Donnerstag, 25. April 2024

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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

An einem Herbstmorgen im Jahr 2023 tuckert vor der amerikanischen Ost-Küste ein grünes U-Boot mit rosa Punkten herum, das Yabba-Dabba-Doo heißt. Es gehört dem Ökopiraten Philo Dufresne. Vor Long Island entdeckt Philo einen Eisbrecher des Großindustriellen Harry Gant, der zu Ölbohrungen in die Antarktis unterwegs ist. Das muß verhindert werden. Philo und seine Mannschaft bombardieren das Schiff mit einer riesigen Torte, garnieren ihr Werk mit Schlagsahne, schmuggeln Killerviren in das Navigationssystem und legen alles lahm. Philo entert per Parabolantenne das Fernsehnetz des gesamten Kontinents, berichtet live von seiner Mission und bestellt als Extra-Gemeinheit 2000 Pizzen mit Sardellen für Harry Gant. Zum Schluß feuern die Ökopiraten noch eine koschere Salami auf das Schiff ab. Der Eisbrecher sinkt. Die 14-köpfige Besatzung der Yabba-Dabba-Doo ist zufrieden - Teamarbeit ist ihre Stärke.

Maike Albath | 06.05.1998
    "Ich habe einen Freund, der sagt, daß es in meinen Büchern immer um Gruppendynamik geht", so Matt Ruff. "Mein Vater kommt aus Detroit, meine Mutter ist eine Missionarstochter und wuchs in Süd-Amerika auf, also meine ganze Erziehung war eine Art multikulturelles Experiment. Deshalb bringe ich in meinen Büchern gerne völlig verschiedene Persönlichkeiten zusammen, Menschen und Tiere und andere Dinge, die normalerweise überhaupt nichts miteinander zu tun haben, und dann gucke ich, wie die miteinander zurechtkommen." Der amerikanische Schriftsteller Matt Ruff sprudelt über vor Ideen und entwirft auf den 620 Seiten seines Science Fiction-Romans "G.A.S." eine gigantische Zukunfts-Show. G.A.S. ist eine Abkürzung für Gasphasiger Analoger Supercomputer, der Inbegriff des Bösen und ein Beispiel für pervertierte künstliche Intelligenz. Der Zentralprozessor des Superhirns droht mit einem Handstreich die gesamte Menschheit auszulöschen, doch Matt Ruff läßt eine ganze Helden-Kompanie zum Kampf antreten. Rund 36 Figuren sind in das ausgeklügelte Handlungsnetz seines Romans eingebunden. Dazu zählen nicht nur Philo Dufresne und seine Ökotruppe, sondern auch Lexa Thatcher, Enthüllungsjournalistin und Herausgeberin der ersten eßbaren Zeitung mit Niveau, und ihre Freundin Joan Fine, zwangsneurotische Weltverbesserin und Ex-Frau Harry Gants. Technik-Phantasten und Tierliebhaber kommen bei Matt Ruff voll auf ihre Kosten, denn es wimmelt von dreifingerigen Faultieren, Blauhamstern und Fernsehern auf Beinen mit dem Persönlichkeitsprofil von Sokrates. Im New Yorker Abwassersystem treibt der mutierte weiße Hai Meisterbrau sein Unwesen, und über der Erde erledigen freundliche Elektroneger alle Hausarbeiten und Dienstleistungen. Das Patent zu den pflegeleichten elektrischen Dienern besitzt natürlich Harry Gant, der überall mitmischt. "G.A.S." spielt zwar im Jahre 2023, aber Matt Ruff liefert auch ein verzerrtes Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft von heute. Auf humorvolle Art zieht er über Political Correctness und Anti-Raucher-Kampagnen her und teilt Seitenhiebe an einzelne Personen aus. Wie Donald Trump läßt Harry Gant monumentale Wolkenkratzer errichten, und seine Marketingstrategien erinnern an die Geschäftspraxis des Microsoftchefs Bill Gates. Matt Ruff erläutert: "Zu der Zeit als ich anfing, über das Buch nachzudenken, wurden Billionäre immer als böse Schurken und macchiavellistische Charaktere porträtiert. Ich wollte bewußt etwas dagegen setzen. Ich dachte, es wäre interessanter, sich einen Typen auszudenken, der ein netter Mensch ist, mit dem man wunderbar zurechtkommt, der aber sehr kindlich ist und sich nicht besonders viele Gedanken über die Folgen seiner Unternehmungen macht. Also jemand, den man nur sehr schwer hassen kann, der einen aber dauernd frustriert. Ich wollte etwas Neues, etwas anderes machen, das war mein Ziel."

