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Fußball
Nationale Stereotype als Groteske

Die Iren sind lustig, die Italiener alt und die Deutschen gründlich: Während einer Fußball-Europameisterschaft leben Stereotype über ganze Nationen auf. So entstehen aber auch oft grotesk verallgemeinernde Zuschreibungen, die wenig mit der Realität zu tun haben.

Von Philip Banse | 07.07.2016
    Iatlienische Fußballfans haben keine Angst vor der deutschen Mannschaft im EM-Viertelfinale 2016
    Über italienische Fußballfans und ihre Nation gibt es haufenweise Klsichees. (dpa / picture alliance / Daniel Dal Zennaro)
    Fußballkommentator: "Also das Problem hat Island nicht, dass sie sich mal zurückziehen, oder sich zu passiv verhalten. Ganz anders. Sie gehen aktiv in die Zweikämpfe, sie setzen den Körper ein. Die spielen britischer und englischer als ihr Gegner." Der ARD-Kommentator Tom Bartels über das Spiel Island gegen England bei der EM vergangene Woche.
    "Nationale Stereotype sind verfestigte Vorstellungen davon, die eine ganze Nation in allem, was sie tun, in allem, wie sie handelt, charakterisiert." Rolf Parr, Literatur- und Medienwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen. Ein nationales Stereotyp besagt, dass die Deutschen pünktlich sind, ordentlich und humorlos.
    "Der Italiener", so ein anderes Stereotyp, ist gesellig, redet viel und arbeitet wenig. "Das zeigt sich im Fußball so, dass einerseits diese aufgegriffen werden und von den Nationen her den Spielern zugeschrieben werden, aber auch wieder umgekehrt von den Spielern – wenn sie denn ordentlich, deutsch, geradeaus, siegreich spielen – das ganze wieder auf die deutsche Nation übertragen wird. Denn die Nationalmannschaften gelten ja immer als repräsentative Auswahlen für ein ganzes Volk."
    "Today we are talking about – ze Germans." Ein US-amerikanischer Sport-Moderator warnte anlässlich der WM 2014 in Brasilien die Welt vor "den Deutschen": Die deutsche Nationalmannschaft sei eine "angsteiflößende Fußball Todes-Maschine". Nach den 4 Toren gegen Portugal prophezeite der Moderator einen "deutschen Blitzkrieg": "And the four goals against Portugal where no fluke. I shouldn´t have to tell you this, but watch out for the German Blitzkrieg."
    Stereotype machen Nationen greifbar
    "Stereotype jeder Art sind zunächst einmal Abkürzungen. Das, was man mit ganz viel Worten beschreiben müsste, kann man mit einem Stereotyp auf den Punkt bringen", sagt der Literatur- und Medienwissenschaftler Rolf Parr.
    Für die Sportberichterstattung sind solche Stereotype ein Geschenk, denn man kann in den Berichten abkürzen. Man braucht nicht mehr lange beschreiben, wie ein Spiel aussah, sondern man kann sagen: Deutschland hat typisch deutsch gespielt.
    "Dann sieht das natürlich wie das größtmögliche Stereotyp eines Nationalcharakters aus." Gesteht der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz ein: "Aber sie dürfen eins nicht vergessen: Das sind harmlose Leute, Fußballspieler, auch die Fans sind zum größten Teil harmlos, und wenn sie kommunizieren, kommunizieren sie nicht als Geisteswissenschaftler oder als Soziologen, sondern als Menschen, die sich als vier, fünf Worten ein Bild von ihrer Welt machen und da sind Verkürzungen legitim."
    Grotesk verallgemeinerndes Bild einer Nation
    Wenn jedoch Journalisten und Fußball-Kommentatoren diese verallgemeinernden Zuschreibungen werden auf ganze Nationen übertragen, lassen sie bei Millionen Menschen ein grotesk verallgemeinertes Bild dieser Nation entstehen, das dann auch politisch wirkt und den Blick auf das Individuum verstellt. In den letzten zehn Jahren jedoch sind die Nationalmannschaften so bunt geworden wie die Gesellschaften, die sie repräsentieren: In der aktuellen deutschen Nationalmannschaft haben die Spieler Eltern aus Ghana, Russland, Polen, Spanien, Tunesien, Albanien, der Elfenbeinküste, dem Senegal und der Türkei. Sie spielen in ganz Europa und selbst Nationaltrainer kommen oft nicht mehr aus dem Land, dessen Nationalmannschaft sie trainieren.
    Der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz: "All das führt letztlich dazu, dass der Blick, den man auf das Spiel hat, mit den alten Klischees kaum mehr vereinbar ist, und deswegen spielen Stereotypen kaum mehr eine Rolle. "
    "Ja, ich glaube, dass gerade bei dieser Europameisterschaft alles, was irgendwie mit Nationalem zu tun hat, ein wenig vorsichtiger behandelt wird und ein wenig vorsichtiger artikuliert wird, ein wenig vorsichtiger geäußert wird. Es ist eine Europameisterschaft mit national gebremstem Schaum", sagt der Essener Literaturwissenschaftler Rolf Parr. Sensibilisiert hätten die Reporter offenbar der Brexit, die Flüchtlinge, die Europa-Krise und Wahlsiege nationalistischer Parteien. Wenn bei der EM nationale Stereotype werden, so seien sie in der Regel positiv konnotiert.
    Stereotype von Nationen versus Personen als Narrativ
    "Sehr positiv wurde gesprochen über die Bärte der isländischen Spieler. Das sind Leute mit Bärte und Herz. Isländer sind Leute mit Bärte und Herz. Das ist so eine Parzelle eines kleinen Mini-Stereotyps, das im Moment ganz positiv besetzt war." Parr hat die Berichterstattung über Fußball-Welt- und Europameisterschaften der letzten 14 Jahre untersucht und stellt fest: Erzählungen über Fußball werden weniger entlang nationaler Stereotype entwickelt.
    Zentrales Narrativ sind mehr und mehr Personen: TV-Reporter: "Portugal – das ist vor allem Ronaldo, Ronaldo und noch mal Ronaldo. Und ein bisschen Renato Sanchez."
    "Da hat sich vor allem gezeigt, dass die Nationalstereotype hinter den Spielern zurückstehen, aber auch, dass anstelle der Nationalstile so etwas die Trainer-Stile deutlich an dominanzgewinnen. Dann steht zum Beispiel "Tikitaka-Fußball á la Löw" gegen einen Mauerfußball anderer Mannschaften."
    Diese Entwicklung habe schon 2002 begonnen, mit der WM in Deutschland vor 10 Jahren Fahrt aufgenommen, weil vor allem klassische deutsche Stereotype nicht mehr passten - weder zum Spiel der Mannschaft, als auch zum Erscheinungsbild des Gastgeberlandes.
    Nationale Stereotype dienen jedoch nicht nur der verkürzenden Beschreibung, sondern auch der Identifikation, sagt der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz: "Es ist vielleicht nicht mehr diese naturgeborene Identifikation früherer Jahrzehnte, sondern eine artifizielle Identifikation mit einer bestimmten Mannschaft und ihren Qualitäten, die zunehmend Qualitäten auch von überragenden Einzelspielern sind, oft auch von Qualitäten eines bestimmten Spielsystems, das man mit einem berühmten Trainer verbindet. Das war früher sicher nicht so stark. Wenn allerdings alle nationale Konturen verfließen, dann ist der Sinn einer Welt- oder Europameisterschaft schlicht nicht mehr gegeben. Dann hätten wir es tatsächlich mit der Konkurrenz von Markenprodukten zu tun – so wie auf Konsumgütermärkten."