Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Für mich ist das Kernschmelze der Demokratie"

Die US-Abhöraktionen seien eine "ungeheuerliche Provokation", meint Claudia Roth (Die Grünen). Informationen von Snowden seien im "ureigensten deutschen Interesse", daher plädiert sie dafür, Snowden nach Deutschland einzuladen und ihm freies Geleit zu garantieren.

Claudia Roth im Gespräch mit Stephan Detjen | 03.11.2013
    Stephan Detjen: Frau Vizepräsidentin, Ihr neues Amt ist offenbar, vielleicht zum Glück, nicht so wichtig, dass es in den Fokus der amerikanischen Geheimdienste geraten würde. Aber als Vorsitzende der Grünen, die Sie ja bis vor ein paar Tagen waren, stand Ihre Telefonnummer, nachdem was wir heute wissen, wahrscheinlich auch auf den Abhörlisten der NSA. Nach Informationen der "New York Times" vom Ende der vergangenen Woche wurde nicht nur die Kanzlerin belauscht, sondern auch reihenweise Spitzenpolitiker, unter anderem Parteivorsitzende, in Deutschland. Hat Sie das eigentlich noch gewundert?

    Claudia Roth: Ja, mich hat es vielleicht nicht wirklich gewundert, aber es macht mich natürlich wütend, und ich bin ziemlich schockiert, wie man unter Freunden miteinander umgeht. Und das lasse ich natürlich nicht auf mir sitzen - einen solchen Verdacht. Der Verdacht steht im Raum, ich lasse das jetzt überprüfen beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, dem BSI. Da werde ich mein Handy überprüfen lassen, ob da ein Trojaner …

    Detjen: ... das hat auch die Bundeskanzlerin gemacht ...

    Roth: ... was auch die Kanzlerin gemacht hat. Ich werde es dort überprüfen lassen, ob ein Trojaner dort versteckt ist und ich abgehört wurde, ob ...

    Detjen: …und wenn ja, die Kanzlerin hat dann gleich bei Obama angerufen ...

    Roth: ... ich werde gleich tun, ich werde es auch gleich tun - mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, weil ja auch in der "New York Times" stand, dass das auch die Berater und Beraterinnen betrifft. Dann werde ich natürlich Strafantrag stellen, das lasse ich mir nicht bieten. Wir sind gerade dabei, juristisch zu überprüfen, an wen sich das dann richten kann. Aber damit werden grundlegende Menschenrechte, Freiheitsrechte verletzt, es ist eine Straftat. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Privatheit, Telekommunikationsgeheimnis wird mit Füßen getreten. Und das kann man sich so nicht bieten lassen, also ...

    Detjen:... aber die Frage ist ja tatsächlich: Was kann man tun, um überhaupt erst einmal Wissen zu gewinnen. Glauben Sie, die NSA bzw. amerikanische Geheimdienste werden ihre Archive öffnen, wenn ein deutscher Staatsanwalt danach fragt?

    Roth: Ja, wir sollen auf jeden Fall das nicht als Lappalie abtun, als Kavaliersdelikte, als Fehlentwicklungen, sondern wir sagen, was das ist. Das ist ein millionenfacher Straftatbestand, da waren von ganz ganz vielen Menschen - es ist gut, dass das herausgekommen ist, dass auch unsere Bundeskanzlerin abgehört worden ist, weil es so zusagen auch noch mal die Dimension des Skandals, auch des politischen Skandals deutlich macht - dass wir uns das nicht bieten lassen, dass zu einer Demokratie Grundrechte gehören, dass die Behauptung, es ginge um Kampf gegen Terrorismus, ja nicht der Generalschlüssel sein kann, um Freiheitsrechte, Menschenrechte, Grundrechte millionenfach zu verletzen. Und insofern möchte ich mich, weil ich persönlich davon betroffen bin, persönlich dagegen verwehren. Ich möchte auch alle anderen auffordern, ihrerseits überprüfen zu lassen, ob sie abgehört worden sind, also meine Kollegen von anderen Oppositionsparteien. Und es ist gut, dass die Möglichkeit besteht, noch konkretere Informationen zu bekommen. Da gibt es einen wichtigen Zeugen mit Edward Snowden.

