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"Für mich hat es nie eine sozialliberale FDP gegeben"

Der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff hat lange Jahre das Gesicht seiner Partei geprägt. Er war gleich in zwei verschiedenen Bundesregierungen - unter Helmut Schmidt und unter Helmut Kohl - Bundesminister für Wirtschaft sowie von 1988 bis 1993 Bundesvorsitzender der FDP. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag wurde er 1999 Beauftragter des Bundeskanzlers für die Verhandlungen über Art und Höhe der Entschädigung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter.

Moderation: Günter Müchler | 25.10.2007
    Günter Müchler: Graf Lambsdorff, Sie sind in Aachen geboren, Ihre Familie hatte aber ihre Wurzeln im Baltikum, alter baltischer Adel. Was verbindet Sie heute noch mit den baltischen Staaten?

    Otto Graf Lambsdorff: Erstens ist es richtig, aber nur teilweise, denn meine Mutter stammt aus Aachen, also von mütterlicher Seite her stamme ich aus Aachen. Mit den baltischen Staaten verbindet mich natürlich die Tatsache, dass es eine lange Geschichte auch meiner Familie in den baltischen Staaten gibt, dass die baltischen Staaten vor der Wiedervereinigung und nach der Wiedervereinigung für uns ein besonderes Problem waren, mir auch ein persönliches Bedürfnis, mich darum zu kümmern. Ich habe das auch getan, vor allen Dingen in Estland und auch in Lettland. In Lettland war meine Familie zu Hause. Der erste unseres Namens, der überhaupt im Baltikum aufgetaucht ist im 13. Jahrhundert, tauchte in Estland auf. Also ich habe diese Länder auch deswegen bewundert, weil sie aus eigener Kraft ohne große finanzielle Zuwendung von einem starken Bruder sich aus der Misere der staatlichen Planwirtschaft - von der Diktatur mal ganz zu schweigen, die sind sie ja schnell los geworden - herausarbeiten mussten und herausgearbeitet haben. Insbesondere Estland hat bewundernswerte Leistungen vollbracht. Aber auch in Lettland ist es vorwärts gegangen. Und in letzter Zeit zeichnen sich eigentlich beide Länder durch ein erfreuliches Maß an politischer und auch wirtschaftlicher Stabilität aus.

    Müchler: Mobilität ist etwas, das zu unserer Zeit gehört. Gerade die jungen Menschen nehmen sie wie selbstverständlich wahr. Anders Ihre Generation. Viele Ihrer Generation hatten gar keine Wahl, sie wurden vertrieben durch den Krieg, haben ihre Heimat verloren. Was bedeutet Heimat heute noch?

    Graf Lambsdorff: Heimat, das sollte jeder für sich selber unterschiedlich beantworten. Für mich ist das gar nicht so ganz einfach zu beantworten. Die Heimat meiner Familie war wie gesagt Hunderte von Jahren das Baltikum, Kurland. Meine Heimat war viele Jahre lang Berlin und die Mark Brandenburg. Aber seit 1946 lebe ich in Düsseldorf und Bonn, also in Nordrhein-Westfalen, und fühle mich hier durchaus zu Hause. Und wenn Sie das mit Heimat gleichsetzen wollen, dann können Sie das tun, aber Sie könnten natürlich genauso gut sagen, meine Heimat ist Deutschland. Ich bin gerne in Deutschland, ich lebe gerne in Deutschland, und ich freue mich auch, Deutscher zu sein.

    Müchler: Ihre Familie, Graf Lambsdorff, hat zahlreiche Staatsdiener hervorgebracht, darunter einen russischen Außenminister in zaristischer Zeit. Dienst am Staat, das ist eine Adelstradition, die aus vordemokratischer Zeit stammt, aber Krieg und Revolution überstanden hat. Das ist doch faszinierend. Wie ist es zu erklären, dass eine Tradition so weit reicht?

    Graf Lambsdorff: Ich kann das für mich so nicht bestätigen. Meine Überlegungen, mich politisch zu engagieren, waren nicht in erster Linie Tradition. Es war 1951, damals bin ich in die FDP eingetreten, nachdem ich mir das genau überlegt hatte und während der Universitätszeit mich erkundigt hatte und umgesehen hatte. Ich habe das getan aus der Überlegung heraus, dass man helfen muss, unser Land wieder aufzubauen. Wir erinnern uns ja, es werden ja auch dankenswerter Weise jetzt immer mal wieder Erinnerungsfilme gezeigt, wie das damals ausgesehen hat. Sie haben vorhin das Wort Mobilität angesprochen. Es gab keine Mobilität für einen Studenten zu der Zeit, er war froh, wenn er einen Studienplatz hatte, und außer Landes kam er nicht, das war mühsam. Ich habe also wie gesagt mich damals dazu entschlossen, meinen Anteil - ich wusste ja nicht, welcher das werden würde, ich hatte nie geglaubt, Berufspolitiker zu werden - meinen Anteil zu leisten am Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland. Und da fand ich die FDP die geeignete Plattform. Da mögen sich andere anders entschieden haben, das ist jedermanns eigene Sache.

    Müchler: Sie haben Jura studiert, Sie waren Kaufmann, Banker, Sie haben Ihren Beruf ausgeübt bis 1971. Das heißt, Ihre Vita weist nicht die Eindimensionalität des Berufspolitikers aus, die heute eher typisch ist. Graf Lambsdorff, die viel zitierte Freiheit des Politikers, der Artikel 38 Grundgesetz, was sind die wert ohne die Fähigkeit, dass man sagen kann, ich kann auch anderes, ich kann auch von etwas anderem leben?

