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Gabriel (SPD) zu Vorschlägen zur Sozialstaatsreform
"Arbeiten bis 67 - vermutlich wird das nichts werden"

Der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel hält die vom Parteivorstand vorgeschlagenen Sozialreformen für "ausgesprochen gut". Die Einführung einer Grundrente sei seit Langem überfällig, sagte Gabriel im Dlf. Arbeit müsse wertgeschätzt werden und sich auch in der Rente auszahlen.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Philipp May | 12.02.2019
    Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht auf einer Veranstaltung im Münchner Literaturhaus
    Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel (imago / Sachelle Babbar)
    Philipp May: Kritik von der Union und Wirtschaftsverbänden, aber in der SPD ist man sehr zufrieden. Vor einer halben Stunde hatte ich Ex-Parteichef Sigmar Gabriel am Telefon.
    Sigmar Gabriel: Guten Morgen, ich grüße Sie!
    May: Der Kurs stimmt, volle Fahrt voraus, sagt Juso-Chef Kevin Kühnert. Sind Sie mit an Bord?
    Gabriel: Sicher. Die jetzt beschlossenen Sozialstaatsreformen sind ausgesprochen gut.
    May: War die Kursänderung von der Parteichefin Andrea Nahles also richtig?
    Gabriel: Ich glaube, zwei Dinge sind besonders wichtig und richtig gewesen. Erstens der Vorschlag von Hubertus Heil zur Einführung einer Grundrente für Menschen, die lange Jahre gearbeitet haben und die am Ende ihres Arbeitslebens natürlich mehr haben müssen als jemand, der gar nicht gearbeitet hat. Das ist seit Langem überfällig, dass er dafür einen Vorschlag gemacht hat, das finde ich ausgesprochen gut. Weil man Arbeit wertschätzen muss, und das muss sich auch in der Rente auszahlen.
    Und dass Andrea Nahles Vorschläge macht, die wesentliche Fehler der früheren Hartz-IV-Reform korrigieren, finde ich auch richtig, und auch da geht es um die Anerkennung von Lebensleistung. Wenn jemand lange gearbeitet hat, unverschuldet arbeitslos wird, dann darf man den nicht in relativ kurzer Zeit auf Sozialhilfeniveau fallen lassen. Das sind ein paar Beispiele dafür, dass das wirklich gute Beschlüsse gewesen sind.
    Der Noch-Außenminister Sigmar Gabriel
    Sigmar Gabriel (dpa/Marijan Murat)
    "Oftmals war die CDU die Bremserin"
    May: Warum hat das so lange gedauert? Warum jetzt erst diese Kursänderungen, und nicht schon zu Ihrer Zeit zum Beispiel als Parteivorsitzender?
    Gabriel: Wir haben ja auch zu unserer Zeit eine Menge gemacht, beispielsweise, dass wir die Rente für 67 für Arbeiter und Angestellte zurückgenommen haben, dass wir bereits da schon Sanktionen zurückgenommen haben. Ich fand es bedauerlich, dass die Idee der Grundrente, die damals schon im Koalitionsvertrag stand, dann am Ende nicht gekommen ist. Das hat viele Gründe auch in der Union gehabt, die das auf keinen Fall wollte.
    Aber es gab schon damals solche Entwicklungen. Oftmals war die CDU die Bremserin, aber das ist ja egal. Jetzt ist es sozusagen wirklich ein gutes und gelungenes sozialdemokratisches Konzept, weil es zusammenpasst.
    May: Hatte das Gründe nur in der Union? Sie hatten ja vor einer Woche getwittert, ich zitiere: "Die Grundrente von Hubertus Heil ist fair, gerecht und überfällig. Er bringt das Sozialministerium auf Kurs, das noch vor zwei Jahren die Grundrente gemeinsam mit dem Kanzleramt verhindert hatte. Gut so." Das haben Sie getwittert. Jetzt muss man wissen, das Sozialministerium wurde vor zwei Jahren noch von Andrea Nahles selbst geführt.
    Gabriel: Das ist so gewesen. Die Beamtinnen und Beamten des Hauses haben der Ministerin Andrea Nahles damals im Wesentlichen gesagt, das ginge alles nicht, weil es gegen das Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung verstoße. Das war eine sehr rententechnische Debatte, und ich glaube, dass damals Frau Nahles Sorge hatte, dass sie neben vielen anderen Projekten, die in der letzten Legislaturperiode von ihr durchgesetzt wurden beim Thema Rente, sie am Ende bei Wolfgang Schäuble keine Steuerfinanzierung der Grundrente hinbekommen würde. Das hat dazu geführt, dass sie das als eher nachrangig angesehen hat. Dafür hat sie viele andere Sachen damals durchgesetzt. Das war eine politische Abwägung.
