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Futbolpolitika - Fußball und Politik in Russland (1)
Wie das Olympiadebüt 1912 instrumentalisiert wurde

Die WM 2018 ist umstritten. Viele Gründe sind nachvollziehbar, doch ein Thema ging unter: Russland hat eine 120 Jahre alte Fußballtradition. Ob Zarenreich oder sozialistische Körperkultur, ob Stalins Terror oder Kalter Krieg – stets war Fußball ein Vergrößerungsglas auf die russisch-sowjetische Geschichte.

Von Ronny Blaschke | 09.06.2018
    Das Teamfoto zeigt die russische Olympia-Auswahl 1912.
    Das Teamfoto zeigt die russische Olympia-Auswahl 1912. (Olympisches Komitee Schweden)
    Auf einer holprigen Wiese schieben sich Männer in langen Stoffhosen einen Ball zu. Einige tragen schicke Lederschuhe und locker gebundene Krawatten. Ihr Altersunterschied ist beträchtlich. So zeigen Fotos die Anfänge des russischen Fußballs an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Anke Hilbrenner, Professorin für Neuere Geschichte Osteuropas an der Universität Göttingen, forscht regelmäßig über Fußball.
    "In Russland kann man das sehr gut sehen, dass es vor allen Dingen Facharbeiter sind oder eben Ingenieure, die aus dem Ausland kommen, die Fußball spielen oder die den Sport dann auch importieren. Auch für andere ost- und mitteleuropäische Länder gilt, dass Sport zunächst auf den Internaten der Oberschicht dann teilweise von ausländischen Lehrern eingeführt wurde. Und dementsprechend ist es schon sehr offensichtlich, dass es in den ersten Jahren etwas ist, was mit einem Arbeitersport eigentlich wenig zu tun hat."
    Sport als Ablenkung für die Fabrikarbeiter
    Im Russischen Kaiserreich setzte die Industrialisierung spät ein, aufgrund von lange währender Leibeigenschaft und landwirtschaftlicher Prägung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen vor allem Arbeiter, Seeleute und Unternehmer aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien ins Land. Sie prägten Kultur und Sport. 1860 gründeten Engländer in Sankt Petersburg den Sportklub "Newa". Bürgerliche Vereine für Unterhaltung und Gesundheit entstanden. Der Osteuropa-Forscher Martin Brand ist einer der Herausgeber des Sammelbandes "Russkij Futbol".
    Historische Fußball-Spielszene aus Russland.
    Historische Fußball-Spielszene aus Russland (Archiv Juri Lukosjak)
    "Aber es ging dann relativ schnell los, dass das auch ein Sport für Fabrikarbeiter wurde. Einige Fabrikbesitzer, die haben tatsächlich auch angefangen, quasi den Sport als Unterhaltung oder als Ablenkung, als sinnvolle Freizeitbeschäftigung für ihre Arbeiter zu nutzen. Und haben auch Plätze errichtet. Aber es ist natürlich klar: die Zeiten der Industrialisierung in Russland sind für die unteren Gesellschaftsschichten sehr harte Zeiten gewesen. Da gab es nicht viel Freiraum, um jetzt auch noch Fußball zu spielen."
    Etablierte Sportgeschichtsschreibung in Russland gibt es nicht
    Das Gefälle zwischen Arm und Reich war enorm. In 500 Fabriken schufteten Arbeiter auch an Wochenenden und Feiertagen. Auf Fußballplätzen zwischen Produktionshallen wurden sie mitunter bei Laune gehalten. Das erste öffentliche Fußballspiel fand 1893 in St. Petersburg statt, als Pausenfüller an einer Pferderennbahn. 1901 folgte die erste Stadtmeisterschaft. Langsam entstand ein lokales Wettbewerbssystem, doch bislang gibt es kaum verlässliche Forschungen dazu, sagt Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau.
    "Es ist ja ein merkwürdiger Zustand, dass es eine etablierte Sportgeschichtsschreibung in Russland eigentlich nicht gibt, sondern dass sich in der Hauptsache Sportjournalisten, ehemalige Sportler oder ehemalige Funktionäre mit der Sportgeschichte beschäftigen."
    "Sportlicher Tsushima" bei Olympia 1912
    Forscher wie Nikolaus Katzer, Anke Hilbrenner und Martin Brand möchten die anstehende WM nutzen, um die Fußballgeschichte bekannter zu machen. Der Autor Martin Brand hat an einer Ausstellung zu "Russkij Futbol" mitgewirkt. Sie ist während der WM im Deutsch-Russischen Museum in Berlin zu sehen. In der Plakatausstellung spielt auch die Gründung des Allrussischen Fußballverbandes 1912 eine Rolle. Und die internationale Pflichtspielpremiere des Nationalteams bei den Olympischen Spielen im selben Jahr in Stockholm. Martin Brand berichtet über den ersten Olympia-Gegner.
    "Finnland war damals noch ein Teil des Russischen Reiches. Und da hatte das Russische Nationale Komitee auch ziemlich gegen protestiert, mussten dann auch noch Fußball gegen Finnland spielen, im allerersten Länderspiel, haben das knapp mit 1:2 verloren. Und das wurde in den russischen Zeitungen als Zeichen gedeutet, wie verrottet das zaristische System ist. Dass das Zarentum eigentlich nicht in der Lage ist, Russland würdig international zu repräsentieren."
    Es sollte schlimmer kommen: An einem regnerischen Tag verlor die russische Auswahl gegen Deutschland 0:16. Für eine Petersburger Zeitschrift war dies ein "sportliches Tsushima", in Anlehnung an die verlorene Seeschlacht im Russisch-Japanischen Krieg 1905. Doch schon bald darauf begann der Erste Weltkrieg, gefolgt von der Russischen Revolution 1917. An das Alltagsvergnügen Fußball war nicht mehr zu denken. Vorerst.