    Graf Lambsdorff: Die Frage habe ich mir oft gestellt. Übrigens bin ich beruflich, sprich wirtschaftlich, tätig geblieben bis zum Jahre 1977, bis ich Minister wurde, dann hörte das selbstverständlich auf. Ich war bis davor, auch als ich Abgeordneter war, Vorstandsmitglied der Viktoria-Versicherung. Und mir war immer klar, dass ich nicht so in die Politik gehen wollte, dass ich abhängig von meiner politischen Existenz wäre. Die Demokratie ist, wie Theodor Heuss mal gesagt hat, ein unsicherer Arbeitgeber, alle vier Jahre kannst du rausfliegen -, ich wollte mich nicht dem aussetzen, dass ich für meinen Lebensunterhalt abhängig war vom politischen Erfolg und Misserfolg. Ich habe 1953 zum ersten Mal für den Deutschen Bundestag kandidiert. Das war eher, sagen wir mal, jugendliche Torheit, aber ich hatte gerade die FDP in Aachen hinter mir und habe das dann versucht. Zum Glück, die Wähler waren gescheit genug, mich nicht zu wählen. Und dann habe ich mir gleich gesagt, kein Versuch wieder, bevor du nicht eine wirtschaftliche Basis hast, bei der du sicher sein kannst, du hast eine Rückfallposition, da kann dir wirtschaftlich nichts Existenzielles passieren. So habe ich es gehalten.

    Müchler: Ist das der Rat, den Sie jüngeren Politikern heute auch geben?

    Graf Lambsdorff: Ja, das tue ich schon. Ich finde schon, dass man die Laufbahn Universität, Assistent eines Bundestagsabgeordneten, Bundestagsabgeordneter - diese Laufbahn finde ich nicht sehr befriedigend. Ich jedenfalls hätte wirtschaftspolitischer Sprecher meiner Fraktion - ich wurde das ja am Tage meiner Wahl, sofort wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion - ich hätte das nicht ausüben können, wenn ich nicht vorher in der Wirtschaft tätig gewesen wäre. Jedenfalls bildete ich mir ein und bilde mir heute noch ein, dass ich es nicht vernünftig hätte machen können. Aber ich habe Kollegen erlebt im Bundestag, die waren wirtschaftspolitische Sprecher ihrer Fraktion, die niemals in ihrem Leben in eigener Verantwortung eine Gewinn- und Verlustrechnung unterschrieben hatten. Das hatte ich natürlich hinter mir, und das hat mir geholfen.

    Müchler: Sie haben es eben selbst erwähnt, 1951 sind Sie der FDP beigetreten, genauer gesagt dem FDP-Landesverband Nordrhein-Westfalen. Das war damals ein besonderer Landesverband, der stand am rechten Rand des Spektrums, war teilweise deutschnational geprägt. Es gab eine arge Affäre, als bekannt wurde, dass ein ehemaliger Staatssekretär des Reichspropaganda-Ministeriums dort im Hintergrund seine Fäden zog. Heute weiß das keiner mehr. Hat Sie das damals beschäftigt, haben Sie das wahrgenommen?

    Graf Lambsdorff: Wahrgenommen habe ich das nicht, als ich eintrat. 1951 in Aachen spielte das keine Rolle. Da bin ich dem Kreisverband Aachen beigetreten, da gab es keine Entwicklungen oder Stimmungen dieser Art. Aber ich wurde dann sehr schnell Bezirksvorsitzender, und als Bezirksvorsitzender - das wurde ich schon im Juli 1952 -, als Bezirksvorsitzender gehörte ich dem Landesvorstand an. Und im Landesvorstand kam das ganze Thema hoch. Ich sehe mich noch da sitzen als jüngstes Mitglied des Landesvorstandes, und Thomas Dehler, der diese Vorfälle untersuchen sollte, übergab mir einen Packen Papier und sagte, Sie sind der Jüngste, Sie lesen das hier mal vor. Und das waren die typischen Formate des britischen Geheimdienstes, also die gelben Bogen, etwas enger als deutsches Normalmaß, und ich las das dann vor, was aus abgehörten Telefongesprächen und Ähnlichem mitgeteilt wurde. Ich bin auch nicht der Meinung, dass der Landesverband Nordrhein-Westfalen deutschnational war. Aber wenn Sie heute rechts sagen würden, dann können Sie das tun. Die Grundposition war, dass der Landesvorsitzende Friedrich Middelhauve, der ein lupenreiner Demokrat war, da gab es überhaupt gar keine Frage, den Landesverband öffnete für frühere aktive Mitglieder der NSDAP oder auch frühere aktive Soldaten, SS-Offiziere. Wenn sie bereit waren, am Aufbau der Demokratie sich zu beteiligen, dann waren sie willkommen, immer unter der Voraussetzung, dass sie sich persönlich nichts hatten zuschulden kommen lassen. Das war das Grundprinzip. Dass nachher, als sich da herausstellte, dass der frühere Goebbels-Staatssekretär Naumann dahintersteckte und anderes, das kam später, hat aber eigentlich, soweit ich mich entsinne, die Programmarbeit, die ja auch kontrovers war in der FDP, nicht geprägt. Es gab das deutsche Programm, das unter Führung des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen erarbeitet wurde und vertreten wurde von Hessen, Niedersachsen, vielleicht noch von dem einen oder anderen Landesverband mehr, und andere hatten das liberale Manifest. Und das spitzte sich dann zu auf einem Bundesparteitag, einem der ersten, den ich mitgemacht habe im Jahre 1953. Das waren wirkliche inhaltliche, programmatische Auseinandersetzungen, auch über die Position der FDP, die schon beeinflusst waren durch ein gewisses Links-Rechts-Spektrum, das stimmt.

    Müchler: In den 50er Jahren war die alles überragende Persönlichkeit, politische Persönlichkeit in Deutschland Konrad Adenauer, jedenfalls seit dem Tod Kurt Schumachers. Das Verhältnis zwischen der FDP und Adenauer war nicht immer konfliktfrei. Thomas Dehler hat sich heftige Schlachten geliefert mit Adenauer. Was bedeutete Ihnen Konrad Adenauer damals, wie ist Ihr Bild von ihm heute?