    Ich habe das, das ist kein Geheimnis innerhalb der SPD, damals für nicht richtig gehalten, weil ich diese Wertschätzung von Arbeit schon immer gut fand. Aber am Ende des Tages haben wir jetzt alles geschafft. Wir haben die damaligen Reformen hinbekommen, und wir haben jetzt einen guten Beschluss. Jetzt geht es darum, dass wir das auch finanziert bekommen. Und ich glaube, mit einem Finanzminister der Sozialdemokraten, Olaf Scholz, wird das weit eher gelingen, als das damals mit Wolfgang Schäuble möglich war.
    Andrea Nahles an einem Rednerpult vor einem SPD-Logo mit der Aufschrift "Zukunft in Arbeit". 
    SPD-Chefin Andrea Nahles (AFP/Odd ANDERSEN )
    May: Kommen wir gleich sofort zu, zur Finanzierung. Noch einmal ganz kurz: Können Sie verstehen, wenn Ihnen dieser Tweet, den ich gerade zitiert habe, dennoch jetzt in der Partei als Foulspiel gegen Ihre Nachfolgerin ausgelegt wird?
    Gabriel: Das weiß ich nicht. All diejenigen, die sich daran erinnern, welche schweren Debatten wir damals hatten, die werden das, glaube ich, ganz gut verstehen. Das war ein großer Fehler im Wahlkampf damals, dass wir nicht bereits dort die Grundrente zum Thema haben machen können. Da hätten wir zeigen können, dass wir uns um die Leute kümmern. Dass das ein Konflikt zwischen Frau Nahles und mir war, das ist jetzt keine Überraschung.
    Aber das ist ja egal, es ist jetzt sozusagen gelungen, das hinzubekommen, und darum geht es. Jetzt geht es eigentlich darum, ihn zu finanzieren. Und das, glaube ich, wird mithilfe von Scholz gehen.
    "Realität ist, dass Altersarmut entsteht, obwohl Menschen fleißig gearbeitet haben"
    May: Und der Wecker klingelt auch bei Ihnen, das ist gut …
    Gabriel: Der ist für meine Kinder.
    May: Sehr gut. Kommen wir direkt zur Finanzierung. Können Sie die Kritiker verstehen, die jetzt sagen, die Sozialdemokraten fallen gerade wieder auf ihre Kernkompetenz zurück, nämlich Geld ausgeben, das nicht da ist?
    Gabriel: Nein. Das ist ja genau so eine seltsame Erzählung wie dieser angebliche Linksruck. Das, was die SPD dort beschlossen hat, das ist die Antwort auf die gesellschaftlichen Realitäten. Wir haben einfach eine Situation, dass über viele Jahre hinweg Menschen entweder unverschuldet in Arbeitslosigkeit waren, beispielsweise in Ostdeutschland, oder zu schlechten Löhnen bezahlt wurden. Und die Realität ist, dass dadurch Altersarmut entsteht, obwohl Menschen fleißig gearbeitet haben. Und sich darum zu kümmern, das muss doch den Sozialstaat interessieren.
    Und im Übrigen, die Beträge, um die es da geht, wenn ich mal vergleiche, wie locker von der Hand vielen Kritikern der Sozialpolitik der SPD die Erhöhung der Rüstungshaushalte gehen, und wir hier doch einen viel geringeren Betrag brauchen, um Fairness in der Rente zu erreichen, dann kann ich die Kritik überhaupt nicht verstehen. Was ich ganz gut fände, wenn jetzt mal andere Parteien, auch die CDU/CSU, ihre Antwort auf die gesellschaftlichen Realitäten sagen würden. Dann hätten wir einen klugen Wettstreit in Deutschland um die besten Ideen in der Bekämpfung der Altersarmut. Das würde der Demokratie gut tun, und nicht solche Etikettierungen, die wir jetzt haben.
    May: Und dennoch: Die Frage, wie sie das finanzieren wollen, sind Sie bisher schuldig geblieben.
