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Fußnotenwahnsinn

25000 Doktorarbeiten werden jährlich in Deutschland verfasst. Beachtung finden die wenigsten, es sei denn, sie sind von namenhaften Politikern. Geraten sie dann unter den Plagiatverdacht, ist das mediale Interesse groß. Wenn auch schon längst nicht mehr so groß, wie noch zu Zeiten eines gewissen Herrn zu Guttenberg.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 03.08.2013
    Wenn dieser Plagiatswahnsinn in einigen Jahren vorüber ist: Was wird dann bleiben? Wird man sich die Augen reiben und verwundert fragen, wie es dahin kommen konnte, dass Fußnoten über Politikerkarrieren entscheiden? Wird man, wenn endlich jede vor Jahrzehnten verfasste Doktorarbeit durchgeprüft wurde, allmählich empörungsmüde werden und sich sagen, dass es sich bei diesen Dissertationen um akademische Pflichtübungen handelt, die selbstverständlich nicht den pathetisch formulierten Anspruch erfüllen, die Wissenschaft durch neue Erkenntnisse weiter zu bringen.

    Wie sollte das denn gehen bei 25000 deutschen Promotionen jährlich, 100.000 in vier Jahren, einer Viertelmillion in einem Jahrzehnt? Es widerspricht einfach der statistischen Wahrscheinlichkeit, dass an den deutschen Universitäten soviel Bahnbrechendes gedacht und geschrieben wird. Und es genügt ein bisschen Lebenserfahrung, um zu wissen: 99 Prozent aller Doktorarbeiten sind Schaumschlägerei, kein Mensch möchte sie lesen, niemand wird durch sie klüger, ihr einziger Zweck liegt in der Erfüllung eines Initiationsrituals.

    Wie konnte es kommen, so wird man sich fragen, dass diese simplen Grundtatsachen in Vergessenheit gerieten und von einem pharisäerhaften Fußnoten-Fieber überlagert wurden? Ein Element der Antwort heißt natürlich Guttenberg. Die schnöselhafte Arroganz, mit der dieser Turbo-Doktorand jegliche Zweifel an seiner Arbeitsweise abzubügeln versuchte, stachelte den Verfolgungseifer und die Enthüllungswut der anonymen Plag-Masse erst richtig an. Und diese gruselige Wesenheit, der militant-intelligente Schwarm, der in den Tiefen der Gesellschaft verborgene Internet-Geist war für das Publikum ebenso neu wie faszinierend.

    Danach, im Fall Schavan, mischte sich in die allgemeine Freude an der Politikerhatz schon etwas Unbehagen an der bigotten Prozedur. Die Unaufhaltsamkeit der auf bloßen Formalien basierenden Demontage erzeugte beim Zuschauer ein Gefühl der Qual, das jetzt im Hinblick auf das Werk von Lammert überwiegt. Denn obwohl Lammerts anonymer Ankläger nach eigenem Bekunden seit Mitte Juni 250 Arbeitsstunden in seine Privatermittlungen investiert und nichts Anstößiges zutage gefördert hat, funktioniert die öffentliche Denunziationsmechanik wie gewohnt: Lammert – Plagiat – Vorwurf – Plagiat – Lammert, schreiben die Zeitungen, berichtet das Fernsehen, und auch wir beschäftigen uns gerade damit.

    Doch es sieht so aus, als seien die Empörungstanks der Menschen inzwischen leer geworden. Das mediale Erregungsbenzin der Marke Plagiatsverdacht ist aufgebraucht. Mit etwas Abstand wird man auf diesen Wahnsinn zurückschauen und feststellen, dass der entfesselte Moralsturm keiner Form von Rechtlichkeit diente, sondern eine Eruption von Beliebigkeit war. Einige traf es härter, andere gar nicht. Man wird auch feststellen, dass sich im akademischen Betrieb nicht das Mindeste geändert hat, und dass bloß der Zeitpunkt der Kampagne gegen den Bundestagspräsidenten, acht Wochen vor der Bundestagswahl, ein paar Zweifel daran hinterlässt, ob wirklich alles reiner Zufall war.