    Graf Lambsdorff: Konrad Adenauer war damals der übermächtige Vorsitzende der CDU und der übermächtige Kanzler, die entscheidende Figur. Und gerade wir Jüngeren bockten dagegen und mochten das nicht und widerstrebten dem und kritisierten das. Viele von uns waren sich auch nicht ganz so sicher, ob die Westorientierung Adenauers und die Außerachtlassung des Blicks nach Osten, ob das nicht etwas zu tun hatte mit seiner politischen Vergangenheit, der Zeit der Weimarer Republik und den Plänen für einen "Rheinbund" in Anführungsstrichen. Wir waren also auf deutsch gesagt sehr kritisch.

    Müchler: Jungtürkisch.

    Graf Lambsdorff: Ja, jungtürkisch, auch das, natürlich, wie nachher, als er das Grabenwahlrecht einführen wollte, was die FDP um die Ecke gebracht hätte, waren es die Jungtürken, die sogenannten, in Nordrhein-Westfalen - Walter Scheel, Willi Weyer, Wolfgang Döring -, die die nordrhein-westfälische CDU/FDP-Regierung beendeten, gegen den Wunsch von Friedrich Middelhauve, und dafür sorgten, dass es im Bundestag fürs Grabenwahlrecht keine Mehrheit mehr gab. Das war ein Selbstverteidigungsakt, den ich politisch, inhaltlich für völlig richtig gehalten habe. Die Art und Weise, wie es gemacht wurde innerparteilich, habe ich kritisiert, was mir natürlich auch nicht gerade die Begeisterung aufseiten von Willi Weyer, dem damaligen späteren Landesvorsitzenden, eingetragen hat, aber wir haben uns zum Schluss wieder gut vertragen, gar kein Problem. Das spielte dabei schon eine erhebliche Rolle. Und Thomas Dehler - wir machten uns einen Spaß daraus, wenn Thomas Dehler zu einer Wahlversammlung kam. Ich erinnere mich noch: In den Sartory-Sälen in Köln, da packten ihm die Jungdemokraten den letzten Aufruf der Katholischen Aktion aufs Rednerpult, dann schmiss er sein Manuskript beiseite und legte auf seine Art und Weise los. Die natürlich bei der CDU und vor allen Dingen bei Adenauer zu dem berühmten Vorwurf, "Sonntagsreden hast Du schon wieder gehalten" führten. Und das endete ja damit, dass Thomas Dehler in die zweite Bundesregierung nicht wieder berufen wurde, auch wohl, weil Theodor Heuss gesagt hatte, er wolle das nicht, und sich dagegen zur Wehr gesetzt hatte. Und dann hielt Thomas Dehler seine berühmte Rede im Bundestag: "Frei vom Zwang des Kabinetts kann ich jetzt...", und da legte er da wieder los, im Plenum.

    Müchler: Es ging damals in der Sache nicht zuletzt um die Wege zur Wiedervereinigung, um die Westbindung, um die Einschätzung der Stalin-Note von 1952.

    Graf Lambsdorff: Richtig. Bei uns in der Partei wollte Herr Pfleiderer auf die Stalin-Note von 1952 wohl eingehen - ich will jetzt nicht zu viel sagen -, andere sahen das mit mehr Vorsicht. Und wie wir wissen, hat Adenauer das ja auch abgelehnt und die Bundesregierung hat das nicht gemacht. Aus solcher Sicht gesehen wohl richtig, aber wir hatten eben damals den Soupcon, der will eigentlich die Wiedervereinigung nicht, der ist ganz zufrieden, wenn wir hier in der Bundesrepublik leben können, und vergisst darüber das Problem der deutschen Teilung und das Ziel, die deutsche Teilung zu überwinden. Wahrscheinlich, ich glaube, aus heutiger Sicht gesehen, war das ungerecht, aber es hat ja so Vorfälle gegeben - nehmen Sie den Bau der Berliner Mauer, wo Adenauer es nicht für notwendig hielt, nach Berlin zu fahren. Das waren alles so Sachen, die diesen Verdacht eher bestärkten. Rückblickend hat sich erwiesen, dass Adenauer für die Bundesrepublik Deutschland Bedeutendes geleistet hat, ein großer Staatsmann war, auch mit Weitblick, und dass seine Position, die Westbindung hat Vorrang, die Freiheit und die Unabhängigkeit Deutschlands sicherte und später auch einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung leistete. Auch wenn die Ostpolitik von CDU und CSU abgelehnt wurde, trotzdem mit dem sicheren Rückhalt im Westen, und der erwies sich ja dann als sicher. Insbesondere durch Präsident Bush und die Vereinigten Staaten konnten wir die Wiedervereinigung bewältigen.

    Müchler: Ich würde gerne einen Zeitsprung machen. 1971, Freiburger Thesen, die Wende der FDP nach links, das Geburtsjahr der sozialliberalen FDP. Das war eine Wende nach dem Geschmack des Zeitgeistes.