    Gabriel: Nein, wieso? Der Finanzminister hat gesagt, dass er das finanzieren kann. Es geht um einen einstelligen Milliardenbetrag. Bei der Finanzierung der Rüstungsausgaben fordern Unionsleute 40 Milliarden pro Jahr mehr - nur um ein Verhältnis hinzubekommen. Ich glaube nicht, dass das ein ernsthaftes Problem ist.
    May: Wobei diese Zusage natürlich auch die Zusage eines SPD-Außenministers damals gewesen ist, Frank Walter Steinmeier, die Rüstungsausgaben zu erhöhen, 2014 an die NATO-Partner.
    Gabriel: Ja, auch das - die Rüstungsausgaben zu erhöhen, ist was anderes, als sie zu verdoppeln. Und es geht darum, dass –
    May: Auf zwei Prozent …
    Gabriel: Und es geht darum, dass –
    May: Auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
    Gabriel: Auch das ist nicht beschlossen worden, sondern in Richtung zwei Prozent. Wir können jetzt auch über Rüstungsausgaben reden. Da wäre es vernünftig, dass wir in die europäische Verteidigungsfähigkeit investieren. Ich weiß nicht, was die Franzosen nach zehn Jahren dazu sagen würden, wenn wir jedes Jahr doppelt so viel in die Bundeswehr stecken wie Frankreich in seine Armee. Das würde vielleicht auf die Franzosen auch ein bisschen merkwürdig wirken. Aber wir können gern auch darüber reden, wenn Sie möchten.
    "Aber mit 67 wird das vermutlich nichts werden"
    May: Nein, wollen wir nicht. Wir wollen wieder über die Finanzierung reden. Die Sozialausgaben sind seit 2013 bereits um ein Viertel gestiegen, habe ich gerade noch mal nachgeguckt, von 146 auf 181 Milliarden Euro, stärker als die Wirtschaftsleistung, trotz Boom. Also immer nur Umverteilung.
    Gabriel: Erst mal gibt es Gott sei Dank eine Entwicklung, von der wir beide hoffen, dass wir auch davon profitieren, nämlich das Älterwerden. Und das bedeutet, dass Sie auch länger Rente zahlen müssen, und es bedeutet, dass zum Beispiel auch höhere Pflegekosten anfallen. Ich meine, es gibt gesellschaftliche Entwicklungen, die wir beide, Sie ganz persönlich, ich ganz persönlich, jeder andere toll findet, nämlich wenn die Lebenserwartung steigt.
    Das hat aber Konsequenzen auch in der Finanzierung. Wir haben auf der anderen Seite beispielsweise dramatische Kostensteigerungen bei Mieten. Natürlich steigt dann auch das Wohngeld, weil sich sonst Familien überhaupt keine Miete mehr leisten können. Sich isoliert auf die Frage der Kosten des Sozialstaats zu stellen, finde ich ein bisschen seltsam. Übrigens, was Sie dazusagen müssen: Trotz dieser Entwicklung haben wir ausgeglichene Haushalte und sogar Überschüsse gemacht. Also, es ist ein bisschen zu kurz gesprungen, nur zu gucken, was sich an Zahlen im Sozialstaat entwickelt, ohne zu schauen, welche dahinterstehenden Entwicklungen in der Gesellschaft eigentlich anstehen. Ich kann ja nicht so tun, als ob eine älter werdende Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der Mieten explodieren, dass wir da sozusagen nichts tun müssen. Das kann man, glaube ich, nicht vertreten.
    May: Eine älter werdende Gesellschaft muss vielleicht länger arbeiten.
    Gabriel: Das tut sie längst, viel länger als vor 20 Jahren. Aber es gibt Berufe, die sind nicht Redakteur bei Zeitungen oder im Radio, oder Politiker, sondern die arbeiten so hart, dass es wahrscheinlich nicht mal klappt, dass sie bis 65 arbeiten. Ich fand es immer ein bisschen arrogant, wenn Politiker, Medienvertreter, Wirtschaftsleute mal so eben sagen, arbeitet länger.
    Wissen Sie, meine Mutter war Krankenschwester. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie Krankenschwestern oder -pfleger im Schichtdienst arbeiten. Aber mit 67 wird das vermutlich nichts werden. Die sind vorher nicht mehr in der Lage, so einen Beruf auszuüben, jedenfalls die allermeisten nicht. Oder Leute, die Facharbeiter sind, Handwerksgesellen. Viele Berufe existieren, bei denen die Arbeitsbelastungen so sind, dass, wenn Sie denen vorschreiben, du musst länger arbeiten, eigentlich das nichts anderes ist als eine verkappte Rentenkürzung.
