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Für Kluge Leser

Zu finden ist hier manch Gelungenes auf 564 Kluge'schen Seiten, aber eben auch vieles, das der Konservierung zwischen Buchdeckeln nicht mehr bedarf, trotz der künstlerischen Umformung in den Kluge-Sound. Wer als Leser freilich die Beständigkeit des Autors teilt, sich tunlichst vom digitalen Strom fernhält, gleichsam mit Alexander Kluge alt geworden ist, der findet hier die geschätzte Qualität unvermindert vor.

Von Florian Felix Weyh | 19.02.2012
    "In Zürich wollte ich das Haus von Thomas Mann sehen. Ich umschlich das Gebäude, sah ein Kind auf einem Dreirad fahren. Ich wagte nicht, an der Haustür zu klingeln. Was hätte ich als Grund meines Besuches vorbringen sollen? Ich bin mit Erfolg geprüfter Rechtskandidat, bereite mich auf den Referendardienst in der Justizverwaltung des Landes Hessen vor, möchte Dichter werden und erbitte Ihre Ratschläge. Ihre Werke und die von Thornton Wilder habe ich in der Bibliothek des Amerikahauses in Marburg/Lahn vollständig gelesen. Gern würde ich wie Sie schreiben. Versuche haben ergeben, dass mir das nicht gelingt. Meist werden die Texte kürzer."

    Leichte Untertreibungen gehören zum Verhaltenskodex des Gentleman. Niemals wird er zu einer Lüge greifen, denn tatsächlich: Wer 402 Geschichten in einem Buch unterbringt, kann kein ausschweifender Novellist sein. Kurz sind seine Texte, aufs Essenzielle eingedampft, und eigentlich müsste er eher Johann Peter Hebel denn Thomas Mann als Vorbild nennen. Andererseits ist da die schiere Buchlänge von 564 Seiten - und ein Lebenswerk, dessen Gesamtumfang imponiert. Wer mehr geschrieben hat, Thomas Mann oder Alexander Kluge, mögen die Fliegenbeinzähler der Literaturwissenschaft ermitteln. Doch dass Kluge den in seiner Jugend bewunderten Nobelpreisträger längst überholt hat, erscheint plausibel. Mit achtzig Jahren ist Alexander Kluge von den deutschen Großschriftstellern derjenige, der sich Größe – im Sinne einer monumentalen, universalen Welterfassung – früh auf die Fahnen schrieb und danach niemals mehr ausreden ließ. Genregrenzen oder kleinliche Überlegungen zur Marktfähigkeit intellektueller Bücher waren seine Sache nie – so wie er jahrzehntelang das proletige Privatfernsehen mit seinen versponnenen, feingeistigen Interviewsendungen bereicherte oder, wie es die dortigen Manager sahen, von Publikum entvölkerte. Beharrungsvermögen und Alexander Kluge sind nachgerade Synonyme.

    "Im Jahr 1945 wäre ein Sechzehnjähriger von einem vielleicht 26jährigen Major befehligt worden, der seine Leute noch über die Elbe in Richtung Westen zu führen versucht hätte. Alle Herausforderungen sind anders als im Jahr 2011 und in den zwölf Jahren davor. ( ... ) Was unterscheidet die Erzählung von Lebensläufen im 21. Jahrhundert von denen in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts? Gelten die Unterschiede nur für die Zeit und ihre Erlebnisdichte? Oder erzählen die Zeiten in ganz unterschiedlichen Sprachen?"

    Die Fragen wären programmatisch, stünden sie am Anfang der neuen "Lebensläufe" aus dem 21. Jahrhundert. Doch sie stehen im letzten Fünftel des Buches und werden damit rein rhetorisch. Alexander Kluge hat sie auf 487 vorangegangenen Seiten längst beantwortet: Nichts unterscheidet die Erzählung von Biografien im 21. Jahrhundert von denen im 20., jedenfalls nicht bei ihm. Seine 1962 in die Welt gebrachte, damals revolutionäre, sich über alle Konventionen hinwegsetzende Methode fiktiver Dokumentarliteratur, die Menschenleben eher fragmentarisch als in psychologischen Bögen begreift und historische Begründungszusammenhänge mehr liebt als die Willensfreiheit literarischer Figuren, diese Methode ist auch 2012 in den Augen des Autors keineswegs veraltet. Während 1962 die historischen Chiffren "Stalingrad" und "Kriegsende" hießen, heißen sie heute "Fukushima" und "Eurokrise", was vordergründig eine gewisse Beschleunigung signalisiert. Doch auch schon in den Ur-Lebensläufen wird die Realität der 60er-Jahre gewürdigt. Kluge war nie ein rückwärtsgewandter Chronist, sondern einer, dem der zeitliche Ablauf von Geschichte nicht einleuchtet. Auch 2012 sind die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs für ihn eine präsente, bewusstseinsprägende Realität.