    Graf Lambsdorff: Für mich hat es nie eine sozialliberale FDP gegeben. Das Stichwort sozialliberal stand für mich für eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und freien Demokraten. Eine sozialliberale FDP fand ich ebenso wenig richtig wie rechtsliberal, linksliberal, wirtschaftsliberal und weiß der Himmel was, rechtsstaatliberal. Es gibt nur Liberale, und das war das Entscheidende und das war eigentlich auch die Position, die Karl-Hermann Flach, der ja hinter dem Freiburger Parteitag und den Freiburger Thesen ganz wesentlich stand, obwohl er sie nicht selber miterarbeitet hatte, die Karl-Hermann Flach vertreten hat. Ich hatte 1971 zwischen zwei beruflichen Stationen, ich war vorher bei der Bank und wechselte zur Versicherung, einige Monate frei. Das war eine sehr angenehme Situation, unbeschäftigt, aber nicht unbezahlt zu sein. Und konnte deswegen wochenlang in Gummersbach, unter dem Vorsitz von Martin Bangemann übrigens, in der Theodor-Heuss-Akademie an den Freiburger Thesen mitarbeiten. Ja, wenn ich mir das heute betrachte, erstens haben wir die Erfahrung gemacht, viel davon ließ sich eigentlich gar nicht umsetzen, und zweitens, überaus marktwirtschaftlich und liberal ist vieles auch nicht. Bedeutung haben interessanterweise in der politischen Diskussion und in der Atmosphäre und Stimmung weniger die Thesen und die konkreten Inhalte - die wir uns jedenfalls als konkrete Möglichkeiten dachten - gewonnen, als vielmehr der Vorspann, den Werner Maihofer geschrieben hat und der gar nicht von der Partei beschlossen wurde. Der war am Ende gewichtiger, der bedeutete etwas für die inhaltliche Position der FDP. Man sollte vielleicht hinzufügen, es hat ja einige gegeben, die die Verbindung zwischen Sozialdemokraten und freien Demokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, als ein historisches Bündnis betrachteten. Das war nie meine Position, das habe ich immer für falsch gehalten, das war ein Zweckbündnis, das war eine Koalition. Diese Koalition war wichtig, insbesondere im Hinblick auf die Ostpolitik, die sie ja auch einigte, das war wirklich das einigende Band. Natürlich haben dann vonseiten CDU und CSU auch Leute wie Strauß dazu beigetragen, dass man zusammenblieb und zusammenstand. Dass das wirtschaftspolitisch schwierig war, das hat man ja dann gesehen, und es war ja auch am Ende einer der Gründe für die Beendigung dieser Koalition.

    Müchler: Sie haben lange danach, 1998, also 27 Jahre später, in dem Buch "Freiheit in Verantwortung" einen sehr kritischen, ungnädigen Blick zurück auf Freiburg geworfen und Ihrem Kapitel ein ganz sonderbares Zitat vorangesetzt, ein Zitat von Hölderlin, das ich jetzt zitieren möchte: "Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte." Das vor dem Kapitel "Freiburger Thesen". Wie muss man das verstehen?

    Graf Lambsdorff: Ja, das müssen Sie so verstehen, dass die Menschen immer wieder glauben, je mehr Staat, umso besser geht es ihnen, je mehr staatliche Fürsorge, umso sicherer können sie leben. Und diesen Zustand, wenn ich den messe an dem, was wir in den Freiburger Thesen damals festgehalten hatten, und dem, was inzwischen - leider, sage ich - in der Bundesrepublik Deutschland Realität geworden ist und ja jeden Tag wieder diskutiert wird - und jeden Tag kommt ein neuer Vorschlag, neue Interventionen, neue Beglückung, neue Segnung -, dieser Kindermädchenstaat, den wir uns zugelegt haben und den wir uns erlaubt haben, der stört Freiheiten. Und das ist das, was Hölderlin ja angesprochen hat. Man meint, man könne den Himmel auf die Erde bringen und in Wirklichkeit schafft man durch den Verlust von Freiheit die Hölle auf Erden. Das sind die beiden Extreme, aber ich befürchte, wir bewegen uns im Augenblick nicht so sehr in Richtung Himmel als vielmehr in Richtung Hölle.

    Müchler: Sie haben eben gesagt, dass nicht wenige die sozialliberale Koalition mit dem Strahlenglanz eines historischen Bündnisses umkleidet haben. War deshalb das Ende dieser Koalition für viele dann auch so bitter, so qualvoll?

    Graf Lambsdorff: Das hat sicherlich eine Rolle gespielt, diejenigen, die davon überzeugt waren, dass es eben eine sozialliberale Politik gebe und nicht eine Politik von Sozialdemokraten und Liberalen, diejenigen, die glaubten, dass diese Koalition ein ewiges Bündnis zwischen Arbeiterschaft und Wirtschaft sein könne, und diejenigen, die auch persönliche Emotionen in die Positionen, in die Personen auf der sozialdemokratischen Seite gesetzt hatten - also zum Beispiel, was ich ja verstehen kann, in Helmut Schmidt und andere -, die waren bitter enttäuscht, denen fiel das schwer, die haben auch nicht mitgemacht. Die haben zum Teil die FDP verlassen oder sie haben sich gegen die neue Koalition ausgesprochen.

    Müchler: Günter Verheugen, Ingrid Matthäus-Meier ...

    Graf Lambsdorff: Matthäus-Meier, natürlich, und ganz betont, denken Sie an ihre Rede im Plenum, Frau Hamm-Brücher.

    Müchler: Richtig. Aber sie ist in der Partei geblieben.

    Graf Lambsdorff: Sie ist damals in der Partei geblieben, ja, und Verheugen und andere - Schöler - sind also zu den Sozialdemokraten gegangen, weil sie diese Politik und diesen Kurs nicht mitmachen wollten.

    Müchler: Lassen Sie uns eine Weile bleiben beim Jahr 1982, dem Ende der Regierung Schmidt/Genscher. Sie waren damals Bundeswirtschaftsminister, seit 1977, hatten die Politik dieser Regierung also über eine Reihe von Jahren mitgetragen. Dann kam das sogenannte Lambsdorff-Papier, veröffentlicht am 10. September 1982, in dem Sie eine grundsätzliche Wende in der Wirtschaftspolitik verlangten. Dieses Papier, das damals in der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlicht wurde, ist als Todesstoß für die Koalition verstanden worden und wird praeter propter auch heute noch so verstanden. Was wollten Sie mit dem Papier, den zögernden Parteichef Hans-Dietrich Genscher zwingen, Farbe zu bekennen?

