Donnerstag, 25. April 2024

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Gabriele Tergit
Berichte vom Hakenkreuz am Richtertisch

Mit ihren Gerichtsreportagen wurde Gabriele Tergit in der Weimarer Zeit bekannt. Doch dann kamen die Nazis an die Macht - und die jüdische Journalistin ergriff die Flucht. Heute gehört sie zu den wenigen Journalistinnen der Zeit, deren Werke wieder in Buchhandlungen zu finden sind.

Von Brigitte Baetz | 17.08.2020
Verhandlung vor dem Volksgerichtshof
Hier ein Foto einer Verhandlung vor dem Volksgerichtshof 1944 - Gabriele Tergit erkannte bereits in den frühen 1930er-Jahren: "Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch." (imago / ZUMA / Keystone)
Es ist das Jahr 1923. Der amerikanische Schlager "Yes, we have no bananas" erfreut auch in Deutschland die Massen unter dem Titel "Ausgerechnet Bananen". Doch die Fröhlichkeit täuscht. Die Weimarer Republik steht mit dem Rücken zur Wand. Die Franzosen haben aufgrund ausbleibender Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzt, die Regierung ruft zu passivem Widerstand auf, die Inflation galoppiert. Und Ende des Jahres wird ein gewisser Hitler in München einen Putsch versuchen. In diesem Jahr betritt Elise Hirschmann zum ersten Mal das Berliner Kriminalgericht Moabit – und kehrt, eingeschüchtert, erst einmal wieder um.
In einer späteren Reportage, jetzt unter ihrem Pseudonym Gabriele Tergit, beschreibt sie den Ort so:
"Moabit ist ein Ort der Männer. Als Subjekt und Objekt spielen Frauen eine sehr geringe Rolle. Sie sind weder Betrüger, noch Einbrecher, noch Hehler. Weder bestechen sie, noch vergehen sie sich im Amt, sie widerstehen nicht der Staatsgewalt, noch treiben sie Landesverrat. Ihr Gebiet ist das Ewige, die Liebe und der Klatsch. (…) Über allen sitzen Männer zu Gericht."
Eine Barrikade an der Prinz Handjery Ecke Falkstraße in Berlin Neukölln, wo am 1. Mai 1929 eine Straßenschlacht stattfand.
Reihe: Vergessene Journalistinnen und Journalisten der Weimarer Zeit
Die 1920er-Jahre waren eine Blütezeit des deutschsprachigen Journalismus. Doch diese endete jäh durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wir blicken zurück auf Medienschaffende dieser Zeit.
Und eine Frau, nämlich Gabriele Tergit, schreibt in den 1920ern und Anfang der 30er-Jahre auf, was dort passiert: vor allem für das Berliner Tageblatt, aber gelegentlich auch für die "Weltbühne" des Carl von Ossietzky. Nicht die spektakulären Kriminalverhandlungen interessieren sie, sondern die Prozesse, in denen sich die soziale Situation der Zeit zeigt. Und sie nimmt ihre Protagonisten ernst: kleine Gauner, Heiratsschwindler. Und dann sieht sie doch Frauen, die vor Gericht landen: Prostituierte:
"Grete, die Tochter eines Handwerkers aus einem thüringischen Landstädtchen. Sie besuchte eine Haushaltungsschule, wurde ein arbeitsames Wirtschaftsfräulein, bis eines Tages ihr Talent entdeckt wurde aus allerhand Buntem Puppen zu machen, die ihr ein großer Kunstgewerbler abnahm. Es war der Sommer 1921. Die Stadt dampfte vor Spannungen. Da lässt sie sich herauswehen aus ihrer bürgerlichen Stellung, herunter in die Portiersloge, ein Hehlernest, wo sie unterschlüpft, hinaus auf den Bayerischen Platz."
Das Hakenkreuz wird ihr zum Verhängnis
Nicht nur Gerichtsreportagen verfasst Gabriele Tergit, auch kleine Feuilletons über das Leben und die Moden in der Hauptstadt. Ihre Beobachtungen verarbeitet sie in ihrem Bestsellerroman von 1931 "Käsebier erobert den Kurfürstendamm". Er behandelt den Aufstieg und Fall eines Neuköllner Volkssängers, der von den Medien erst gefeiert und wieder fallengelassen wird. Es sind die "sieben fetten Jahre", wie Gabriele Tergit ihre erfolgreiche Zeit nennen wird, Jahre, in denen sich das Unglück aber schon abzeichnet. Immer häufiger beobachtet die Journalistin Gerichtsprozesse, in denen es um politische Morde geht, studiert die Physionomie derjenigen, die später auch ganz legal werden töten dürfen. Hellsichtig beschreibt sie die einseitige Justiz, die die Linken bestraft, die Rechten aber schont: "Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch."
Das Hakenkreuz wird mit der sogenannten Machtergreifung auch der Jüdin und Nazigegnerin Gabriele Tergit zum Verhängnis. Nur mit Glück und schnellem Handeln kommt sie mit dem Leben davon, wie sie 1981 dem Journalisten Jens Brüning in London berichtete: "Ich hatte dauernd über Naziprozesse berichtet und war also vor allen Dingen dem Sturm 33 ein Dorn im Auge, weil ich dessen Totschlagekünste mitgeteilt habe. Am 4. März, in der Nacht um drei ungefähr, klingelt es Sturm an unserer Wohnungstür, und mein Mann rief: 'Nicht aufmachen!' Und diese zwei Worte haben mich gerettet."
Flucht und Rückkehr
Gabriele Tergit flüchtet: über die Tschechoslowakei nach Palästina. Ab 1938 lebt sie mit ihrer Familie in London, schreibt für deutschsprachige Exilmedien. Nach dem Krieg versucht sie es noch einmal mit ihrer ehemaligen Heimat. "Als ich 48 zum ersten Mal wieder nach Moabit ging, da sagte in einem der Zimmer, wo ich auch früher öfter war, der Wachtmeister an diesem Tischchen: Guten Tag, Frau Tergit. Ich kann niemandem sagen, wie gerührt ich war."
Immerhin war es 15 Jahre her, dass die Journalistin in diesem Gericht gewesen war. Doch die deutsche Nachkriegsrealität ernüchtert sie. Sie kann es nicht ertragen, dass die Deutschen einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen. Nach den großen Verbrechen kann und will sie über die "kleinen" Gerichtsprozesse nicht mehr berichten.
"Es kam mir ganz falsch und ganz blödsinnig vor. Und dann bin auf in den Korridor gekommen, und da waren also meine alten Kollegen, und von denen hat mich nicht einer so begrüßt, wie mich der Wachtmeister begrüßt hat. Und ich hab mir überlegt, ob also meine Kollegen während dieser Zeit, als die Schiffe torpediert worden sind und als Schlachten geschlagen worden sind und als Flugzeuge herunter geschossen sind, ob die auch da genauso, wie ich sie jetzt sehe, die Korridore von Moabit gegangen sind und über Lieschen Meyer berichtet haben."
Dieser Artikel ist Teil unserer Reihe über "Vergessene Journalistinnen und Journalisten der Weimarer Zeit".