, wie sie sich in den USA auszuprägen scheint. Als Kulturbund mögen wir nicht, dass sich der Globus im Dunst einer einzigen, nordamerikanisch akzentuierten Lebensform vereint, mit gleichen Symbolen und Produkten von der Südpolkappe bis nach Hammerfest: Fernsehen, Winzigweich-Microsoft, Warner Brothers. Amerikanisches, phantastisches Know-how scheint den Erdball, inklusive Lothringen, Gotland zu einer einzigen Reklamekugel, zu einer Entertainmentsteppe, zu einer sich überall gleichenden Oberflächlichkeit zu degenerieren: Was wir wollen, ist eine exquisite europäische Daseinshaltung, die es vielleicht erst noch zu entdecken gilt: Muße, Demut vor der Schöpfung, die Bewahrung einer Vielfalt sich einander gelassen widersprechender Lebensformen, wirklichen Individualismus, europäische Abgründigkeiten und ein diffuses, schönes ... Frohlocken! Dort den Schutz des Weltschmerzes, da das Jauchzen über eine ... Primel. Europa, - das ist langer Atem.

    So hatte Pleschinski in diesem "Roman zur See" damals die Passagiere der Windjammer "Brabant" tönen lassen, eines zum Hotel umgebauten Seglers, auf dem sie von der flämischen Küste aufgebrochen waren, um auf der anderen Seite des Atlantiks den Potomac hochzuschippern und in Washington dem Pentagon einen kräftigen Schuss vor den Bug zu geben - ebenso symbolisch wie närrisch jedoch nur mit einer Kugel aus der altertümlichen Bordkanone, also eher einem Spielzeug. Solche transatlantischen Zwiste spielen in dem "Kleinen Brevier für ein besseres Leben" jetzt allerdings keine Rolle, dem Pleschinski den Titel "Verbot der Nüchternheit" gegeben hat. Vielmehr sind seine Blicke darin vor allem auf deutsche Lebenswelten gerichtet, wobei sich der einst vom Ostrand der Lüneburger Heide nach München retirierte Ästhet nun als einer der wenigen seiner Zunft erweist, die auch in den sogenannten kleinen Formen zu glänzen verstehen. Erzählungen, Phantasiestücke und das, was in besseren Zeiten dieses Genres einmal "Feuilleton" hieß, enthält das Buch, dessen Titel mit Chuzpe anheimstellt, notfalls dem Grau-in-Grau der Nüchternheit eben mit dem finsteren Verwaltungsbeamtencharme eines Verbots zu Leibe rücken zu müssen.

    Warum waren Nordeuropäer nicht längst, zu ihrer eigenen Daseinserleichterung, südländischer geworden? Sie reisten schließlich fortwährend ins Mediterrane. Weshalb wurden sie im Norden wieder trübäugig, gehässig, verspannt bis zur Infarktgrenze? War es möglich, dass Menschen viel sahen, aber gar nichts lernten? Denn nach all den Urlauben, die Deutsche in Andalusien, auf Samos zugebracht hatten, hätte es auch in Baden-Württemberg zwanglose Tapas-Bars mit köstlichen Stärkungen, inmitten plaudernder Kundschaft, geben können. Zumindest das!

    Pleschinski macht kein Hehl daraus, wie sehr er die mediterrane Leichtigkeit schon immer der Verspanntheit des bundesdeutschen Alltags vorgezogen hat - wobei nachzuvollziehen ist, dass ihm aus dem Blickwinkel der norddeutschen Tiefebene einst schon München als mediterraner Vorposten erschienen war, auch wenn bei näherem Hinsehen dort später natürlich nicht alles dieser lichten Imagination standhielt:

    Mein Klangmünchen, schon fast an der Adria gelegen, sonnte sich unter blauem Himmel. Statuen zierten seine Firste, Spaziergänger flanierten plaudernd den Nymphenburger Kanal entlang, und in den Kammerspielen wurde streng, avantgardistisch, aber subtil die Seele ergründet und nach dem flüchtigen Glück des Menschen geforscht. München, in dem viele Filme, Kunst entstanden, war eine lichte dynamische Ergänzung zu sonstigen Mickrigkeiten und Verklemmtheiten bundesdeutscher Wirklichkeit. So schien es mir. Dass es in dieser Metropole, die damals das geteilte Berlin ersetzte und in der ich leben und mitschwingen wollte, jedoch auch tonal elendere Örtlichkeiten gab - Hasenbergl, dem offenkundig ein "e" fehlte, Pasing, das kalt und eng klang, Poing, das sofort an den Comicausruf "Boing!" erinnerte - übersah ich beim Blick auf den Stadtplan, kurz vor meinem Aufbruch, geflissentlich. Es war mir ja alles fremd. Ich wollte mit meinem Silberglanz im Kopf, Friedensengel! (statt martialischer Siegessäule und Hermannsdenkmal), in meinen imaginierten Süden, in eine kunstvoll heitere deutsche Modellstadt, wobei man natürlich stets etliche poltrige Vertreter der Staatsregierung und eines unterdrückungsfreudigen Klerus vom Ideal abziehen musste. Und Bayern, um die Landeshauptstadt herum, galt 1975 noch nicht als florierendes Bundesland, sondern schien Dumpfheiten zu bergen und profitierte von Norden her vom Länderfinanzausgleich. - Bremen zahlte lange für Ingolstadt.

    Realitätsvergessen sind Pleschinskis Blicke in diesen Feuilletons und Erzählungen bei allem schwärmerischen Idealismus also keineswegs. Trotzdem setzen sie die kleinen literarischen Formen nie den kruden Schwerkräften der Reportage aus. Vielmehr sind es Reisen kreuz und quer durch den bundesdeutschen Alltag seiner Lebenszeit, die statt ins Herz des irdischen Jammertals lieber ins Herz der Lebenslust führen wollen.

    Das irdische Paradies ist, wo ich bin,

    zitiert Pleschinski einmal Voltaires diesseitstrunkenes Credo, das jedem nach eigener Facon sein Glück auf Erden zu suchen empfahl und von strengen Sittenwächtern jedweder Couleur bis heute immer wieder als Menetekel moderner Egozentrik beargwöhnt wird. Genau solcher Hedonismus ist aber der Schlüssel dieses Buches. Seine Allgegenwärtigkeit darin zeigt nicht nur, dass Pleschinski, 1956 in Celle geboren und nur wenige Kilometer von der Zonengrenze entfernt im niedersächsischen Wittingen aufgewachsen, ein Kind der Bundesrepublik - oder noch genauer - eines des Wirtschaftswunders ist. Vielmehr verweist diese starke Betonung alles auf Lebenslust und irdische Glückseligkeit gerichteten Strebens auch darauf hin, dass in den Nachkriegsjahrzehnten hedonistische Mentalitäten so etwas wie den heimlichen Grundkonsens in der Bundesrepublik bildeten, und zwar aller Generationen bis heute. Denn attraktiv auf eine sehr viel sinnlichere Weise, als alle Politik es zu sein vermag, wurde die Bundesrepublik erst, als sich der Wohlstand ausbreitete und einer Mehrheit erstmals das Gefühl gab, dass Voltaires Credo auch für sie galt. Pleschinskis Buch ist geradezu eine Chronik, die das über mehr als vierzig Jahre verfolgt. Sehr schön schildert er etwa aus den Kindertagen dieser Wohlstandswelt in den 60er Jahren, wie sie in seiner Familie aussah.