    Detjen: Von dem haben Sie in Ihrem neuen Amt auch Post bekommen. Der hat unter anderem dem Deutschen Bundestag geschrieben, den Sie als Vizepräsidentin mit repräsentieren und vertreten. Wird er eine Antwort vom Bundestag bekommen? Und welche?

    Roth: Also, wir werden im Präsidium sicher darüber reden. Dr. Lammert hat als Präsident des Bundestages den Brief bekommen. Wir werden darüber reden, natürlich werde ich mich dafür einsetzen, dass er einen positiven Antwortbrief bekommt, denn ich bin sehr froh ...

    Detjen: … was heißt positiv?

    Roth:... positiv, dass es natürlich im ureigensten deutschen Interesse ist, dass wir von ihm Informationen bekommen. Ich bin sehr froh, dass sich in diese Richtung auch unser Innenminister geäußert hat, dass sich Herr Oppermann von der SPD dazu geäußert hat, dass wir selbstverständlich ein Interesse daran haben, genaue Informationen über Fehlentwicklungen, über Straftatbestände, über Praktiken von NSA und anderen Geheimdiensten zu bekommen. Und wer, wenn nicht Edward Snowden wäre dazu der richtige und kompetente Zeuge.

    Detjen: Soll Edward Snowden nach Deutschland kommen, um dann am Ende möglicherweise, das haben Sie als Parteivorsitzende auch immer gefordert, hier Schutz zu genießen und Asyl zu bekommen?

    Roth: Also, erst mal will ich noch sagen, dass ich unglaublich dankbar bin Christian Ströbele. Hans Christian Ströbele hat sich als echter Demokrat erwiesen. Er hat nicht locker gelassen, er hat den Weg gesucht, direkt mit Snowden in Kontakt zu kommen. Er hat es geschafft und hat darüber natürlich auch eine Dynamik wieder hergestellt - und kommt jetzt mit der Botschaft nach Deutschland zurück, dass Snowden gerne bereit ist, zu informieren. Und was wichtig ist, dass er das nicht als antiamerikanischen Akt versteht, sondern dass er sagt, er würde an allerliebsten in den USA Auskunft geben über die Praxis der Geheimdienste, über die Praxis der NSA, weil er glaubt, dass die Demokratie in den USA dadurch jeden Tag verletzt wird und geschwächt wird. Aber er ist auch bereit, bei uns auszusagen, und selbstverständlich sagen wir schon lange, für uns wäre es ein gutes Signal, wenn Edward Snowden in Deutschland freies Geleit bekommen würde, wenn er hier aufgenommen werden würde, wenn er hier Zeuge sein könnte, in Deutschland Zeuge sein könnte vor einem Untersuchungsausschuss, für den wir uns einsetzen. Und ich gehe davon aus, dass andere das auch tun.

    Detjen: Was müsste denn geschehen, damit es möglich wird, dass er hierher kommen kann? Es gibt da auch ein Gutachten, eine erste Stellungnahme des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, der sagt, das ist theoretisch schon möglich. Die Russen sperren sich aber dagegen. Was können Sie etwa in Ihrem neuen Amt als Vizepräsidentin des Bundestages, was kann das Präsidium des Bundestages tun? Auf wen muss man da einwirken?

    Roth: Also, erst einmal gibt es zwei Möglichkeiten. Man könnte auch, wie im Fall Schreiber, der einst geschehen, Mitglieder des Untersuchungsausschusses ...

    Detjen:... der Waffenhändler im Parteispendenskandal der CDU …

    Roth: der Waffenhändler, genau, der in Kanada war - CDU und CSU waren darin verwickelt - man könnte natürlich als Delegation des Untersuchungsausschusses oder Bundesanwaltschaft in Russland versuchen, mit Snowden solche Gespräche zu führen. Aber, das glaube ich, wird sehr schwierig, denn er hat sich ja auch verpflichtet, in Russland so zusagen eher sehr zurückhaltend zu agieren. Also wäre das Allerbeste, man würde ihn nach Deutschland holen, man lässt ihn nach Deutschland einreisen und ihn einladen und ihm garantieren freies Geleit - einen sicheren Aufenthalt. Ein freies Geleit, sicherer Aufenthalt, Einladung im Untersuchungsausschuss sollte selbstverständlich bedeuten, dass er nicht in die USA ausgeliefert werden kann, denn die USA haben ja ein Auslieferungsabkommen, das kann nicht heißen, dass, wenn Snowden nach Deutschland kommen würde, um über Straftaten aufzuklären, über Praktiken aufzuklären, er der dann Gefahr ausgesetzt wird, in die USA ausgeliefert zu werden.

