Samstag, 20. April 2024

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Fußball und Kultur in Nairobi
Kickend aus dem Slum

Armut, AIDS, schlechte Bildungschancen: Der Alltag vieler junge Leute in Nairobi ist hart. Die Organisation Mathare Youth Sports Association unterstützt sie dabei, ihr Schicksal in sportlichen Ehrgeiz zu wandeln. Als Fußballer, Filmemacher oder Autoren zeigen sie, was es heißt, am unteren Ende der Gesellschaft um Anerkennung zu kämpfen.

Von Tilo Mahn | 20.07.2019
Kinder spielen vor dem Eingang der MYSA Mathare Library in einem Slum in Nairobi
Die MYSA Mathare Library in einem Slum in Nairobi ist eins der Projekte der Mathare Youth Sports Association, kurz MYSA. 1987 wurde die Hilfsorganisation gegründet (Deutschlandradio / Tilo Mahn)
Nicholas Kimeu blickt über die Wellblechdächer und ausgewaschenen Straßen vor seiner Hütte. Sein ausgestreckter Arm deutet über Mathare, eines der zahlreichen Slums in Kenias Hauptstadt Nairobi.
"Das hier ist die Wirklichkeit, die gelebte Wirklichkeit. Wir spüren die Trennung, die große Kluft zwischen arm und reich jeden Tag. Und der Grund dafür liegt auch in der Politik und im System. Wenn reiche Leute andere reiche Leute dafür bezahlen, damit Handlanger dann die Ärmsten verantwortlich machen, ist das wie eine Nahrungskette, an deren Ende wir stehen. Man ist Spielball des Systems, nur auf sehr verschiedenen Ebenen."
Geschichten über das Leben im Slum
Einige Wasserkanister und ein wackliges Regal lehnen an der Wand vor der Holzhütte. Früher hat Nicholas Kimeu hier mit einem Fußball auf die improvisierte Torwand geschossen. Heute, mit 27, fotografiert er Bewohner von Mathare und schreibt Geschichten über das Leben im Slum. Geschichten über knapp eine Million Einwohner, die eingebettet zwischen Häuserblocks und Rohbauten aus Beton in den Tälern der Stadt hausen. Die Idee zum Schreiben und Fotografieren hat Nicholas Kimeu in einem Kurs in der einzigen Bibliothek von Mathare bekommen.
"Die einzige Möglichkeit, am Angebot der Bibliothek teilzuhaben, war der Sport. Häufig kommen Sozialarbeiter einfach in Schulen. Dort verteilen sie Trikots und Fußbälle. Und dann nehmen sie uns mit auf den Fußballplatz. Um uns zu trainieren und Kindern Fußballspielen beizubringen. Plötzlich waren wir in einer Liga. Und dann haben wir erstmal einfach immerzu Fußball gespielt."
Selbstvertrauen durch Sport
Und sich nach und nach immer häufiger in der Bibliothek getroffen, um über das Leben im Slum zu sprechen und was es bedeutet, hier groß zu werden. Die "MYSA Mathare Library" ist eins der Projekte der Mathare Youth Sports Association, kurz MYSA. 1987 wurde die Hilfsorganisation gegründet. Sie gehört mittlerweile zum Leben im Slum dazu - als Anlaufstelle für Beratung, als Ideengeber und als eine Art Kultur- und Sportzentrum. Die Mitarbeiter wollen die Jugend stärken, ihnen soziale Kompetenzen und Selbstvertrauen durch Sport vermitteln.
Kinder sitzen auf dem Boden der Bibliothek und schauen sich Bücher an
Über Fußball zum Lesen - viele Kinder kommen über den Sport in Kontakt mit der Hilfsorganisation (Deutschlandradio / Tilo Mahn)
Michael Maina ist Programm-Manager bei MYSA und selbst in einem Slum groß geworden. "MYSA arbeitet in 16 verschiedenen Vierteln in den Eastlands von Nairobi. Daraus hat sich eine Fußballliga entwickelt - mit Saisonspielen übers Jahr verteilt. Die besten Teams jeder Altersgruppe spielen um die Meisterschaft. Wie eine Champions League von MYSA. Jedes Jahr im Dezember finden dann die Finalspiele statt."
Über den Fußball in Kontakt kommen