    Klassiker des Science Fiction Genres wie Stanislaw Lem oder Isaac Asimov erfinden in ihren Romanen Gegenwelten, in denen andere physikalische Gesetze gelten oder außerirdische Populationen auftauchen. Ruff nimmt unsere Welt so, wie sie ist und phantasiert sie weiter. Auch der Cyber Space, das Lieblingsthema neuerer Science Fiction, interessiert ihn nicht. Er begeistert sich für die technischen Details seiner Maschinen - seine Geschichte dreht sich aber um die Gefahren der Technologiegläubigkeit. "G.A.S." ist nicht zuletzt eine moderne Variante des "Zauberlehrlings": die gerufenen Geister drohen ihre Schöpfer zu vernichten. Panische Zukunftsvisionen liegen Matt Ruff dennoch fern, und trotz der erbitterten Kämpfe gegen den Supercomputer ist sein New York ein heiterer Ort. Zwar riskieren Lexa, Joan und die anderen für Moral und Humanität ihr Leben, aber solange sie nicht allein sind, machen sie unverdrossen weiter und haben ziemlich viel Spaß dabei. Für die Ökopiraten stand Edward Abbeys Roman "The Monkey Wrench Gang" Pate, und auch sonst ist "G.A.S." gespickt mit Verweisen auf die amerikanische Literatur. Ohne seinen eigenen Ton zu verlieren, bedient sich Ruff bei Thomas Pynchon, Kurt Vonnegut und Douglas Adams. Die Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand taucht sogar als Figur auf. Matt Ruff parodiert ihren Roman "Atlas Shrugged", in dem die überzeugte Sozialdarwinistin ein Hohelied auf den Laissez-faire-Kapitalismus singt. Deutsche Leser werden die Anspielungen kaum dechiffrieren. Das macht aber nichts, denn die Karikatur exetremistischer Einstellungen und religiösen Weltverbesserertums ist universell verständlich. "Das Buch hat einen philosophischen Hintergrund. Es geht allerdings weniger um eine bestimmte Überzeugung, eher um die Art, wie Überzeugungen vertreten werden. Es geht also um Leute, die glauben, daß es einen einzigen richtigen Weg gibt, Dinge zu erledigen, und Leute, die begreifen, daß es immer Uneinigkeit geben wird und daß das eigentliche Problem darin besteht, mit denen auszukommen, die es anders sehen als man selbst. Das ist Joans Position, sie ist diplomatisch, auch wenn sie die Leidenschaft verstehen kann, mit der man für einen bestimmten Standpunkt kämpft. Rand dagegen will alle anderen Ansichten auslöschen und ihre eigene Meinung durchsetzen."

    Vier Jahre hat Matt Ruff an "G.A.S." gearbeitet. Von dem philosophischen Überbau, der Zivilisationkritik, dem Romanpersonal bis hin zu jedem einzelnen Mikrochip ist alles genau durchdacht. Die verschiedenen Handlungsstränge werden immer wieder miteinander verklammert, der Spannungsbogen trägt bis zum Schluß und am Ende paßt alles zusammen. Schon in seinem ersten Buch "Fool on the Hill" stellte Ruff seine erzähltechnische Brillanz und seinen Einfallsreichtum unter Beweis. Damals war er erst 21 und bestand mit dem Fantasy-Roman seine Magisterprüfung. Angefangen hatte alles noch viel früher: "Ich habe schon immer geschrieben. Ich schreibe, seitdem ich fünf Jahre alt bin, das ist genau der richtige Zeitpunkt, um damit zu beginnen. Das Essen wird noch von den Eltern bezahlt, man wird versorgt und hat genug Zeit, seinen Schreibstil zu verbessern. Es besteht die Chance, daß man ein paar Dinge lernt, bevor man sich dann irgendwann selbst ernähren muß. Ich habe immer ein schlechtes Gefühl, wenn mich die Leute fragen, wie man das mit dem Schreiben macht, denn die Antwort lautet, setz dich einfach hin und schreib. Aber wenn man erst mit 25 oder 30 anfängt, muß man ziemlich viel lernen, bevor irgend etwas Publizierbares dabei herauskommt. Das ist natürlich ein Problem, wenn man davon leben will, und wenn man spät anfängt, ist es um so schwieriger."

    In seiner Phantasie hat sich Matt Ruff viel von seiner Kinderseele bewahrt: Das Tohuwabohu auf der Yabba-Dabba-Doo ließe auch Fünfjährige vergnügt aufquietschen. Matt Ruffs erzählerischer Gestus hat etwas Anarchistisches, und vielleicht macht das seinen großen Erfolg unter jungen Lesern aus. Seine Geschichten sind bunt, laut und schnell, sie wirken befreiend und lustvoll, langweilig sind sie nie. Matt Ruff hält seine 36 Helden souverän in Schach; was leicht im Chaos hätte münden können, bleibt bei ihm unter Kontrolle. Seit seinem fünften Lebensjahr hat Matt Ruff nicht nur viele Bücher gelesen und in seinem eigenen Schreiben fortgesponnen. Er war auch öfter mal im Kino. "G.A.S." verarbeitet Bilder aus Klassikern wie Blade Runner, Brazil, Der weiße Hai und Zurück in die Zukunft, und Filmszenen aus neueren Actionstreifen wie Rambo, Terminator, Speed, Stirb langsam und Outbreak kann man alle naselang entdecken. Auch die Form seines Erzählens ist durch das Kino beeinflußt: "Das Schreiben wird insgesamt immer filmischer, weil die Leute einfach nicht mehr soviel Geduld haben für die traditionelle Literatur. Bücher wie "Krieg und Frieden" sind heute nicht mehr so beliebt wie früher, sie sind zu langatmig, es kostet zu viel Zeit, sie zu lesen. Auf der anderen Seite macht dies - zumindest für einige Leser - die Anziehungskraft meiner Bücher aus, glaube ich. Denn ich riskiere es, die Spannung runterzufahren, zu philosophieren und ein bißchen nachzudenken. Gleichzeitig vergesse ich nicht, daß es unterhaltsam sein muß und den Leser fesseln soll. Ich habe versucht, eine Mittelweg zu finden zwischen pedantisch und langweilig einerseits und einer ordentlichen action-story andererseits."

    "G.A.S." ist ein riesiges Kinderzimmer, in dem jeder ein Spielzeug findet. Für den Kinogänger gibt es die Action-Story, Umweltschützern werden Identifikationsfiguren geboten, Computerfreaks bekommen Anregungen für neue Programme, für Bildungsbeflissene ist der philosophische Überbau gedacht und die Literaturkritiker können sich mit der Entzifferung der Anspielungen vergnügen. Spielverderber haben keinen Zutritt.