    Detjen: Und die USA würden das als ungeheure Provokation empfinden, wenn Deutschland einem solchen Auslieferungsbegehren nicht nachkäme und Snowden gar mit dem Verweis auf mögliche Maßnahmen in den USA Asyl hier anbieten würde. Ist denn das deutsch-amerikanische Verhältnis nach Ihrer Ansicht schon so schwer beschädigt, dass dieser Schaden auch nichts mehr machen würde?

    Roth: Also, die ungeheuerliche Provokation ist nicht, dass im Interesse unserer Demokratie, und ich rede jetzt nicht vom parteipolitischen Interesse, im Interesse unserer Demokratie, unserer Bundesrepublik Deutschland Praktiken, die millionenfach Straftaten sind, aufgeklärt werden. Dann ist die ungeheuerliche Provokation nicht, dass die Bundesrepublik, das Parlament, ein Untersuchungsausschuss, eine Regierung Interesse daran zeigt, einen wichtigen - den wichtigen - Zeugen dafür hierher einzuladen, damit er Auskunft geben kann, damit man daraus Konsequenzen ziehen kann, sondern die Provokation ist, dass es passiert ist. Die ungeheuerliche Provokation ist, dass ganz offensichtlich von NSA unsere Bundeskanzlerin abgehört worden ist, die ungeheuerliche Provokation ist, dass offensichtlich systematisch auch Oppositionspolitiker abgehört worden sind, und nicht nur in Deutschland, sondern in vielen befreundeten Ländern der USA. Und wer gefährdet denn im Moment das gute und enge freundschaftliche Verhältnis zu den USA? Das tut ja nicht die Bundesrepublik Deutschland, wenn wir Interesse daran haben, dass alles auf den Tisch kommt, sondern das ist die Praxis der USA. Und jemand, der freies Geleit hat, der in einen Untersuchungsausschuss nach Berlin eingeladen wird, dem kann man nach unterschiedlichen Möglichkeiten hier auch die Sicherheit einräumen, dass er nicht ausgeliefert wird an die USA.

    Detjen: Aber die Frage ist, mit welcher Empörungshaltung man jetzt reagiert. Die Deutschen wussten, dass amerikanische Geheimdienste, und nicht nur die, hier aktiv sind. Wenn wir hier im Hauptstadtstudio bei etwas besserem Wetter als das heute ist, aus dem Fenster schauen, sieht man den Berliner Teufelsberg, da stehen nach wie vor noch die Reste einer großen NSA-Abhöranlage. Also, so neu war es nun auch alles nicht, dass die amerikanischen Geheimdienste hier aktiv sind.

    Roth: Ja, aber ich glaube, die Dimension ist deutlich unterschätzt worden, die Dimension ist im Sommer und Frühsommer deutlich unterschätzt worden, da muss ich auch die noch amtierende Regierung kritisieren, oder Herrn Pofalla, der ja zuständig ist oder auch den Innenminister, der im Sommer noch ganz anders geredet hat ...

    Detjen: Ist denn die Aussage, die Profalla gemacht hat, er beruft sich jetzt darauf, dass sich die Aussagen von damals - die Aussage "die Vorwürfe sind vom Tisch" - nur auf die damals bekannten Vorwürfe einer millionenfachen Ausspähung von deutschen Bürgern bezogen. Hat sich daran in Ihrer Einschätzung etwas geändert?