Auf dem Weg durch Mathare begrüßen sich Mitarbeiter von MYSA und Bewohner mit Handschlag und Ghettofaust. Alle paar Meter bleibt Michael Maina stehen, um sich über den Alltag oder Fußball zu unterhalten. Ein kurzer Spruch, ein schnelles Lächeln. Hammerschläge und Radiomusik begleiten die Gespräche. Süßlich brennender Geruch beißt in der Nase. Der Staub auf den Straßen wirbelt durch die Luft, als Michael Maina einer Gruppe von Kindern einen Ball zurückschießt.
"Wenn man hier mit einem Fußball auftaucht, kommen sofort Kinder, um gegen den Ball zu treten. Wenn sie dann ein bisschen gekickt haben, hat man ihre Aufmerksamkeit und kann mit ihnen auch über andere Dinge reden - ihre Rechte oder wie sie sich von Drogen fernhalten können. Das ist viel besser, als die Kinder einfach zusammenzutrommeln und ihnen stundenlange Vorträge zu halten."
Teilnehmer werden zu Mitarbeitern
MYSA lebt nicht nur von Spenden. Die Organisation verdient inzwischen auch eigenes Geld. Am Hauptsitz in Komarock im Osten Nairobis bieten Mitarbeiter und Programmteilnehmer Fitnesskurse und Physiotherapie an. So können Projekte und Personal weiter finanziert werden. Die Teilnehmer bekommen Punkte, wenn sie bei Fußballturnieren, bei Aufräumaktionen in Mathare oder AIDS-Präventionskursen mitmachen. Michael Maina will Anreize schaffen, etwas im Slum zu verändern.
"Wenn ich in Mathare bin, sehe ich, welche Strapazen die Menschen hier für einfachste Dinge wie Wasser, Essen und eine halbwegs ordentliche Bleibe auf sich nehmen müssen. Das lässt mich jedes Mal auch demütig werden. Aber selbst, wenn die Bewohner hier auch mal woanders hinkommen, vielleicht sogar die Möglichkeit haben, das Ausland zu sehen, wissen sie trotzdem zu schätzen, wenn sie mit ihrem Leben hier so gut wie möglich auskommen können."
"Ein Zyklus, der immer wieder neu anfängt"
Kinder laufen Slalom um die Holzstangen vor den Hütten und zwischen geparkten Mofas. Jahrelang war das auch der Weg für Nicholas Kimeu zur Bibliothek - einem bunt bemalten, dreistöckigen Betonhaus am Ende der Gasse voller Garöfen und Holztische. In seinen Texten beschreibt Nicholas Kimeu den häufig niederschmetternden Alltag, aber auch die fröhliche Stimmung in Mathare. In einem neuen Projekt setzt er sich dafür ein, die Straßen noch vor der Regenzeit zu befestigen und Bäume im Viertel zu pflanzen.
Michael Maina und Nicholas Kimeu stehen in dem Slum von Nairobi und zeigen auf die Wellblechdächer
Michael Maina und Nicholas Kimeu wollen Anreize schaffen, etwas im Slum zu verändern (Deutschlandradio / Tilo Mahn)
"So viele Menschen sind hier aufgewachsen. Und dann leben sie halt hier. Die nächste Generation führt das gleiche Leben. So entsteht ein Zyklus, der immer wieder neu anfängt. Dadurch ändert sich an der Situation hier aber rein gar nichts. Ich wollte aber unbedingt etwas tun. Weil, wer weiß, vielleicht verlasse ich eines Tages diesen Ort. Aber vorher will ich hier etwas säen für die Zukunft. Damit die Leute nicht nur rumsitzen, sondern verstehen, dass nur vom reinen Wunsch hier wegzukommen sich an diesem Ort nie etwas ändern wird."
An der Wand neben dem Spiegel in Nicholas Kimeus Hütte hängt noch das allererste Foto, das er in Mathare gemacht hat: Zwei Kinder blicken hinter einer Ecke hervor in die Kameralinse. Dahinter verliert sich eine Gasse entlang winziger Rinnsale im rötlich lehmigen Boden vor einem Teppich aus zerdrückten Plastikflaschen. Vor sechs Jahren konnte sich Nicholas Kimeu dank MYSA seine erste Kamera leihen. Seitdem haben er und andere es sich zur Aufgabe gemacht, ihr Viertel so zu zeigen, wie es tatsächlich ist - und wie es sich Tag für Tag verändert.