    Graf Lambsdorff: Nein. Es hat sich ja so abgespielt, dass Hans-Dietrich Genscher und ich gemeinsam bei Helmut Schmidt im Kanzleramt saßen und über die Lage der Koalition sprachen, das muss so August gewesen sein. Und ich bemerkte dann, dass die Wirtschaftspolitik doch erhebliche Schwierigkeiten machte, Wirtschaftspolitik immer verstanden als Oberbegriff für Arbeitsmarktpolitik, Finanzpolitik, Steuerpolitik, was dazugehört. Dann sagte Helmut Schmidt so ganz spontan, na, wenn Sie diese vielen Bedenken haben, dann schreiben Sie mir die auf. Wie lange brauchen Sie dafür? Ich glaube, ich habe gesagt, zwei Wochen. Woraus Sie ablesen können, dass wir im Wirtschaftsministerium nicht so eine Denkschrift vorbereitet hatten, aber unsere Bedenken zu Papier gebracht hatten. Die gab es schon eine ganze Weile, sonst kriegt man ja in zwei Wochen nicht ein 30-seitiges Papier vernünftig zustande. Und Hans-Dietrich Genscher war dabei, so lief das. Mag sein, dass er etwas erschrocken war über die Entwicklung, die sich da anbahnen konnte und dann ja auch angebahnt hat und die dann zum Tragen gekommen ist. Aber wir haben zusammengestanden, und eins war vollständig klar: Wir konnten die FDP zu einem Ende dieser Koalition nur unter der Voraussetzung bewegen, dass Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Mischnick und ich einig waren. Sonst wäre es nie gegangen. Und das war der Fall.

    Müchler: Am 17. September verließen Sie und die übrigen FDP-Minister die Regierung. Wurden Sie von Helmut Schmidt entlassen? Klaus Bölling, damals Regierungssprecher, hat in seinem ominösen Tagebuch geschrieben, der Kanzler sei mit der Entlassung der FDP-Minister dem dritten Hahnenschrei zuvorgekommen. Es gibt aber auch eine andere Version, nämlich die, dass die FDP-Minister von sich aus den Rücktritt erklärten. Welche Version stimmt?

    Graf Lambsdorff: Also, formal haben die FDP-Minister nach meiner Erinnerung den Rücktritt von sich aus erklärt. Das ging ja so schnell, dass wir das sogar handschriftlich zu Papier bringen mussten, damit das auch ganz frühzeitig bei Helmut Schmidt auf dem Tisch lag, bevor er selber die Entlassung und den Rausschmiss verkünden konnte, entscheiden konnte. Es ist ziemlich müßig, darüber zu streiten, wer war nun der Erste, Henne oder Ei. Nach unserer Erinnerung war es jedenfalls so, dass wir uns darum bemühten, ihm möglichst zuvorzukommen und unseren Rücktritt so einzureichen, dass wir gesagt haben, wir gehen, und nicht, dass er gesagt hat, ihr geht. So war es denn wohl auch.

    Müchler: Es war ja damals wichtig, die Handlungsfähigkeit zu beweisen.

    Graf Lambsdorff: Ja, sicherlich, aber die Sache war zu Ende zu dem Zeitpunkt, das wussten ja alle Beteiligten. Damals haben wir das als wichtig gesehen, da haben Sie schon Recht, wer ist nun der Erste und wer kommt dann. Das Entscheidende war, dass die Koalition zu Ende war und eine neue Koalition zustande kam.

    Müchler: Dazwischen lag ja noch ein bisschen Zeit. Die Koalition war zu Ende, und dann ging es erst richtig los, es begann eine, tja, man muss schon sagen, Verratskampagne gegen die FDP.

    Graf Lambsdorff: Ja.

    Müchler: Auf dem Domplatz von Wetzlar, ich habe das damals selbst miterlebt, rief Helmut Schmidt, man werde die FDP wegharken - es war gerade Wahlkampf in Hessen -, und das hat ja dann auch zunächst funktioniert. Bei der hessischen Landtagswahl hat die FDP kräftig eins aufs Haupt bekommen, fiel auf 3,1 Prozent zurück. Damals ging es - so sah es jedenfalls aus - für die FDP um Sein oder Nichtsein.

    Graf Lambsdorff: Ja, das ist sicherlich richtig, aber erst mal war das eine Landtagswahl und wir hatten noch eine Bundestagswahl erst vor uns. Und zum Zweiten: Dieselbe Erfahrung, die wir mit Helmut Schmidt gemacht haben - Sie haben ja Wetzlar zitiert -, dieselbe Erfahrung haben wir mit Herrn Kiesinger gemacht, als 1969 Willy Brandt und Walter Scheel die sozialliberale Regierung auf die Beine stellten, und Herr Kiesinger, der meinte, die Wahlen gewonnen zu haben, auch damit drohte, bei jeder Gelegenheit die FDP auszuradieren. Ich weiß nicht, welches Wort er da benutzt hat, habe ich vergessen. Wir wussten aber, dass wir in dem damaligen System - drei Parteien sitzen im Bundestag, ich habe das immer etwas spöttisch gesagt, zwei große und eine wichtige, und die wichtige war die FDP, die nämlich den Ausschlag gab, wer mit wem regiert und wer mit wem regieren konnte, wer den Kanzler stellte. Wir wussten ganz genau, dass wir einerseits, wenn es gar nicht mehr weiterging, verpflichtet waren, einen solchen Wechsel herbeizuführen. Ob das nun genau an diesem Zeitpunkt hätte sein müssen, an diesem Tag, darüber kann man ja diskutieren. Was wir aber andererseits auch wussten, dass das jedes Mal ein Ritt über den Bodensee und eine Todesgefahr bringende Entscheidung für die FDP sein konnte. So war es auch damals. Und nun kam die Frage, wie wird sich das denn zahlenmäßig auswirken? Wir hatten ein konstruktives Misstrauensvotum, das heißt, wir haben den Mann, den wir selber zum Kanzler gewählt hatten, das Misstrauen ausgesprochen. Das war, wie jeder weiß, konstruiert, denn das Bundesverfassungsgericht hat ja damals gesagt, das macht ihr einmal und nicht wieder, hat es aber später noch einmal erlaubt. Ich bin mal gespannt, wie weit sich das noch durchhalten lässt. Und für uns war klar, wenn das passieren würde, was Franz-Josef Strauß wollte, nämlich sofort neue Wahlen, dann wäre es wahrscheinlich um unsere politische Existenz geschehen gewesen. Aber Helmut Kohl war gescheit genug und auch fair genug, das muss man sagen. Immerhin hatten wir ihn ins Kanzleramt gebracht und waren das große Risiko eingegangen, dafür zu sorgen, dass eben erst im März Wahlen waren. Und bis dahin hatte sich die Stimmung wieder beruhigt und bis dahin hatten wir die Aussicht, wieder in den Bundestag gewählt zu werden, was dann geschah mit sieben Prozent. Das war für Hans-Dietrich Genscher und mich ein großer Erfolg, und für die anderen auch, dass wir diese sieben Prozent erreicht hatten.