    "Die Wirklichkeit heilt jede Wunde. Aber sie löscht keine Eindrücke."

    ... heißt es sehr früh im Buch, wobei die kleine sprachliche Verschiebung des Sprichworts kein Zufall ist: Bei Kluge kann die Zeit nichts heilen, weil die Zeit nicht fließt – sie gerinnt in ihrer Allgegenwärtigkeit zur statischen Wirklichkeit, zu einem Gefängnis, in dem man sich behaupten muss. Das fällt den kleinen Menschen, die sich von historischen Ereignissen überrollt sehen, nicht eben leicht. Der Dichter leistet Hilfestellung, indem er, Stichwort "Fukushima", auf ganz große Zusammenhänge verweist:

    "Das Beben, das Japans Nordinsel um vier Meter nach Osten versetzte, war mit seinem Glockenschlag noch in den Schweizer Bergen zu messen. Der ganze Erdball empfing diesen Puls. Dies sind – nach Johannes Kepler – die Akkorde des Planeten Erde, wie er sie in seinem Buch aufgezeichnet hat. Einige der Töne folgen aufeinander im Abstand von tausend Jahren, und sie haben einen unterschiedlichen Klang, wenn sie sich wiederholen. Andere dieser Schläge sind kürzer getaktet. Das Restrisiko (an sich unhörbar) ist nach Keplers Behauptung indirekt zu hören, weil es nach Art einer schalltoten Wand reagiert. Während es nur ein MENETEKEL mit überliefertem Wortlaut gibt, sind solche toten Winkel der Wahrnehmung und die großen, als Erhabenheit und als Gefahrensignale deutbaren Glockenschläge des Erdballs KOSMISCHE MUSIK."

    Ein bisschen erinnert das an Karl-Heinz Stockhausens Aufwertung des World-Trade-Center-Anschlags zur künstlerischen Aktion und gehört, jenseits moralischer Schelte, in die Kategorie "unterkühlter Ästhetizismus": Ob menschengemachte oder natürliche Katastrophe – was als Material zur Verfügung steht, zählt in dieser Perspektive mehr als individuelles Leid. Man darf eben nur nicht mitten in dieser Welt stehen, im Zentrum des Erdbebens oder des Tsunamis. Erstens weil man dann von der "kosmischen Musik" einfach hinweggeputzt wird und zweitens, weil man, sollte man überleben, ein zu emotionales Verhältnis zu diesem Ereignis hätte.

    "Karl Marx gehörte (wie Karl May, Immanuel Kant oder die Obersten a.D. Däneke und Mangold) zu den Fernbeobachtern. Er reiste nicht nach Mittelengland und beobachtete an Ort und Stelle, sondern exzerpierte Parlamentsprotokolle, Berichte von Fabrikinspektoren, wissenschaftliche Berichte und Zeitungen in sorgfältiger Weise."

    "Fernbeobachter" ist ein schönes und für Alexander Kluge typisches Wort – so wie es auch typisch für ihn ist, Marx und Kant im gleichen Atemzug mit Karl May zu nennen und dieser Troika auf Augenhöhe zwei erfundene Figuren beizugesellen. Während sich meist unschwer an den Namen erkennen lässt, wer die Fiktion und wer real ist, so wäre es doch manchmal verlockend, dass das Erfundene und die Wirklichkeit sich deckten:

    "Lange hatte Ilse von Schaake mit ihrem russischen Geliebten gelebt, der von Berlin aus für das Wissenschaftszentrum Akademgorodok eine Untersuchung schrieb über die POTENTIALE DER REVOLUTIONÄREN VERÄNDERUNG IM WELTMASSSTAB. Die Unterfrage lautete: Welche Kräfte in den Menschen neigen zur Assoziation, welche verhindern eine Vereinigung der Kräfte? ( ... ) Sie kommt zu folgendem Ergebnis: Es gibt starke Kräfte in den Menschen (meine Familie, meine Nachkommen, mein Eigentum), die sich hermetisch auswirken. Sie lassen keine umfassenden Assoziationen zu. Für Revolutionierung sind sie ungeeignet. Ihnen stehen schwächere und schwache Kräfte gegenüber (das Interesse an Physik, das an Logik, all das, was ich freiwillig von mir und meinen Lieben verkaufen würde). Sie lassen sich rasch vereinigen und bewirken langfristig die gesellschaftliche Veränderung. Auch die Evolution der Modernität geht auf solche schwachen Kräfte zurück, meinte Ilse von Schaake. In der Evolution bringen ausschließlich schwache Kräfte schwache Veränderungen hervor, die sich zu den großen Entwicklungsschüben addieren. ( ... ) Bis 2018, der 500. Wiederkehr der Reformation in Wittenberg, will Ilse von Schaake das Werk abschließen."

    Das klingt nach einem durchaus lohnenswerten Projekt. Aber es ist nicht zu erwarten, dass sich Ilse von Schaake von ihrem Erfinder emanzipiert, also Alexander Kluge komplett in ihre Haut schlüpft, um 2018 dieses umfassende geschichtsphilosophische Werk vorzulegen. Ihm genügt seit 50 Jahren die aphoristische, anekdotische oder theoriegesättigte Skizze, die oft einen brillanten Gedanken enthält, ihn in einer Pointe zündet (oder zuweilen auch verpuffen lässt) und im weiteren Text nie mehr erwähnt. Literarische Kluge-Injektionen waren daher schon immer eine kurzzeitig aufputschende Droge, ein Wachmacher für die Hirnnerven, doch ihr Reiz fiel um so größer aus, je singulärer diese Art von Literatur war. Nein, es gibt keine Alexander-Kluge-Epigonen, zumindest wüsste ich von keinem, aber es hat sich in der Welt des Lesens etwas verändert, was diesen vorläufigen Schlussstein im Kluge'schen Oeuvre anders wahrnehmen lässt als die ähnlich gearteten Bausteine zuvor. Hier nun ist es eine Frage des Anstands, die Position des Fernbeobachters zu verlassen, die ja der Kritiker stets einnimmt, um seine Person vor Einschlägen zu schützen. Obwohl mir, Jahrgang 63, die Ur-Lebensläufe notgedrungen erst zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung begegneten und da schon die Aura des modernen Klassikers trugen, beeindruckten sie mich als junger Mensch nachhaltig: So konnte man auch schreiben, so unverhohlen anti-erzählerisch, nicht innerlich, sondern krass äußerlich, so frech alle Leseerwartungen auf Konsistenz, Spannung, Psycho-Logik brechend, so fröhlich mit ideologiebelasteten Denkern jonglierend, kurzum so provokativ freigeistig in jede Richtung. Ich wurde Kluge-Fan, hielt ihm über alle Bücher hinweg die Treue, auch wenn sie manchmal verstörten wie etwa alle Koautoren-Produkte mit Oskar Negt, die purem akademischen Dadaismus frönten. Doch nun, beim krönenden Abschluss des "Fünften Buchs" überfiel mich der lähmende Verdacht: Das geht nicht mehr! So geht es nicht mehr. An Kluge hat sich nichts geändert; er ist, wie gesagt, ein Beharrungskünstler. Warum soll das also nicht mehr gehen?

    "Abbildung: Rainer Werner Fassbinder beschäftigte sich eine Woche lang mit anderen Projekten, statt mit mir den Film über die Scheidungen unserer Eltern anzufangen, auf den sich unsere Teams vorbereitet hatten. Er konnte sich nicht entschließen, die Rolle seiner Mutter in dem Ehekonflikt mit seiner wirklichen Mutter zu besetzen (die ja Schauspielerin war), hielt es aber für ebenso unmöglich, stattdessen eine Schauspielerin aus seinem Team mit der Rolle zu betrauen."