    Roth: Möglicherweise hat er nach gutem Gewissen oder Wissensstand diese Aussagen gemacht. Aber ich glaube, es war eben eine dramatische Unterschätzung, in welchem Ausmaße in der Zwischenzeit wir uns in einer Kernschmelze der Demokratie befinden. Für mich ist das Kernschmelze der Demokratie. Das ist nicht eine Lappalie, das ist nicht eine Maßnahme gegen Terror, sondern es wird systematisch jeder für verdächtigt erklärt, da wird systematisch Spionage betrieben, sicherlich auch mit Interesse, Wirtschaftsspionage zu betreiben, da wird auch nicht haltgemacht vor dem Vatikan. Zurecht hat Ströbele gesagt, es gibt auch Interesse, vom Papst zu erfahren, was um alles in der Welt ist das Interesse und das Recht, den Vatikan abzuhören. Da ist etwas entstanden, da würde wahrscheinlich George Orwell als Ladenhüter heute da stehen, was nichts mehr mit den Grundsätzen der Demokratie zu tun hat. Und noch einmal: Es ist keine parteipolitische Frage, ich bin sehr überzeugt, dass das auch eine CSU, eine CDU, eine SPD, eine Linkspartei, eine Regierung, einen Bundesrat und ein Parlament interessieren muss, wie stabil ist unsere Demokratie und wie wird sie ausgehebelt durch einen Datensammlungsabhörwahn. Und anders kann ich das gar nicht beschreiben, wenn innerhalb von 30 Tagen 181 Millionen Daten erhoben werden.

    Detjen: In Ihren Worten sind jetzt die USA so zusagen zum Schurkenstaat geworden ...

    Roth:... nein, kein Schurkenstaat ...

    Detjen: ... immerhin eines der Mutterländer der Demokratie, die ja auch Demokratie hierher gebracht haben ...

    Roth:... kein Schurkenstaat, ich will wirklich ...

    Detjen:... Frau Roth, wie hat sich Ihr Verhältnis zu den USA verändert?

    Roth: Nein, mein Verhältnis zu den USA hat sich überhaupt nicht geändert. Das ist für mich eine Demokratie, eine ganz zentrale Demokratie, die nicht zuletzt den Deutschen ganz viel mit nach der dunkelsten Geschichte der Nazizeit positiv auf den Weg gegeben hat, die uns auch ein Stück weit die Pressefreiheit geschenkt hat, die uns Deutsche auf den Weg gebracht hat, eine starke und lebendige Demokratie zu sein. Es geht hier nicht um die USA, sondern es geht um Praktiken, die Geheimdienste entwickelt haben, die zugelassen worden sind, die auch meine Freunde in den USA massiv verletzen. Das sind auch Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen, die Millionen von US-Amerikanern ganz offensichtlich betreffen. Und natürlich will ich wissen, was haben die Briten, was hat der britische Geheimdienst gemacht. Natürlich will ich wissen, was haben die Franzosen gemacht, was hat der deutsche BND gemacht. Es kann nicht sein, dass mit dem Argument, es geht um Sicherheit so viel an Freiheitsrechten kaputtgemacht werden. Dann stirbt auch das, was Benjamin Franklin ja gesagt hat: Wer Sicherheit und Freiheit einschränkt, wird beides am Ende verlieren.

    Detjen: Auch in den USA wird das jetzt diskutiert, auch im Senat und Repräsentantenhaus gibt es Abgeordnete, die jetzt Aufklärung wollen. Gibt es Möglichkeiten, aus Sicht der Parlamente da zusammenzuarbeiten? Das ist ja auch eine Frage, die sich dann möglicherweise an ein Präsidium des Bundestages richtet, da auf Partnerparlamente zuzugehen.

    Roth: Ja, natürlich. Es geht ganz sicher auch darum, jetzt die Interessen oder die Stärke, die Kraft von Parlamenten, die ja nicht Hinterzimmer von Regierungen sind, sondern die höchste Funktionen haben in einer Demokratie – es geht darum: Sind Freiheitsrechte, sind Menschenrechte gewährt? Und da ist auch ein Interesse an einer Kooperation mit den Kolleginnen und Kollegen in den USA und in anderen Demokratien, und übrigens auch im Interesse zu warnen, dass solche Fehlentwicklungen ...

    Detjen: Was kann da konkret im Augenblick im Verhältnis zu den USA in den laufenden Gesprächskontakten erreicht, getan werden? Ihre Kollegen vom Europäischen Rat haben gefordert, etwa das Swiftabkommen über den Austausch von Bankdaten auszusetzen, andere fordern, die Verhandlungen über ein europäisch-amerikanisches Freihandelsabkommen im Licht der NSA-Affäre vorläufig auszusetzen.

