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Fundamentalistische Mormonen
Hilfe für die "verlorenen Jungen"

In Utah schauen die Behörden nicht so genau hin, wenn es um polygame Familien geht. Immer wieder werden Jugendliche ausgeschlossen, die den strengen Regeln nicht mehr folgen wollen. Sie stehen dann ohne ausreichende Schulbildung, ohne Geld und ohne Familie auf der Straße. Die Diversity Foundation will helfen.

Von Sarah Kumpf | 19.04.2014
    Unterstützer der Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage haben sich in St. George, Utah, versammelt, um gegen Landverkäufe durch den Bundesstaat zu protestieren.
    Unterstützer der Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage haben sich in St. George, Utah, versammelt, um gegen Landverkäufe durch den Bundesstaat zu protestieren. (Georges Frey / Getty Images North America / AFP)
    Hyrum Barlow ist 23. Der großgewachsene, schlaksige junge Mann wuchs bis er 15 war in Colorado City auf – einem kleinen Ort mit knapp 5.000 Einwohnern zwischen Utah und Arizona im Südwesten der USA.
    Fast alle Einwohner Colorado Citys gehören zur "Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" – kurz FLDS. Sie sind fundamentalistische Mormonen und glauben an die Vielehe. Hyrum ist das vierte von 13 Kindern seiner leiblichen Mutter. Die zweite Frau seines Vaters hat noch einmal zehn oder elf Kinder, ganz sicher ist Hyrum sich nicht. Mit 15 wurde er aus der Kirche ausgeschlossen. "Ich habe meinen Stiefbruder in St. George besucht und wir haben uns mit ein paar Mädchen getroffen und sind bowlen gegangen", erinnert sich Hyrum an seinen letzten Tag in der Gemeinschaft.
    Was für andere Teenager eine Selbstverständlichkeit ist, ist in der FLDS verboten. Jungen und Mädchen wird beigebracht, sich voneinander fernzuhalten, Fernsehen, Musik und andere Freizeit-Aktivitäten gelten als Sünde.
    Als ein anderer Bruder sah wie Hyrum eines der Mädchen küsste und ihn verriet, war Hyrums Zeit bei der FLDS vorbei. Er sollte Buße tun, doch er wollte nicht. Sein Stiefvater sagte: "Dann bist du hier nicht mehr willkommen", und Hyrum musste sich am Telefon von seiner Mutter verabschieden. Der 15-Jährige stand plötzlich alleine da. Ohne Geld, ohne ausreichende Schulbildung, ohne Familie.
    Jeden Monat rufen zwei bis drei obdachlose Teenager wie Hyrum bei Shannon Price an. Sie koordiniert die Diversity Foundation, eine Stiftung, die den sogenannten "Lost Boys", also "verlorenen Jungen" hilft, die von der FLDS ausgeschlossen wurden oder abgehauen sind. Dieses Hilfsangebot hat sich bei den Jugendlichen herumgesprochen. "Sie kennen sich alle und wenn sie etwas brauchen, sagt jemand: Warum gehst du nicht zur Diversity Foundation", erzählt Shannon.
    Zu viele Männer, zu wenige Frauen
    Gegründet hat die Stiftung Zahnarzt Dan Fischer. Er ist selbst bei den fundamentalistischen Mormonen aufgewachsen und hatte früher drei Frauen. Heute ist er nur noch mit einer von ihnen zusammen. "Letztlich haben mich simple Mathematik und Biologie dazu gebracht zu gehen", erklärt Dan seine Gründe, die FLDS zu verlassen.
    Bei gleich vielen Jungen und Mädchen, die geboren werden, bleiben zu viele Männer allein, wenn andere mehrere Frauen heiraten. "Das ist keine gesunde Basis für eine Gesellschaft", sagt Fischer. Er selbst hatte das Glück, trotz der FLDS studieren zu dürfen. Viele Kinder dort werden nur notdürftig ausgebildet. Sie werden meist Handwerker und fangen schon früh an, zu arbeiten. Die Diversity Foundation soll ihnen deshalb vor allem bei der Ausbildung helfen. Doch auch soziale Fähigkeiten müssen viele von ihnen erst lernen.
    "Wir geben ihnen ein stabiles Umfeld, helfen mit der Schule und unterstützen sie emotional", sagt Brent Hofhines, der mit der Diversity Foundation zusammenarbeitet. Der Sozialarbeiter nimmt immer wieder Teenager bei sich auf; sieben Jungen waren es in den vergangenen sechs Jahren.
    Wenn die Jugendlichen die Gemeinschaft fundamentalistischer Mormonen verlassen, müssen sie zunächst lernen, sich zurechtzufinden. Die größten Herausforderungen sind der Umgang mit Alkohol, Drogen und Beziehungen. Weil sie aus einer Gemeinschaft kommen, die all das verbietet, fangen viele der Jugendlichen an zu trinken und zu kiffen, sobald die strengen Regeln sie nicht mehr zurückhalten.
    Shannon Price kennt dieses Verhaltensmuster schon. Immer wieder verhandelt sie mit Gerichten, wenn die Jugendlichen mit Alkohol oder Drogen erwischt werden. "Ich freue mich für alle, die sich gut erholt haben. Und es bricht mir das Herz, dass es nicht alle schaffen", sagt Price mit Tränen in den Augen. Sie fühlt sich verantwortlich für die Jugendlichen als wäre sie ihre Mutter.
    Hyrum ist jetzt seit acht Jahren nicht mehr Mitglied der FLDS. Mithilfe seiner Pflegefamilie und der Diversity Foundation hat er einen Schul-Abschluss gemacht und arbeitet als Handwerker in einem Freilicht-Theater. Seine Entscheidung, die FLDS zu verlassen, hat Hyrum nicht bereut.