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Fußballer ohne Ball

Französische Sportwissenschaftler haben in einer Studie untersucht, wie lange die Profis der ersten französischen Fußballliga in Ballbesitz sind. Das überraschende Ergebnis: Im Schnitt führt ein Spieler den Ball weniger als eine Minute pro Spiel.

Von Volker Mrasek | 24.02.2010
    "Debuchy, Debuchy."

    Szenen aus einem Spiel des OSC Lille in der ersten französischen Fußballliga. Was die Fernsehzuschauer nicht ahnten: Auf die Profis waren in dem Moment nicht nur TV-Kameras gerichtet, sondern auch die von Christopher Carling. Der Brite ist Leitender Sportwissenschaftler in Diensten des OSC Lille:

    "Wir wollten wissen, welche Strecken die Spieler während einer Meisterschaftspartie überhaupt mit dem Ball am Fuß zurücklegen. Wie schnell laufen sie dabei? Gibt es Unterschiede zwischen zentralen und Außenspielern? Wir haben eine Vielzahl von Daten erhoben."

    "Was ist der heute wieder stark! Was läuft der für ein Pensum herunter!"

    Seit Fußballprofis von Multikamera-Systemen auf Schritt und Tritt verfolgt werden, ist der Respekt für ihre sportlichen Leistungen gestiegen. Manche von ihnen rennen in 90 Spielminuten elf oder zwölf Kilometer über den Platz.

    Chris Carlings neue Studie sorgt nun ein weiteres Mal für Verblüffung. Denn sie zeigt: Fußballer mögen zwar weite Wege gehen. Doch dabei haben sie äußerst selten das, was man von ihnen eigentlich erwartet: den Ball am Fuß.

    "Im Durchschnitt laufen unsere Spieler pro Begegnung 190 Meter mit dem Ball. Das ist nur ein Bruchteil der Strecke, die sie insgesamt zurücklegen - nicht einmal zwei Prozent davon. Zeitlich gesehen sind die Spieler im Schnitt weniger als eine Minute lang wirklich in Ballbesitz."

    190 Meter - das ist einmal den Platz hoch und runter. Mehr nicht! Und ein Ausdruck des heute vorherrschenden Direktpass-Spiels, bei dem der Ball sofort an den Nebenmann weitergegeben wird. Lange Dribblings mit dem Spielgerät am Fuß? Fehlanzeige! Nach Chris Carlings Analyse trennen sich die Profis im Durchschnitt schon nach 1,1 Sekunden wieder vom Ball.

    Es gibt allerdings Unterschiede zwischen Verteidigern, Stürmern und Mittelfeldspielern. Und das auch beim Tempo, mit dem sie den Ball führen, wie Carling ermittelte:

    "In unserer Studie haben wir herausgefunden, dass rechte und linke Mittelfeldspieler den meisten Ballbesitz haben. Und dabei sind sie auch noch am schnellsten unterwegs, zum Teil mit über 30 Kilometern pro Stunde. Das heißt, sie sprinten mit dem Ball am Fuß über den Platz. Aus einigen Vereinen haben wir ältere Daten, zum Beispiel aus der ersten englischen Liga. Da kann man sehen, dass die Zahl der Sprints im Spiel heute zehn bis 20 Prozent höher ist, als noch vor zehn Jahren."

    Was lässt sich nun aus der neuen Studie ableiten?

    Können Profimannschaften das Training mit dem Ball am Fuß ruhig vernachlässigen, weil es im Spiel sowieso kaum dazu kommt? Oder sollten sie - im Gegenteil - mehr Tempo-Dribblings einbauen, weil der Spitzenfußball immer schneller wird und von den Aktionen mit Ball häufig die entscheidenden Impulse in einer Partie ausgehen?

    Chris Carling rät zu Letzterem - und empfiehlt vor allem Mittelfeldspielern Sprinteinheiten mit Ball:

    "Wenn man das Ziel hat, sich weiterzuentwickeln, dann muss man wissen, was das Spiel heute von Profis verlangt. Und wenn das schnelle Sprints mit dem Ball sind, sollte man versuchen, genau dorthinzukommen."