    Roth: Ich verstehe absolut und finde es ganz richtig, was das europäische Parlament beschlossen hat, ich finde auch sehr sehr gut, dass das mit einer großen Mehrheit passiert ist und dass man gesagt hat: In einer Situation, wo Millionen Daten abgefangen werden, wo ausgespäht wird, wo spioniert wird, kann man nicht auf Augenhöhe miteinander Abkommen abschließen. Deswegen: Das Bankdatenabkommen muss aus meiner Sicht auf Eis gelegt werden, das Fluggastdatenabkommen muss auf Eis gelegt werden und es gibt ein großes Interesse, nicht zuletzt von der amerikanischen Seite, das Freihandelsabkommen zu verhandeln. Da sage ich, unter diesen Voraussetzungen kann man nicht auf Augenhöhe verhandeln, sondern erst muss geklärt werden, dass nicht ausspioniert wird, denn da geht es ja um Wirtschaftsspionage ...

    Detjen:... würden Sie die Verhandlungen aussetzen?

    Roth: Ich würde diese Verhandlungen, ich würde dafür plädieren, dass diese Verhandlungen ausgesetzt werden, bis man sich sicher sein kann, dass der eine den anderen Gesprächs- und Verhandlungspartner nicht mehr ausspioniert.

    Detjen: Aber das würde ja nur weitere Gesprächsbrücken abbrechen, die gerade im Augenblick vielleicht von besonderer Bedeutung sind. Viele Parlamentarier weisen ohnehin besorgt darauf hin, dass mit der Zäsur, die im Bundestag gerade ansteht, mit der Neukonstituierung des Bundestages viele der Abgeordneten ausgeschieden sind, die über Jahrzehnte die transatlantischen Beziehungen besonders gepflegt hatten, besondere Kontakte in die USA hatten, etwa Hans- Ulrich Klose von der SPD, Ruprecht Polenz bei der Union, Harald Leibrecht, der letzte Koordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen von der FDP, die sind alle draußen. Teilen Sie die Sorge, dass da ein Stück parlamentarischer Vernetzung auch wegbricht, die im Augenblick sehr wichtig sein könnte?

    Roth: Nein, wir haben doch so eine enge Beziehung, wir sind so eng miteinander verbunden. Die USA, die Gesellschaft in den USA und unsere Gesellschaft, da gibt es so enge Verbindungen. Ich hab keine Angst, dass da Kontakte abbrechen, überhaupt nicht.

    Detjen: Es sind ja trotzdem Generationen, die geprägt wurden in der Frühzeit der Bundesrepublik durch Austauschprogramme, die in den USA mit Fullbright und mit Marshallfund-Stipendien studiert haben.

    Roth: Ja, aber jetzt sind Abgeordnete da, die auch genau diese Stipendien erlebt haben, beispielsweise mein Kollege Cem Özdemir. Der war beim German-Marshallfund, der hat in den USA auch eine ganze Weile gelebt und ist tief verbunden mit den USA. Also, da gibt es ja gute neue junge Kolleginnen und Kollegen. Und dann geht es aber auch um den Umgang von Staaten miteinander, es geht um das Interesse der Europäischen Union. Also, da müssen die ganz unterschiedlichen Ebenen auf den Prüfstand gestellt werden. Aber ich will auch noch mal sagen - das muss auch auf den Prüfstand gestellt werden: Was haben eigentlich die eigenen Geheimdienste gemacht? Haben die so etwas wie eine Spionageabwehr, haben die eigentlich gar nichts mitgekriegt? Haben die das nicht mitgekriegt, dass unsere Kanzlerin abgehört wird oder reihenweise Politiker abgehört werden oder reihenweise Staatsbürger abgehört und abgezapft werden?

    Detjen: Die Bundeskanzlerin hat im Sommer hier - im August - in einer Gesprächssendung des Deutschlandfunks und Phönix mit Blick auf die parlamentarische Kontrolle deutscher Geheimdienste gesagt, das Parlament solle mehr Möglichkeiten bekommen, so hat sie das formuliert, hier "zuzugreifen". Greifen Sie mal zu: Welche Möglichkeiten sollte denn der Bundestag haben, um deutsche Geheimdienste besser kontrollieren zu können.

