Donnerstag, 28. März 2024

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Futurist und Sprachmagier

"Von hundert, die ihn gelesen haben, nannten ihn fünfzig einfach einen Graphomanen, vierzig haben ihn als Unterhaltung gelesen und sich gewundert, weshalb sie von all dem keine Unterhaltung hatten, und nur zehn, die Futuristen-Dichter und die Philologen der Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache, kannten und liebten diesen Kolumbus neuer poetischer Kontinente..." schrieb Majakovskij 1922 in seinem Nachruf auf den früh verstorbenen Velimir Chlebnikov und befand: "Chlebnikov ist kein Dichter für den Gebrauch. ... Chlebnikov ist ein Dichter für Produzenten."

Brigitte san Kann | 08.01.2004
    Peter Urban folgte Majakovskijs Diktum, als er Anfang der siebziger Jahre eine zweibändige Ausgabe mit Werken und Schriften Chlebnikovs herausbrachte und damit den Dichter erstmals deutschen Lesern vorstellte: Er ermunterte Gedicht-"Produzenten", Chlebnikov ins Deutsche zu übertragen. Oskar Pastior, nach eigener Definition "Selbstschreiber", steuerte damals 27 Nachdichtungen bei, die nun der Basler Verlag Urs Engeler Editor mit den russischen Originalen zu einem Band zusammengefasst hat. Beigegeben ist eine CD, denn – "Chlebnikov kann man nicht lesen." – wie schon Majakovskij schrieb. Nun kann man ihn hören, mit Oskar Pastiors Stimme.

    Mein Chlebnikov hat Pastior seine Nachdichtungen genannt und "sein" ist der russische Dichter in mehr als einem Sinne: Chlebnikov, der Futurist und Sprachmagier, gehört zweifellos zu Pastiors poetischen Ahnen. Nachdichtend hat sich Pastior den großen Russen zu eigen gemacht, denn übersetzen im traditionellen Verständnis lässt er sich nicht: Chlebnikovs futuristische Dichtung lotete den Reichtum der russischen Sprache in nie dagewesene Tiefen aus, sie ist Sprachschöpfertum und Spracherforschung zugleich. Magie und Wissenschaft schießen in ihr zusammen; sie war es, die Linguistik und Literaturwissenschaft epochale Impulse verlieh – man denke nur an die Formale Schule, die ihre ersten Instrumente an ihr schliff, oder an den Strukturalisten Roman Jakobson, für den Chlebnikov schlicht der "größte Dichter des Jahrhunderts" war.

    Chlebnikov, von Hause aus Mathematiker und Biologe, befreite die Sprache vom Ballast der Bedeutung, ihn interessierte das "Wort als solches", sein Klang, seine Beschwörungsqualitäten. Er führte die Wörter auf ihren Ursprung zurück, auf Wortwurzeln, die vielleicht einmal am Beginn der Sprache gestanden haben. Ein archaischer Fundus, Urwörter, aus denen unter Einsatz der gewaltigen Produktivkräfte der russischen Sprache mit ihren Ableitungs-, Kombinations- und Flexionsmöglichkeiten neue Schöpfungen einer zukünftigen Sprache entstanden, "Gneis und Genesis", wie Pastior sagt, Splitter einer allumspannenden "Sternensprache", von der Chlebnikov träumte.

    "Invokation, Nominierung, Beschreibung und Beschwörung, Appell", beschreibt Pastior in einer Nachbemerkung Chlebnikovs Erfindung und seine Nachschöpfung: "Der Name warnt vor sich selber und seinesgleichen wie vor seiner Aussprechbarkeit, starrt gebannt in den Zeitflug, den er markiert – mein "feurott" ist mot à mot der "žar-bog" Chlebnikovs, dem das G ins Verbum ("go" – troll dich") ausgelagert wurde ... Aus dem Zeitpunkt "jetzt" entstehn die personifizierten "jezzen", aus "nun" ihre finster personifizierte Art und Weise. Und das geopferte G in seiner widerspäuzigen Häufung wird als Gamma gleichzeitig zur Nummer 3 im griechischen, zur 4 im kyrillischen wie zur 7 im lateinischen Alphabet, siehe Glutenkiste oder Gelsenkirchen. Lautes Menetekel einer Neo-Neon-Zukunfts-Zuckung."
    Soweit Oskar Pastior bei seinem Versuch, "nachträglich dem Vorgang des Übersetzens auf die Spur zu kommen". Leider unternimmt er solche Analysen bei sehr wenigen Gedichten, und so bleiben seine poetologischen Rezepturen weitgehend unter Verschluss. Einen Blick in seine sprachalmimistische Werkstatt gewährt der Dichter aber doch: Geradezu anrührend beschreibt er, dass ihm vor über 30 Jahren, als er sich für Peter Urbans Chlebnikov-Ausgabe rüstete, eine gründliche "semantisch-etymologisch-syntaktische Textanalyse" an die Hand gegeben wurde, in der eine Zeile des Dichters oft eine ganze Seite beanspruchte: "Sie struktural zu entziffern war schon spannend: was da alles innerhalb des Russischen passiert; und was das Deutsche, wenn auch anders, aber analog dazu, an Wort- und Syntagmen-Neubildungsmodalitäten bereithalten könnte, sollte, müßte..."

    An Chlebnikov, schreibt Pastior, habe ihn "gerade die Unmöglichkeit, seinen Wortgeflechten mit einer Sinn-, Klang-, Rhythmusübertragung beizukommen" gereizt. Pastior ist ihnen beigekommen – mit analogen Schöpfungen eigenen Rechts, Gedichten "nach" Chlebnikov. Geholfen hat ihm dabei, neben deutschen Wörterbüchern, seine Mehrsprachigkeit, ein, wie er schreibt, "eklektisches" Germanistikstudium und wohl auch die Tatsache, dass er den Klang des Russischen noch im Ohr hatte – ein Relikt der vier Nachkriegsjahre, die der in Siebenbürgen geborene Dichter in sowjetischen Arbeitslagern verbrachte. Auch in diesem Sinne könnte man Pastiors Äußerung verstehen, die "Arbeit an und mit Chlebnikov" sei für ihn "stellenweise wie ein Freiheitsrausch" gewesen.

    Oskar Pastior
    Mein Chlebnikov
    Gedichtband russisch-deutsch mit CD
    Urs Engeler Editor, 112 S., EUR 24,-