    Das ist der Grund, warum wir für solche Berufe die damalige Erhöhung der Rente auf 67 zurückgenommen haben in der letzten Periode. Zu Recht, wie ich glaube, weil man Menschen auch nicht zumuten darf, nur weil man selber in einem Beruf ist, der vielleicht die Arbeit bis 67 ermöglicht, darf man nicht übersehen, dass es andere Menschen gibt, die meistens auch noch über ihre Rundfunkgebühren oder Steuern uns bezahlen.
    May: Ist angekommen.
    Gabriel: Dass denen das nicht möglich ist.
    May: Ist angekommen. Dennoch, Sie haben gerade die schwarze Null angesprochen. Jetzt hat der SPD-Finanzminister Olaf Scholz gerade gesagt, dass dem Haushalt demnächst doch ein Milliardenloch droht.
    Gabriel: Ja. Dass zum Beginn von Haushaltsberatungen - ich habe nun in meinem Leben ein paar mitgemacht -, gibt es solche Entwicklungen. Und dann wird mit dem Finanzminister und den Ministerien über die Frage geredet, welche Einsparmaßnahmen man machen muss. Meistens geht es darum, die Ausgabewünsche der Ministerien zu begrenzen. Und ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass ihnen das gelingen wird.
    "Was sind denn nun die Antworten der Union auf Altersarmut?"
    May: Die CDU sagt, Sie beenden die soziale Marktwirtschaft mit den Plänen. Wird also schwer, diese Politik durchsetzen zu können mit dem Koalitionspartner?
    Gabriel: Ja, das wird nicht einfach. Aber ich finde, wie gesagt, den Wettbewerb um die Frage – was sind denn nun die Antworten der Union auf Altersarmut? Was sind die Antworten der Union auf Menschen, die unverschuldet nach vielen Jahren Arbeit arbeitslos werden und dann in Gefahr sind, auf Sozialhilfeniveau zu rutschen.
    Ich finde, wir müssen aufhören, so Plakate an Parteien oder Vorschläge anzukleben. Das ist nur der Versuch, sich vor der inhaltlichen Debatte zu drücken. Sondern ein Wettstreit um die besten Ideen, das wäre gut, das würde der Demokratie helfen. Und ich meine, das Ende der sozialen Marktwirtschaft und so, das sind so Vorwürfe, die in meinen Ohren inzwischen ein bisschen putzig klingen.
    May: Und wenn Sie gar nicht auf einen gemeinsamen Nenner mit der CDU, mit der Union kommen. Es steht ja jetzt eine Revision der Koalition an, Ende des Jahres. Was heißt das dafür?
    Gabriel: Die CDU hat und die CSU haben nach ihren Frühjahrsklausuren im Januar gesagt, sie wollen, dass der Koalitionsvertrag nicht nur überprüft, ob man ihn einhält, sondern auch, ob er eigentlich die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit gibt, oder ob sich Dinge verändert haben. Das finde ich eigentlich eine ganz gute Idee, dass sich beide Seiten, die Sozialdemokraten und die CDU/CSU hinsetzen und gucken, sind eigentlich unsere Antworten, die wir vor zwei Jahren gegeben haben, sind die eigentlich auch immer noch die richtigen?
    Weil die Welt sich ja dramatisch ändert. Und ich finde, es ist der Mühe wert, dann auch zu gucken, ob man das gemeinschaftlich hinbekommt. Wenn nicht, wird das schwierig. Aber ich finde eigentlich die Idee, sich hinzusetzen und zu gucken, passt das eigentlich noch oder gibt es neue Herausforderungen, die wir bewältigen müssen, das finde ich ganz gut. Da wird vielleicht die Union andere Vorstellungen haben als die SPD. Und dann ist das so, dass man sich entweder einigt oder nicht einigt. Ich hoffe, man einigt sich. Aber ich finde ganz prinzipiell, dass Politik sich selbst mal auf den Prüfstand stellt. Das finde ich eigentlich ganz gut.
    May: Sagt Sigmar Gabriel, SPD-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Parteichef. Herr Gabriel, vielen Dank für das Gespräch!
    Gabriel: Bitte, tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.