    Roth: Da hoffe ich sehr, dass das PKG, also das Parlamentarische Kontrollgremium, durchaus Vorschläge macht, denn da muss man ja auch mal sagen: Habt Ihr das eigentlich gar nicht mitgekriegt. Oder was hat so ein Gremium denn für Möglichkeiten, um tatsächlich zu wissen, was sie überhaupt kontrollieren müssen. Ströbele hat mal gesagt: Ich muss ja wissen, was alles passiert, um überhaupt kontrollieren zu können, ob es sich in einem demokratischen Rahmen abspielt. Also ich glaube, dass der Legislaturwechsel, also die Tatsache, dass jetzt eine neue Legislatur anbricht, nicht heißen kann, dass die ganzen Überlegungen oder die ganzen Untersuchungen aus den letzten Monaten einfach abgeschlossen werden. Wir brauchen Konsequenzen, was die Sicherheitsstruktur angeht, übrigens nicht nur wegen NSA sondern auch wegen NSU.

    Detjen: Lassen Sie mich mal auf den Bundestag zurückkommen. Die Zäsur, die Phase, in der wir im Moment sind, bedeutet - Sie haben ja eben auch darauf hingewiesen mir Blick auf die deutsch-amerikanische Parlamentariergruppe, dass sich viele Ausschüsse des Bundestages noch gar nicht konstituiert haben, weil die Regierung noch nicht gebildet ist und das erst danach geschehen soll. Im Parlamentarischen Kontrollgremium, das Sie gerade schon angesprochen haben, sitzen noch Abgeordnete, die eigentlich schon ausgeschieden sind. Kann dieser Bundestag in der jetzigen Phase, in diesen wichtigen Wochen eigentlich parlamentarische Geheimdienstkontrolle gewährleisten, so wie er das müsste?

    Roth: Also er gewährleistet das über das Gremium, über das PKG. Ja, das läuft weiter ...

    Detjen: ... das ist doch ein Zustand des Übergangs ...

    Roth:... ja, ein Übergangszustand, so ist es. Aber es ist ja nicht so, dass ein Parlament, nur weil jetzt Koalitionsverhandlungen sind, nicht mehr existiert oder keine Funktionen mehr hat. Wir werden Sondersitzungen genau zu diesem Thema haben. Die grüne Fraktion hat eine Sondersitzung beantragt, diese Sondersitzung wird am 18. November stattfinden. Also die Tatsache, dass zwei Parteien miteinander oder drei Parteien, wenn ich die CSU als eigenständige Partei nehme, Koalitionsverhandlungen führt, kann ja nicht heißen, dass im
    Bundestag nichts mehr passiert. Bis ein Gremium wieder neu zusammengesetzt ist, ist es richtig, dass dieses Gremium weiter amtiert. Und wie wichtig es ist, zeigt ja auch jetzt der Besuch von Ströbele in Moskau und die möglichen Schlussfolgerungen und Konsequenzen, die daraus gezogen worden sind.

    Detjen: Sie haben darauf hingewiesen, Frau Roth, viel von dem, was noch vor ein paar Tagen theoretisch verfassungsrechtlich diskutiert wurde, wird jetzt ganz konkret, in diesem Fall: Sondersitzungen des Bundestages, Anträge der Opposition, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Am Ende dieses Interviews würde ich gerne mit Ihnen über dieses Thema sprechen. Die Rechte der kleinen Opposition, gerade mal 20 Prozent erreicht die in diesem Bundestag, sind so gering, dass sie nicht mal wichtige verfassungsrechtliche Quoten erreichen, etwa zur Einberufung von Untersuchungsausschüssen, zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in der Normenkontrolle. Erdrückt die große Regierung, die sich da abzeichnet, die Opposition?

