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Für mehr Gelassenheit und weniger Schubladendenken

Navid Kermani, deutsch-iranischer Orientalist mit muslimischem Hintergrund und abendländischer Prägung, setzt sich in seinem Essay über "Deutschland und seine Muslime" mit den Fundamentalismen der Zeit, mit religiös begründeten Attentaten und dem Moscheebau in Köln auseinander. Dabei stellt er auch fest, dass Deutschland eigentlich ein weltoffenes Land ist.

Von Detlef Grumbach | 17.09.2009
    "Dass Menschen gleichzeitig mit und in verschiedenen Kulturen, Loyalitäten, Identitäten und Sprachen leben können", stellt Navid Kermani zu Beginn seines Essays fest, "scheint in Deutschland noch immer Staunen hervorzurufen." Er fährt fort: "Dabei ist es kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme."

    Das Innen, wo wir zu Hause sind, und das Außen, das Eigene und das Fremde, das Wir und das Sie werden meist sauber getrennt, wenn man sich sicher fühlen will, wenn es um die Bestimmung der Identität geht, der Identität der Gruppe: Mal geht es um den Fußballverein, mal darum, dass deutsche Moslems eine Moschee in ihrer Stadt bauen wollen, dass Arbeitnehmer ihre Rechte gegen die Eigentümerseite vertreten oder Opelaner die Rettung ihrer Firma fordern, egal, was der Vorstand und die Kassiererinnen von Karstadt dazu sagen.

    Die Beispiele zeigen: Identitäten, die Kriterien für Einschluss und Ausschluss, sind nicht starr, sie sortieren sich in immer neuen Kontexten immer wieder neu: national, regional, sozial, religiös, nach Geschlechterzugehörigkeit oder sexueller Orientierung. Was die aus den USA nach Europa gekommene Queer Theory und die daraus abgeleitete Queer Politics über die Konstruktion von Identitäten und ihre politischen Folgen oft etwas umständlich formuliert, ist in gewisser Weise nichts anderes als eine weit verbreitete Alltagserfahrung.

    Navid Kermani, der deutsch-iranische Orientalist mit muslimischen Hintergrund und abendländischer Prägung, Arztsohn, Intellektueller und Fußballfan, Wissenschaftler und Prosaautor, demonstriert dies an der eigenen Person: War er richtig zu Hause in seinem siegerländer Elternhaus, wo er die Eltern ganz selbstverständlich gesiezt hat und ihm das dann doch komisch vorkam, wenn seine Mitschüler das mitbekamen? War er zu Hause in der bürgerlich-intellektuellen Nachbarschaft, auf dem Fußballplatz, wo er eher bei den proletarischen Jugendlichen zeigen musste, wer er war, sprich: ob er Tore schießen kann? Wie fremd fühlte er sich der gerade dort, wenn sein Vater ihn mit dem Mercedes zu Spiel brachte und die Väter der Kameraden im Opel Kadett vorfuhren?

    "Grenzverkehr" nennt Navid Kermani das erste Kapitel seines Essays über "Deutschland und seine Muslime" und fügt eine weitere Erfahrung hinzu: Fuhr er nach Hause, wenn er mit den Eltern die Familie in Isfahan besuchte? Ja, lautet die Antwort, bezogen auf die engste Familie, bürgerlich-intellektuell wie ihr deutscher Ableger, nein lautet sie, wenn er sich aufmachte, die Stadt zu erkunden.

    Identität, so Kermani, ist "per se etwas Vereinfachendes, etwas Einschränkendes". Das im Alltag nahezu selbstverständliche Changieren zwischen verschiedenen Bereichen wird jedoch allzu oft ausgeblendet, wenn es um den Dialog zwischen den Deutschen und den Muslimen geht. Drei Millionen Deutsche müssten ein Selbstgespräch führen, stellt er beinahe sarkastisch fest. Sie sind Deutsche, sie sind Muslime. Warum geht das so oft unter, warum wird die Integrationsdebatte fokussiert auf die Religion, warum entwickeln sich auf beiden Seiten Fundamentalismen, die so wirkungsmächtig sind, dass sie Alltagserfahrungen auszuhebeln im Stande sind?

    Denn Deutschland, so stellt Kermani ebenfalls fest, ist ein weltoffenes Land. Sind Fundamentalismen Ausdruck der Orthodoxie oder sind sie Ausdruck ihrer Krise? Die neue Religion der kleinbürgerlichen Weltmitte, so Kermani, wird in den Shopping Malls und Hyper One-Tempeln zelebriert. Und diese sehen überall auf der Welt gleich aus. Sie verleihen keine Identität, also berufen sich die Ideologen auf das Vergangene, das Altbewährte, auch wenn dieses Altbewährte ganz anders ist als sie es sich zurechtbiegen. Sie können es sich jedoch zurechtbiegen und treffen auf offene Ohren, wenn Menschen sich verunsichert oder marginalisiert, bedroht oder missachtet fühlen. Wegen ihrer Religion, ihres sozialen Status, ihrer Lebensbedingungen. Wenn sie nicht souverän in ihren "verschiedenen Kulturen, Loyalitäten, Identitäten und Sprachen leben können".

    Navid Kermani setzt sich in seinem Buch auseinander mit den Fundamentalismen der Zeit, mit religiös begründeten Attentaten, dem Moscheebau in Köln, dem Fall des in Guantanamo inhaftierten deutschen Staatsbürgers Murat Kurnaz, mit der Situation des Neben- und Gegeneinander in anderen, multi-religiösen Gesellschaften wie beispielsweise Indien. Da hat er sich aber viel vorgenommen für knappe 170 Seiten Text, könnte man argwöhnen. Doch nichts da! Kermani will das alles gar nicht erklären, er beobachtet, findet zielstrebig den Kern der Debatten, argumentiert klug und pointiert für mehr Gelassenheit, Akzeptanz, weniger Schubladendenken.

    Vor allem aber besticht sein kleines Büchlein dadurch, dass er immer wieder erzählt, von sich spricht, von seinen Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind nachvollziehbar. Sie zeigen aus der Position des Außenseiters, eine queren Existenz, könnte man auch sagen, welche Freiräume und Möglichkeiten ein Leben jenseits solcher Schubladen-Identitäten eröffnet, wie anstrengend es manchmal auch sein kann. So ist dieses Buch über Deutschland und seine Muslime wesentlich mehr als nur ein intelligenter Beitrag zur Diskussion. Es lässt den Leser staunen und macht den Zipfel einer realen Utopie sichtbar, in der diese Diskussion überflüssig wird.

    Und Kermani? Fühlt er sich nun eher als Iraner oder eher als Deutscher? Wo ist er zu Hause? Das sind die Fragen, auf die er gerade noch gewartet hätte. "Ja", sagt er dann doch, "Hölderlin ist Heimat, eindeutig – oder der 1. FC Köln." Damit hat er wenigstens schon zwei zur Auswahl.