    Müchler: Woran ist nach Ihrer Meinung Helmut Schmidt wirklich gescheitert, und wie begegnen Sie einander, wenn Sie sich begegnen?

    Graf Lambsdorff: Wir begegnen uns völlig normal und vernünftig und friedlich, die Zeiten sind vorbei, die Auseinandersetzung ist vorbei, wir haben da überhaupt keine Probleme miteinander. Er ist gescheitert an den sicherheitspolitischen Vorstellungen seiner Partei, und das war eigentlich auch wichtiger als Beendigungsgrund für die Koalition.

    Müchler: Wichtiger als die Wirtschaft.

    Graf Lambsdorff: Ja. Aber es war ein Thema, das wir in der Öffentlichkeit nicht so rüberbringen und nicht so erläutern konnten. Für Hans-Dietrich Genscher spielte das die Hauptrolle und er hatte ja die Wende in einem Brief ein Jahr zuvor schon angedeutet. Das hatte im Wesentlichen zu tun mit der Befürchtung, dass die SPD zu den wirtschafts- und zu den sicherheitspolitischen Vorstellungen ihres eigenen Kanzlers nicht mehr stehen würde. Helmut Schmidt hat den NATO-Doppelbeschluss erfunden, daran muss man ja immer mal wieder dran erinnern, und seine eigene Partei hat ihn im Stich gelassen. Als die Koalition zu Ende war, und er die Sicherheitspolitik auf einem Bundesparteitag diskutieren ließ und eine Entscheidung herbeiführen wollte, waren für seine Vorstellungen, sicherheitspolitischen Vorstellungen, ganze vier Prozent der Delegierten noch zu gewinnen. Genscher hat da immer etwas spöttisch gesagt, das war die Prozentzahl, die er uns zugedacht hatte.

    Müchler: Graf Lambsdorff, das war eine Zeit, die war für Sie in doppelter Hinsicht dramatisch. Im Mai 1981 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft gegen Sie und andere wegen krummer Wege in der Parteifinanzierung ermittelte. Die Flick-Affäre begann, sie endete 1987 für Sie mit einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung beziehungsweise Beihilfe und einer Strafe von 180.000 DM. Es ist hier nicht der Platz, die ganzen Ausfaltungen der Flick-Affäre abzuhandeln. Für Sie war es der Tiefpunkt Ihrer Laufbahn?

    Graf Lambsdorff: Es war jedenfalls ein Tiefpunkt, ja, der politische Tiefpunkt, da haben Sie Recht. Es hat auch andere Tiefpunkte in meinem Leben gegeben, aber dieser, das war sicherlich ein Tiefpunkt, klar. Wobei eins hinzukam, wenn Sie von 1981 und von der Anklageerhebung sprachen, da war ja auch ein Anklagepunkt wegen Bestechlichkeit. Und das war nun wirklich das Allerschlimmste. Bei dem anderen, das war Parteienfinanzierung, das hatte auch nichts mit meinem eigenen Portemonnaie zu tun, aber der Bestechlichkeitsvorwurf, der war nun wirklich tödlich.

    Müchler: Und der wurde fallengelassen.

    Graf Lambsdorff: Der wurde fallengelassen und ich wurde freigesprochen, ja. In dem Punkte wurde ich freigesprochen. Die andere Verurteilung haben Sie erwähnt, das war unerfreulich. Das war nicht korrekt, was wir gemacht haben. Ich habe mir lange überlegt, zusammen mit meinem Anwalt, ach, nicht sehr lange, ob wir gegen das Urteil des Landgerichts Bonn in Revision gehen sollten, das haben wir bleiben lassen, denn dann wäre die ganze Geschichte noch ein paar Jahre länger gelaufen und hätte mich politisch lahm gelegt. Es war mühsam genug, während des ganzen Prozesses politisch aktiv zu bleiben. Das habe ich getan, auch mit Unterstützung der Fraktion. Es haben viele gar nicht gemerkt, dass wir die aktuellen Stunden zu dieser Zeit morgens um acht Uhr anfingen ließen im Bundestag, damit ich da die Gelegenheit hatte, noch mal schnell aufzutreten und mich dann ins Auto zu setzen und zum Landgericht Bonn zu fahren. So war das. Aber rückwirkend betrachtet ist klar, das ist eine rechtskräftige Entscheidung, ich habe die rechtskräftige Entscheidung akzeptiert. Ich kann mich darüber beklagen, tue ich auch, dass das selektive Justiz war, die hat mich als Opfer auserkoren, um diesen Prozess durchzuführen. Jeder weiß, dass sehr viele im Deutschen Bundestag in der gleichen Art und Weise oder in ähnlicher Art und Weise in Parteienfinanzierungen verwickelt waren, das ist alles still, heimlich, mit Strafbefehlen aus der Welt geschafft worden, ohne große öffentliche Aufregung. Aber es hat keinen Sinn, darüber noch lange zu diskutieren. Es liegt hinter mir und es ist mir gelungen, danach nicht nur Parteivorsitzender zu werden und alles mögliche andere, sondern es ist mir gelungen, danach von Wahl zu Wahl mein Erststimmenergebnis im Wahlkreis zu verbessern. Das war mich wichtig. Und das hat funktioniert.