    Ein Foto von Rainer Werner Fassbinder, darunter diese Zeilen – typisch für Kluges Montagetechnik, um die Hermetik des physisch im Buch gefesselten Textes durch Bilder aufzubrechen. Das war lange ein Alleinstellungsmerkmal Kluge'scher Prosa, ja signalisierte deren avantgardistische Modernität. Nur: Heute ist Text nicht mehr physisch ans Buch gefesselt. Als moderner Mensch nehme ich an sozialen Netzwerken teil, lasse auf einem separaten Bildschirm neben mir einen interessanten und oft hoch intellektuellen Stream laufen, der genau das tut, was Kluge schon immer tat, Bilder und Text mischen, Literaturzitate mit eigenen Gedanken verblenden, Dokumentation und Fiktion ineinander übergehen zu lassen. Ich kann zurückscrollen, wenn ich wegen der Konzentration auf meine Arbeit einen Beitrag verpasse, aber dennoch ist der Text flüchtig und pocht nie auf Erhabenheit und Ewigkeit wie bei Kluge. Plötzlich las ich dessen Miniaturen in Konkurrenz zu den vielen Textfragmenten im Stream, und sie verloren jäh an Impressivität.

    "Ein Raubtier, das sich von Adlern und Löwen ernährt, braucht eine Heimat von der Größe ganz Schottlands. So wie Macbeth und der 'Zug der Schattenkönige', die er ermordete, eine Unterwelt brauchen, die von Schottland bis Gibraltar reicht. Dieser Raumbedarf setzt der Raubtiergröße innerhalb der Evolution Grenzen."

    Im gedruckten Buch bleibt so etwas gezwungenermaßen eine ex-cathedra-Äußerung, auch wenn an der Abfolge der drei Sätze wenig stimmt. Erstens gibt es kein Raubtier, das gleichermaßen Löwen wie Adler verspeist – falsche Prämisse –; zweitens hat die Ableitung zu Macbeth als menschlichem Raubtier keinerlei kausale, sondern nur eine analoge Verbindung über die Wortbrücke "Schottland", wobei drittens auch die Konklusion eines sich selbst begrenzenden Raubtierbestands ins Leere läuft, da ja die Prämisse des löwen- und adlerfressenden Untiers eine reine Erfindung ist. Kluge will natürlich nur den Satz homo homini lupus est geistvoll variieren und zugleich suggerieren, der Mensch sei das einzige Raubtier, dem die Evolution nicht beikommt. Im Stream, der modernen Form des intellektuellen Austausches, würde über die unlogischen Spiralwindungen vielleicht debattiert – oder der Beitrag dem schnellen Vergessen anheimgegeben. Kluges auch herstellerisch mit Schmuckschuber opulent gemachtes "Fünfte Buch" konserviert einen schwachen Einfall für die Ewigkeit. Gewiss, den Stream als Referenz heranzuziehen, ist ungerecht gegenüber den Autorenintentionen. Doch seit wann scheren sich Leser darum? Sie sind egoistisch auf ihren eigenen Mehrwert bedacht. Zudem verläuft der Vorgang unbewusst, ich versuche nur, ihn offenzulegen: Ohne dass es einer von uns beiden gewollt hätte, ist Alexander Kluge bei mir in eine Rezeptionsfalle geraten. Allerdings befördert Kluge, wohl ebenfalls unbewusst, diese neue Rezeption immer wieder:

    "Botschafter Holbrooke spürte eine Hitze und danach einen unerträglichen Schmerz in der linken Brustseite. Natürlich dachte er an das Vorzeichen eines Herzinfarkts."