    Mein Vater war an den geeigneten Tagen großzügig. Es verging kein runder Geburtstag, Martini-Markt im November, keine Konfirmation, an der nicht dreißig bis fünfzig Menschen, Onkel, Tanten, Kundschaft, dazu seine Kegelbrüder vom Klub Germania bewirtet wurden. Für die Gastereien wurde eine Stubenwand durchbrochen und vom benachbarten Innungsmeister Kurt Pertermann ein vorzüglicher Tisch mit Ausklapp- und noch zusätzlichen Anbaumöglichkeiten getischlert. Die nötigen Sitzgelegenheiten bestanden auch aus Küchenhockern und Worpsweder Stühlen aus der Rumpelkammer unterm Dach. Wir Kinder schleppten sie gern, denn das Räumen verhieß: Fest. Und vielleicht eine Mark von Tante "Lüttje Grete", die mit ihrer Mutter "Olle Grete" - beide verwitwete rundliche Damen sehr vif - bei uns Platz nahmen, zu Zungenragout und Wein von Mosel-Saar-Ruwer. Überhaupt: Speis und Trank und der Schnack mit geröteten Wangen hielten das meiste zusammen, waren der Leim zwischen den Individualisten, Nörglern und Falstaffen. Manchmal wurden für die Hausorgien die Zehn-Liter-Töpfe und Jahrhundertwende-Terrinen aus dem Keller geschleppt und eine Köchin, Frau Gerche, ins Haus geholt. Frau Gerche vom Lönsweg besaß die weißeste Haut, die ich je gesehen habe, über der weißen Schürze glänzend wie chinesisches Porzellan. Mit ihrem Kochlöffel oder der Fleischgabel verteidigte die ranke Kochkönnerin ihre Puddingsorten, Vanille und Mokka, die auf dem Fensterbrett abkühlten.

    Solche frugalen Bacchanale ragen offenbar auch noch Jahrzehnte später festlich aus dem ländlichen Alltag der 60er Jahre im Zonengrenzgebiet auf, wo alles ein wenig später ankam als anderswo, einschließlich der ersten Wirtschaftswunderreliquien

    Er war ein früher Beherrscher des ländlichen Wohnzimmers. Der Schwarzweißapparat hieß Präsident und stammte von der Firma Nordmende. Er stand auf vier schrägen Holzbeinen vor dem Gemisch aus Opas Ohrensessel, den geblümten Polstermöbeln, dem akkurat gestapelten Mokka-Service im Schrank und einer Fußschaukel, auf der man auch reiten konnte. Wegen der langen Umschaltpausen der ARD-Anstalten konnte das Fernsehen zur Qual werden. Die Familie saß bisweilen eine Stunde vor dem Pausenbild mit dem Schriftzug: Kurze Unterbrechung.

    Ungleich mondäner, wenn auch entsprechend kniffliger sind da schon die Lebensverhältnisse in der Familie einer gewissen Gieslinde Keßler, an deren Lebensstationen über einige Jahrzehnte hin Pleschinski in drei Erzählungen verfolgt, wie sie immer tiefer in ein allerdings "schwarzes Glück" hineingerät.

    Mutter und Peter verstanden sich prächtig. Und ihre Mutter sah mit ihren 53 Jahren aus wie neun Jahre jünger. Das machte das gepflegte und bewegte Witwenleben. Mutter hatte Muße, auch zwischen Herbst und Frühjahr sich ein-, zweimal in angenehmen Gefilden auszuruhen. Rotes Meer. Mit Halbpension in Kitzbühel. Oder immer wieder ihr angestammtes Madeira. Die Rentner und Frühpensionäre waren es heutzutage, denen die Welt zum Liegestuhlaufstellen auf den Kleinen Sunda-Inseln offenstand. Nur daheim stiegen für die Jüngeren die Mieten irgendwie ins Unermessliche, zerrann die Altersversorgung, war das Leben ein Würgegriff aus Faulfleischskandalen, Steuererhöhungen und immer tieferen Schlaglöchern in den Straßen. Mutter war flott. Ihre Mutter wurde im Grunde von Jahr zu Jahr souveräner. Waren es Dünenwanderungen, das Kraxeln durch Ruinenstädte diverser Völker, was ihren Waden die zeitlose Idealform verlieh? Das waren Cha-Cha-Cha-Beine.