    Müchler: Sie waren ja auch in mancherlei Hinsicht ein Symbol. Graf Lambsdorff, der Markgraf, Ihr "nom de guerre" sozusagen als Politiker. Welcher Politiker heute außerhalb der FDP hat bei Ihnen dort, wo es um die freiheitliche Verfassung der Wirtschaft geht, den größten Kredit?

    Graf Lambsdorff: Ja, den größten Kredit hat Friedrich Merz. Aber der ist schon beinahe so außerhalb der Politik wie ich inzwischen. Das ist gar keine Frage. Danach gibt es schon, was Ordnungspolitik und marktwirtschaftliche Grundpositionen anbelangt, einen ziemlichen Abstand, das muss ich leider sagen. Aber ich sehe immer wieder, gerade in der jetzigen Zeit, dass auch bei einem möglichen Koalitionspartner CDU/CSU - das strebt die FDP an, jedenfalls Herr Westerwelle sagt das immer wieder und das ist auch zutreffend, ich glaube ihm das auch, es gibt keinen Anlass, etwas anderes zu sagen -, dass es da immer wieder Abweichungen gibt und Dinge mitgemacht werden, die mit marktwirtschaftlichen Vorstellungen nicht in Einklang zu bringen sind. Der Bundeswirtschaftsminister Michael Glos, den wir alle gerne hatten, den wir schätzen, mit dem wir jahrelang im Parlament zusammen gesessen haben und der ein sehr angesehener und beliebter Kollege war und ist, der gibt sich redliche Mühe. Aber auch dem fällt dann plötzlich ein, ein Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis und ähnliche Dinge zu veranstalten, die wir jahrelang von uns ferngehalten haben. Es ist schwierig in diesem Umfeld, das will ihm gerne zugestehen, wo es Mindestlohndebatten gibt, wo es ein Entsendegesetz gibt, wo es Krankenversicherungsvorschläge gibt, die keine Reform sind, sondern eine Reparatur, wo die Pflegeversicherung offensichtlich auch nicht die notwendige Korrektur erfährt. Es ist sehr schwierig, marktwirtschaftliche Positionen durchzuhalten, zumal dann, das muss ich doch sagen, wenn die Bundeskanzlerin nicht bereit ist, öfter und deutlicher ihrem Koalitionspartner zu sagen, nein, es ist mit meinen Überzeugungen nicht zu vereinbaren. Wenn ich mal an den Leipziger Parteitag der CDU denke, wo sind die Überzeugungen von Frau Merkel heute? Bevor wir irgendwelche Hilfskonstruktionen und irgendwelche krückenartigen Lösungen machen, da sage ich euch lieber nein, und dann wird es eben nichts, dann geht's nicht.

    Müchler: Bundespräsident Horst Köhler, der ja bei den Liberalen durchaus Ansehen genießt, hat kürzlich im Deutschlandfunk die Agenda 2010 des Bundeskanzlers Gerhard Schröder mehrfach gelobt als großes Reformwerk. Der Gedanke, dass die vielleicht größte Sozialreform der letzten Jahre von einem sozialdemokratischen Bundeskanzler initiiert worden ist, stimmt der nicht bitter?

    Graf Lambsdorff: Ich habe, als die Agenda 2010 von Gerhard Schröder auf den Markt kam, der FDP sofort geraten zuzustimmen, einmal sich das anzusehen. Aber die Grundtendenz war richtig. Die Grundtendenz zeigte in die richtige Richtung. Nur die größte Sozialreform, wie Sie es genannt haben, ist es deshalb geblieben, weil die zweiten, dritten und vierten Schritten, die hätten folgen müssen, nicht gekommen sind. Es war ein richtiger Ansatz. Wenn man den jetzigen Wirtschaftsaufschwung auf wirtschaftspolitische Entscheidungen zurückführen will, dann gibt es im Grunde für mich zwei: Einmal ist es die Agenda 2010 und das andere ist die äußerst vernünftige und überlegte Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Schröder hat da seinen Teil geleistet, und der ist überhaupt nicht zu bestreiten. Dass er das sich selber auch hinterher durch Fehlentscheidungen und merkwürdige Entscheidungen ins Abseits gestellt hat, ist eine andere Frage.

    Müchler: Gerhard Schröder hat Sie 1999, ich komme jetzt zu einem ganz anderem Thema, mit den Verhandlungen über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern betraut. Die schwierigen Verhandlungen wurden ein Jahr später abgeschlossen. Sie haben über dieses Werk, über diese Leistungen nie viel gesprochen. Was war für Sie daran das Bewegende? Warum haben Sie das gemacht?

    Graf Lambsdorff: Einmal ist es nicht nach einem Jahr schon abgeschlossen gewesen. Formal haben wir es abgeschlossen kurz vor den Bundestagswahlen, also nach drei Jahren, 2002. Man kann sagen, dass es ein Jahr vorher fertig war. Aber zwei Jahre hat es doch schon mindestens gedauert, bis wir auch die ersten Gerichtsentscheidungen in den USA hatten, die notwendig waren.

    Müchler: ... die Vereinbarung mit Eizenstat, glaube ich, war 2000?