    Roth: Ja, das darf nicht passieren. Und da hat auch der Bundestagspräsident Dr. Lammert in seiner Antrittsrede ja schon sehr deutliche Worte gefunden. Wir sind ja keine Mehrheitsdemokratie. Ich kenne das aus anderen Ländern, ich kenne das aus der Türkei, Herr Erdogan, der glaubt, weil er die Mehrheit hat, die absolute, braucht er keine Minderheitenrechte oder keine Minderheitsposition. Aber unsere Demokratie lebt ja auch von einer vernehmbaren Opposition und auch von den Rechten der Minderheit. Und von den Rechten der Opposition..

    Detjen: Herr Lammert hat ja auch schon angedeutet, dass man da möglicherweise durch Geschäftsordnungsvereinbarungen was tun kann. Für andere Dinge müsste man das Grundgesetz ändern, etwa was die Normenkontrolle angeht. Jetzt schütteln Sie schon bedenklich den Kopf.

    Roth: Nein, ich schüttele nicht bedenklich den Kopf, ich nicke Ihnen massiv zu, dass es ganz sicher auf einer der nächsten Sitzungen des Präsidiums auch darum gehen wird - wir haben ja gerade zum ersten Mal konstituiert, jetzt geht’s dann an die Arbeit, dass wir deutlich machen wollen, dass es klar und garantiert ist, dass die Oppositionsrechte, auch wenn nicht die 25 Prozent erreicht werden, gewahrt werden. Verfassungsrechtler sagen, der Geist unseres Grundgesetzes atmet genau das. Man braucht das Grundgesetz nicht ändern, also andere Quoren einführen, sondern dass es klar ist, dass es Minderheitenrechte geben muss, wie zum Beispiel Normenkontrolleklage, Sie haben es angesprochen, oder die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Ich glaube, da gibt es eine große Übereinstimmung. Es wird auch spannend sein, wie wir mit den Redezeiten umgehen, weil stellen Sie sich vor, wie langweilig wird eine Debatte sein, wenn in einer Stunde vereinbarter Redezeit die gesamte Opposition gerade mal zwölf Minuten Zeit hat.

    Detjen: Sie haben ja im Bundestag schon einen Vorgeschmack darauf bekommen, wie die neue sich abzeichnende Mehrheit von Union und SPD damit umzugehen pflegt. Die haben sich gleich als erstes mal zwei zusätzliche Stellvertreterposten genügt. Ist das durch die enorme Arbeit in diesem Präsidium gerechtfertigt oder war das ein Vorzeichen dafür, wie Union und SPD mit ihrer großen Mehrheit im Grunde in Zukunft umgehen werden?

    Roth: Na, unsere parlamentarische Geschäftsführerin Frau Haßelmann hat sich ja deutlich dazu verhalten. Die grüne Fraktion hat dieser Erweiterung so nicht zugestimmt, weil es eine gute Praxis war und hätte sein können, dass man sagt, pro Fraktion gibt es einen Vizepräsidenten/eine Vizepräsidentin. Jetzt hat das Parlament, die Mehrheit, es so beschlossen. Jetzt werde ich sehr eng und sehr gut mit meinen Kollegen und Kolleginnen zusammenarbeiten, aber möglicherweise wäre es besser gewesen, zu begründen, vorher zu begründen, warum es eine Erweiterung des Präsidiums geben soll.

    Detjen: Frau Roth, wir haben jetzt gut 24 Minuten miteinander gesprochen. Haben Sie jetzt eigentlich die ganze Zeit sozusagen mit angezogener rhetorischer Handbremse geredet, weil man als Vizepräsidentin eigentlich präsidialer und staatstragender reden muss, als man das als Parteivorsitzende durfte. Hätten Sie vor ein paar Wochen, als Sie noch Vorsitzende waren, anders gesprochen?

    Roth: Ich hoffe nicht. Also natürlich will ich Partei sein für Demokratie, für unser Parlament, für ein starkes Parlament, aber ich werde ja deswegen nicht zum politischen Neutrum. Ich will Partei sein – mehr als parteipolitisch agieren. Ich hoffe nicht, dass ich andere Positionen vertreten würde als Vizepräsidentin, als ich es vorher getan habe. Aber es ist nicht mehr so zusagen der parteipolitische Nahkampf, und das tut mir nach elfeinhalb Jahren auch mal ganz gut.

    Detjen: Frau Roth, vielen Dank für das Gespräch!

    Roth: Ich danke Ihnen sehr.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.