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"Fundament" und "Flucht"

Am Anfang: Kosakenkluft, Uniformen und Ikonen. Am Ende: Plastikmüll, Container, TV-Schüssel. Dazu: Dauergeröhre zwischen Bahngleisen. Auch der dickfelligste Zuschauer soll begreifen: "Die Flucht" (so der Stücktitel) der Generäle, Agenten, Spione in den politischen Wirren nach der russischen Revolution – entspricht Exil, Migration und Nomadentum unserer Tage.

Von Cornelie Ueding | 29.11.2009
    Michail Bulgakow zeigt in seinem Stück von 1928 sehr konkret in acht Stationen die Problematik von politischen Flüchtlingen. Auf dem Weg von Moskau über die Krim nach Konstantinopel und weiter bis Paris verlieren die Militärs und ihre Entourage im Kampf ums Überleben jedes Zugehörigkeitsgefühl, jeden Halt. Auf der Stuttgarter Bühne fliehen sie gleich bis ins 21. Jahrhundert. Sebastian Baumgartens Inszenierung spielt ausufernd auf der Klaviatur postmodern schicken Theaters: nonstop eingespielte Filmsequenzen auf der Hinterwand, von Eisenstein bis zum Peepshow-Strip; Bedarfsprojektionsleinwand weiter vorne, ausfahrbar – auch für Zitate von Giorgio Agamben, zum Mitlesen, weil sie beim besten Willen im Stück nicht unterzubringen waren. Dazu ein Dauer-Soundtrack: Filmmusik und Maschinengedröhn. Eine laute, ambitionierte und leider nichtssagende Aufführung. Sie legt sich weder historisch noch politisch fest - und löst nichts aus. Selbst wenn in der medizinischen Versuchsstation der Spionageabwehr gefoltert wird, gilt das Augenmerk des Regisseurs vor allem technischen Details, den kunstreichen Verrenkungen mutmaßlich verleumdeter, vom Partner im Stich gelassener Opfer. Nicht ihrer Qual. Nicht ihren erpressten Geständnissen. Das röhrt und blökt, chargiert und schießt – und umgeht das Wesentliche: Figuren und Situationen, die anrühren, aufrühren, wachrütteln.

    Ganz anders Jan Neumanns Uraufführung seines zusammen mit den Schauspielern aus Stichworten, Situationsskizzen und szenischen Improvisationen entwickelten Stückes "Fundament": Wir treffen auf sattsam bekannte Zeitgenossen, und das ist zum Kullern komisch: ein laut labernder, noch kauend weiterquasselnder Sinnsucher im voll besetzten Zug geht seinen Mitreisenden gewaltig auf die Nerven. Ein hilfloser Gutmensch mit Helfersyndrom dreht über dem wahnsinnigen Unglück von Millionen Menschen durch.

    Eine Spontan-Bekennerin im Kreativkurs "Blockaden lösen durch kreatives Malen auf Stoff" löst sich plötzlich in Tränen auf, und schon ist der Kreativ-Trainer mit seinen öligen Fertigsätzen am Ende. Und alles läuft super im Leben des viel beneideten, aktiven Erfolgsmenschen, vom Beruf bis zum Familien- und Sexleben, gerade geht er noch mal die Rede durch, die er am Abend zu halten hat, eine Liebeserklärung an den Kapitalismus und die Wahrhaftigkeit – da wird er bei einem Terroranschlag in Hauptbahnhof zerfetzt. Alle Szenen laufen auf diesen Moment zu. Das Stück zeigt in grotesk komischen, zunehmend irritierend witzigen Szenen banale Alltagsausschnitte, führt uns unsere ganz gewöhnlichen Reaktionen samt der mitmenschlichen Kommentare minutiös vor Augen, gibt sie dem Lachen preis, bis es stockt - und dann platzen die Bomben in das ganz alltägliche Leben jedes Einzelnen und zerstören mehr als die erkennbar rissige Fassade der Menschen. Das Zuschauerpodest ist auf der Drehbühne installiert. Wir sitzen auf bunten Kissen und kostbaren Teppichen, die Aussicht ist mit Tüchern verhängt, gespielt wird drum herum. Man gewinnt nichts als Einzelansichten, soll nie die Übersicht haben, ja, verliert bei dem Gedrehe restlos die Orientierung und erfährt so nebenbei, dass wir bei der Wirklichkeitswahrnehmung auf Ausschnitte angewiesen sind – und auf bloße Arrangements reagieren. Ein furioser Abend voller Gefühls-Umbrüche, knapp eindreiviertel Stunden lang, mit virtuosen Charakterdarstellern. Man lacht sich scheckig und schweigt bestürzt. So bewegend kann gerade ganz junges Theater sein, das die Möglichkeiten des Theaters ausschöpft.