    Wenn im Buch völlig unvermittelt der Tod des US-Diplomaten Richard Holbrooke geschildert wird, erschließt sich der Sinn dieser agenturnahen Berichterstattung gar nicht. Hundertfünfzig Seiten später blitzt ein zweiter Holbrooke-Vermerk auf, der die frühere Bekanntschaft Kluges mit dem Botschafter verrät, wobei der vorangegangene Sterbetext dennoch alle Erschütterung missen lässt. Nun ist es typisch für Patchworkinformation in sozialen Netzen, dass sich kein zeitlich kongruentes, schlüssig aufeinander bezogenes Informationsmuster mehr einstellt, und dass Alexander Kluge dies schon lange vor der Ahnung eines Internets als literarisches Prinzip benutzte, schützt ihn jetzt nicht davor, als Buchautor wie eine versprengte Nachhut zu wirken. Zu finden ist manch Gelungenes auf 564 Seiten, aber eben auch vieles, das der Konservierung zwischen Buchdeckeln nicht mehr bedarf, trotz der künstlerischen Umformung in den Kluge-Sound. Wer als Leser freilich die Beständigkeit des Autors teilt, sich tunlichst vom digitalen Strom fernhält, gleichsam mit Alexander Kluge alt geworden ist, der findet hier die geschätzte Qualität unvermindert vor. Als Highlight mag ein weitgehend unbekanntes Treffen zwischen den Philosophie-Antipoden Theodor W. Adorno und Niklas Luhmann gelten:

    "Vereinbart war ein gemeinsames Abendessen im Weinlokal »Rheingold« gegenüber dem Bühneneingang der Oper. Luhmann hielt die Einladung für eine Höflichkeitsgeste Adornos; wenn er ihn schon in diesem Semester vertrat, konnte man nicht gut darauf verzichten, sich zu sehen. Es erwies sich aber, dass Luhmann irrte. Adorno hatte nicht aus Gefälligkeit, sondern in einer Situation der Lebensnot diesen Kontakt gesucht. ( ... ) Die Geliebte habe ihn verlassen. Jedem, der es anzuhören bereit war, berichtete Adorno in diesen Tagen sein Erlebnis. ( ... ) Es war offensichtlich, dass die Geliebte, die in einer anderen Stadt lebte, sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand und von einem wohlhabenden Musikschaffenden umworben wurde. Sie hatte sich extrem beleidigend geäußert, weil ihr die Trennung von Adorno wohl schwerfiel. Oder aber sie war eine Natur, die mit Entscheidungen und Trennungen nicht vertraut war und schon deshalb zu einem falschen Ton in dieser Situation neigte. Luhmann riet zum Angebot einer Apanage, einer großzügigen wirtschaftlichen Ausstattung der Freundin. Dann könne über eine Periode der Freundschaft hinweg die frühere Intimität erneut gesucht werden. Die Apanage sei nicht in einem Verhältnis von Leistung und Gegenleistung darzustellen, sondern als eine Äußerung der Treue, die Generosität gegen Beleidigung setze und auch Treue der anderen Seite verlange."

    Da ist er wieder, der Fernbeobachter, der mit kühler Distanz Geschichte als Experimentierfeld des Weltgeists betrachtet. Diesen Weltgeist lassen menschliche Schicksale kalt, und so muss der Einzelne nach Strategien suchen, sich unter seinem Adlerblick als wahrnehmbares Individuum zu behaupten.

    "Noch im April 1945 ergatterte jeder von uns Schülern eine Munitionskiste aus dem Bestand des geplünderten Flugplatzes Halberstadt. In die Metallkiste paßten ursprünglich fünf bierflaschengroße Geschosse, die aber bis Kriegsende den Weg aus den Rüstungsbetrieben in dieses Behältnis nicht gefunden hatten. Der Deckel der Kisten besaß einen Verschluss, an dem sich ein kleines Vorhängeschloß anbringen ließ. In meiner Kiste, die ich bis 1962 besaß, waren anfangs eine Flasche Pfefferminzlikör und einige Scheiben Brot verwahrt, ab Juni 1946 Geldscheine und ein Schweizer Fünf-Franken-Stück. Drei Umzüge überlebte dieses Symbol des Eigentums, dessen Inhalt praktisch nie genutzt wurde. Die verwahrten Scheine waren inzwischen entwertet, und doch hatte die Idee, dass die Kiste einen Schatz verwahrte, einen emotionalen Sinn. Ich glaube, das war der Grund unseres Beutezuges vom April 1945: ein Eigentum zu finden, das bleibt."

    Und als die Kiste weg war, mag man vermuten, begann die Geschichte des Schriftstellers Alexander Kluge. Ein bleibendes Eigentum zu finden, hieß in seiner Generation immer noch: Bücher schreiben. Jüngere müssen sich etwas Besseres ausdenken.

    Alexander Kluge: "Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe." Suhrkamp Verlag, 564 Seiten, 34,95 Euro