    Mit einer solchen Mutter bleibt für die Tochter nur noch der triste Kehricht von Glück übrig. Denn statt auf den notorisch untreuen Schwiegersohn einzuwirken, mit dem sie sich so prächtig versteht, und so die kriselnde Ehe ihrer Tochter zu retten, lässt sich die Mutter lieber selbst mit dem Schwiegersohn ein. Der Tochter bleibt nur, zum eingefleischten Single zu werden:

    Wenn man für sich lebte, lernte man sich gerade durch Depressionen viel besser kennen. Wenigstens erfuhr man, dass man allein auf sich selbst bauen konnte. Das Alleinsein machte stark, es stählte, falls es einen nicht zerbrach. Und tauchte für den Einzelmenschen nicht ab und zu ein reinerer Genuss auf als für denjenigen, der etwas Zweites hinter sich her zerrte und ihm - in einer auszehrenden Dynamik - hinterdreinhechelte.

    So hört sich die Verklärung der Bitterkeit an, wenn in einer hedonistisch berauschten Wohlstandswelt nur noch Genuss zählt beim Kleinkrieg aller gegen alle um Glück. Auf andere Weise erfahren das in einer Erzählung auch die beiden befreundeten Optiker aus Hannover, die Pleschinski nach einem Kongress in München unschlüssig durch die Stadt streichen und sich das Leid mit ihren Frauen klagen lässt:

    Vor der Heiliggeist-Kirche blieb der blonde Jens Kröger stehen und sah seinem Begleiter ins Gesicht, der hinter der Brille blinzelte: "Es wird allmählich unüberwindlich", sprach Kröger leise: "Karin, meine, war immer schon sportlich, beinahe militärisch zackig." - "Ja, ein bisschen." - "Du weißt, sie hat immer gejoggt. Dann fing das mit dem Basketball an. Nun gut. Aber dieses Gefühl, Hinnerk, neben einem Energiebündel zu leben, das morgens Kräutertee trinkt, zwischendurch sich Müsliriegel einschiebt, das lachend in fünf Minuten alles um sich im Griff hat: ich leide ein bisschen. Und nun hat sie sich beim Stadtsport für Karate angemeldet. In einem Jahr haut sie bei Bedarf im Vorübergehen den Küchentisch in zwei Stücke ..." "Karin lebt eben sehr körperbewusst", nickte der kleinere Optiker und strich sich übers kurzgeschorene dunkle Haar. "Das ist ja auch fabelhaft. Karin schmeißt den Laden besser als ich. Sie besucht zwei Fremdsprachenkurse. Aber ich sage dir ... bald ... fürchte ich mich vor ihr! Sie lässt sich von mir beraten, aber nichts sagen. Machen wir schon, heißt es nur. Hinnerk Bartels legte dem Freund die Hand auf die Schulter und senkte ein wenig den Kopf. "Sie wird die Amazonenkönigin. Und ich bin ihr Pferd."

    Bei dieser Aussicht bleibt den beiden ins Mark des männlichen Ego getroffenen Optikern, zutiefst verschreckt von rundum patenten Frauen, die ihnen allmählich das Heft aus der Hand genommen haben, so wie es in wohlstandsgesättigten Hochzivilisationen ja keineswegs selten ist, eigentlich gar nichts anderes übrig, als sich aneinander zu halten - und genau das tun sie hier auch schließlich, dem Glück dann eben ohne Amazonenköniginnen im gemeinsamen Doppelzimmer entgegen. Ob diese Prosastücke nun in der Münchner Schwulenszene oder anderen Paarungszonen literarisch wildern - entstanden ist so ein diskreter Bilderbogen aus dem bundesdeutschen Sinnesleben, das in Pleschinski sozusagen einen zeitgenössischen Seneca gefunden hat. Kein Wunder, dass er für diese Unterströmungen der Zeitwelt ein Sensorium hat, gehört er doch zu einer Generation, der die Lockerung einstiger Tabus als einer der ersten zugute kam, wie die Reminiszenz an eine morgendliche Zugfahrt zur Schule zeigt:

    Gedränge an den Türen und auf dem Triebwagengang, Leberwurstduft von Schulbroten, der auch ins Aktentaschenleder sickerte. Arzttöchter trugen neue schicke Cordhosen mit weitem Schlag, knöchellange Maxi-Mäntel. Nach dem hastigen Frühstück zu Hause wurden nun Nuts, Mars, ein Apfel verzehrt. Ab der 7. Klasse wurde Oswalt Kolles Sexuallexikon offen oder verdeckt herumgereicht. Erröten bei der einen auf ihrem Zugsitz, flinkes heimliches Zurückblättern bei Gerd Schuster vom Fuhlenriedweg. So unverrückbar unterschiedlich waren die Geschlechter! Und derartig überwältigend bodenlos, was sie miteinander trieben? Sogar die Eltern einst und noch immer? Der Bürgermeister, der Papierwarenhändler Stosch und die Quiz-Assistentinnen von Hans-Joachim Kulenkampff und Vico Torriani ebenfalls? Zumeist in einem kleineren Abteil, auf Stammplätzen saßen auch schon unsere blutjungen Liebespaare, knutschen sich, wenn der Schaffner fort war, und wurden von Sextanern angestiert, die immer wieder verscheucht werden mussten.

    Natürlich ist "Verbot der Nüchternheit" gleichzeitig eine Autobiographie Pleschinskis, und wenn sie auch seine geistigen und sinnlichen Prägungen nur punktuell darstellt, so fehlt bei einem Schöngeist wie Pleschinski der wichtigste Aspekt darin jedenfalls nicht: nämlich wie sich sein Schwärmen für alles Schöne zuerst entzündet hat - und das geschah, wie sollte es anders sein, in seiner Geburtsstadt:

    Es war die erste "Stadt", in die meine Oma mich mitnahm. Wir übernachteten bei Tante Luise, um deren Wohnung der Schokoladenduft der Trüller-Keksfabrik wob, welche die Konfektmarke Celler Ruhm herstellte. Prägender aber für mich als Landkind und gelegentlichen Besucher wurden andere Phänomene. Ich lernte in Celle Heimweh und bittere Verlorenheit kennen. Ich weinte im Kepa-Kaufhaus an der Hand einer Verkäuferin, die in ein Mikrophon rief: "Hans hat seine Oma verloren! Bitte holen Sie ihn an der Kasse ab!" Ich wurde wieder aufgelesen und bekam im Café Kies ein fettes Stück niedersächsischer Torte. Nichts jedoch übertrumpft an Wirkung Omas damalige Aufforderung: "Heute besichtigen wir das Schloss". Seit jenem Sommertag um 1965 wurde das Wort Schloss für mich zum Schlüssel für Kultur, Lebensart und erstrebenswerte Zivilisation. Das Celler Schloss ist ursprünglich eine Wasserburg im Stil der Weserrenaissance. Italienische Giebel, inmitten der Heidebrache, zieren seinen Ostflügel. Im 17. Jahrhundert verschönerten die Herzöge von Lüneburg-Braunschweig den viertürmigen Klotz. Als Kind durchdrang mich in den Prunkräumen zum ersten Mal: Pracht, der Luxus umgoldeter Spiegel, Nymphen, die auf Deckengemälden schweben. Die Suche nach äußerer Schönheit hat mich seit meinem Umhertappen unter den Kristallüstern nicht losgelassen. Aus einem flüchtigen Besuch entwickelte sich Bleibendes. Geschichte mit ihren Geschichten wurde auf den roten Teppichen lebendig.

    Hans Pleschinski, Verbot der Nüchternheit. Kleines Brevier für ein besseres Leben. Verlag C.H. Beck, München 2007, 263 Seiten