    Graf Lambsdorff: Ja. Aber dann ging es dann erst mal los, die Verhandlungen über den Rechtsfrieden zu führen. Sie meinen jetzt die Unterzeichnung im Weltsaal des Auswärtigen Amtes und das schöne Foto von Eizenstat, Gerhard Schröder und mir. Das ist alles richtig. Aber danach mussten wir dann aushandeln, wie denn der Rechtsfrieden für die deutsche Wirtschaft aussehen konnte. Für mich war das ein Auftrag, der Bundeskanzler bat mich zu sich in sein Kanzleramt hier in Bonn und fragte mich, ob ich das machen würde. Ich ahnte schon so etwas, ich war nicht völlig unvorbereitet, hatte das auch mit meiner Frau besprochen. Mir war klar, dass das schwierig würde. Aber selbstverständlich habe ich ja gesagt. Das ist eine staatsbürgerliche Pflicht, wenn einem so etwas angetragen wird, und man glaubt selber, dass man es kann. Es ist ein bisschen eingebildet, aber ich habe gedacht, ich brächte die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verhandlung mit. Und das waren gute Beziehungen zur deutschen Wirtschaft. Das waren gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Das waren gute Beziehungen zu den jüdischen Organisationen und zum Staate Israel. Alles das war gegeben. Das war auch der Grund, warum Schröder mich ausgesucht hatte. Es war nicht meine Nase, die ihm gefallen hat, er hat geglaubt der kann es vielleicht doch am besten. Nachdem Hombach, sein Kanzleramtsminister, einfach aus zeitlichen Gründen das gar nicht konnte. Man musste Zeit dafür haben, und die hatte ich ja damals. Ich war ja nicht mehr im Parlament. Die Verhandlungen waren außerordentlich kompliziert. Das ist gar keine Frage. Das kann ich jetzt gar nicht im Einzelnen schildern. Es hat eine gute Rolle gespielt, dass ich mit den amerikanischen Verhandlungsführer, Stuart E. Eizenstat, aus der Zeit der Carter-Zeit, der Zeit der Carter-Regierung, gut bekannt und später befreundet war. Dass wir immer Verbindung miteinander gehalten hatten, auch als ich gar nicht mehr in der Regierung war. Er auch nicht. Es ist merkwürdig, wie das zustande gekommen ist. Ich weiß es heute gar nicht. Aber es war so. Wir haben dann eine Sache zu Ende gebracht, die erfolgreich zu Ende gebracht werden musste. Scheitern war völlig unmöglich, politisch unmöglich, menschlich unmöglich, moralisch unmöglich. Es ist uns zu gelungen, das zu verhindern, und die Sache zu einem, wie ich finde, "Erfolg" sage ich immer in Anführungsstrichen in diesem Zusammenhang. Hier sind Menschen Jahre ihres Lebens gestohlen worden. Aber wir haben einen finanziellen Schlussstrich gezogen. Das war im Interesse der deutschen Industrie. Es zeigt sich jetzt gerade in den letzten Tagen wieder durch eine Gerichtsentscheidung in New York, dass die Regelung, die wir dort gefunden haben, wasserdicht ist, also dass die deutsche Industrie sicher sein kann, dass sie den Rechtsfrieden hat. Wir haben einen finanziellen Schlussstrich gezogen, aber einen moralischen Schlussstrich unter das, was die Nazis damals gemacht haben, den kann und darf es nicht geben. Und den haben wir auch nie gewollt und nie behauptet.

    Müchler: Graf Lambsdorff, die Selbstentblößung, die heute nicht wenige Politiker für nützlich halten, das war Ihre Sache nie. Das Persönlichste, was ich von Ihnen gefunden, gelesen habe, ist ein offener Brief an Ihre Enkelkinder Jakob und Elisa, vorgetragen 1999 hier bei uns im Deutschlandfunk. Darin erzählten Sie vom Sterben Ihrer Mutter, von Martin Luther, von Hoffnung und Glaubensgewissheit. Altersfrömmigkeit oder welche Rolle hat Religion und Glaube in Ihrem Leben gespielt?

    Graf Lambsdorff: Altersfrömmigkeit ist, glaube ich, eine falsche Bezeichnung. Ich bin in einem protestantischen, evangelischen Hause erzogen worden, in einem Internat gewesen, das protestantisch und evangelisch ausgerichtet war. Ich bin nach dem Kriege im Presbyterium meiner Kirchengemeinde gewesen in den 60er Jahren. Das habe ich nicht fortsetzen können, als ich in den Bundestag gewählt war, wo auch die Zeiten nicht mehr zusammenpassten. Ich bin seit 1951 Mitglied des Johanniter-Ordens. Es ist ein christlicher Orden, ein Bestandteil der evangelischen Kirche. Ich bin jetzt seit 1993 in Brandenburg an der Havel im Domkapitel, wo es um den Wiederaufbau, den Erhalt des Domes geht und des Domgeländes. Also institutionelle Bindung hat es in meinem ganzen Leben immer gegeben. Dahinter steckt schon, dass ich überzeugter evangelischer Christ bin, überzeugter Protestant bin, dass ich das, was ich meinen Enkeln in einer hoffentlich für sie verständlichen Form aufgeschrieben habe, dass man das auch diskutieren kann auf sehr viel höherem Niveau mit der Rechtfertigungslehre, mit den ökumenischen Problemen, die wir haben. Aber das ist meine Überzeugung, das ist mein persönlicher fester Glaube, und der hat mir auch mein Leben lang geholfen.

    Müchler: Was möchten Sie, das einmal über Sie in den Geschichtsbüchern steht?

    Graf Lambsdorff: Dass er sich bemüht hat, dass er versucht hat, ein ordentlicher Mensch zu sein, dass er für sein Land einiges geleistet hat, dass er für die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit Nachdruck und auch nicht ohne Erfolg eingetreten ist. Aber das Wesentliche ist, vor der letzten Instanz zählt das alles gar nichts. In der letzten Instanz zählt, ob man auf der Basis von persönlichem Glauben seine Rechtfertigung vor Gott finden kann. Das kann einem keiner attestieren. Das kann auch nirgendwo gesagt werden, das kann man nur erhoffen und wünschen.

    Müchler: Vielen Dank!

    Graf Lambsdorff: Bitte!