Freitag, 19. April 2024

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Gabriele Tergit: "Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen"
Wie es zu Hitler kommen konnte

Gabriele Tergit war in der Weimarer Republik eine prominente Gerichtsreporterin des "Berliner Tageblatts". 1933 floh sie als Jüdin vor den Nazis. In ihrem von Nicole Henneberg neu herausgegebenen Erinnerungsbuch "Etwas Seltenes überhaupt" versucht sie rückblickend zu ergründen, wie die Nazi-Diktatur möglich wurde.

Nicole Henneberg im Gespräch mit Gisa Funck | 31.07.2018
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    Gabriele Tergit arbeitete als Gerichtsreporterin in den 20er Jahren in Berlin (Buchcover: Schöffling Verlag / Hintergrund: picture-alliance / dpa / Fotoreport)
    Gisa Funck: Liebe Nicole Henneberg, Sie haben die Erinnerungen der jüdischen Gerichtsreporterin Gabriele Tergit neu herausgegeben. Gab es dafür einen konkreten Anlass?
    Nicole Henneberg: Es gab nur eine Ausgabe der Tergit-Erinnungen bisher, und die ist ein Jahr nach ihrem Tod, nämlich 1983, erschienen. Und die war sehr verhackstückt. Also die war lieblos gemacht und sehr gekürzt. Und sie war auch lektoriert auf eine Weise, die den ursprünglichen Text verfälscht hat. Also es waren in dieser alten Ausgabe sehr viele Lesefehler drin, die zum Teil vielleicht auch auf einem schlechten Typoskript basierten. Aus "Winter-Antisemiten" wurden darin zum Beispiel "Wiener Antisemiten" gemacht. Es waren viele floskelhafte Halbsätze eingeführt. Und man hatte in der Ausgabe von '83 Tergits syntaktischen Stil komplett verändert. Also ihre Eigenheiten aus der Sprache genommen. Man hatte alle Absätze verändert, was einen völlig anderen Lese-Rhythmus ergab. Von daher musste unbedingt eine neue, textgetreue Ausgabe von Tergits Erinnerungen her. Und die haben wir jetzt gemacht.
    Funck: "Etwas Seltenes Überhaupt", so heißt dieses doch recht ungewöhnliche Erinnerungsbuch von Gabriele Tergit. Und vielleicht kommen wir erst einmal auf das sehr ereignisreiche Leben dieser Journalistin und Schriftstellerin zu sprechen. "Tergit", das ist ja ein Anagramm aus dem Wort "Gitter" und war ihr Künstlername. Denn geboren wurde Gabriele Tergit 1894 in Berlin als Elise Hirschmann und als Tochter eines jüdischen Kabelfabrikanten. Und sie nahm dann ja schon recht früh, nämlich schon vor ihrem Abitur, mit 19 Jahren ihre Journalistenkarriere in Angriff. Und schrieb bereits hier ihren ersten Zeitungsartikel. Wie ungewöhnlich war das für die damaligen Zeit für ein Mädchen, das ja eigentlich auch zur gehobenen Bürgerschicht gehörte?
    Henneberg: Ja, ich glaube für die gehobene Bürgerschicht war es extrem ungewöhnlich. Denn es war einfach nicht vorgesehen. Erstmal, dass ein Mädchen in Zeitungen schreibt, das war ein völliger Tabubruch. Dafür wurde die junge Gabriele Tergit auch geächtet in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Und das Abitur war auch nicht vorgesehen in ihrem Bildungsweg. Ihre Eltern waren zwar einigermaßen liberal, aber sie machte die Mittlere Reife und ging dann auf die soziale Frauenschule von Alice Salomon und sollte eigentlich im sozialen Bereich arbeiten. Sie hat sich dann aber überlegt, dass sie unbedingt schreiben wollte und hat ihren ersten Artikel geschrieben. Und in der Nacht, bevor dieser Artikel erschienen ist, da ist sie aufgewacht, ganz verzweifelt, und hat sich gesagt: "Ich weiß zu wenig!" Und in dieser Nacht hat sie beschlossen, dass sie ihr Abitur nachmacht. Und danach hat sie auch studiert, Geschichte und Philosophie, aber hauptsächlich Geschichte. Und danach hatte sie das Gefühl, besser gerüstet zu sein für den Beruf der Journalistin. Denn das war ihr immer klar, dass sie das machen wollte.
    Eine journalistische Autodidaktin
    Funck: Gabriele Tergit selbst behauptet in ihrem Erinnerungsbuch, sie habe als Journalistin eigentlich gar kein Vorbild und auch keinen Lehrmeister gehabt. War sie wirklich eine journalistische Autodidaktin?
    Henneberg: Im Großen und Ganzen ja. Sie hat die Artikel gelesen der Kollegen, und sie hatte eher Kritik daran. So kam sie zum Beispiel auch zu den Gerichtsberichten. Im "Berliner Tageblatt" erschienen in den Zwanzigerjahren Gerichtsberichte, die waren eher konventionell geschrieben - und die gefielen ihr überhaupt nicht. Und dann hat sie einfach dem Theodor Wolff, dem damals sehr verehrten, einflussreichen Chefredakteur des "Berliner Tageblatts" einen Brief geschrieben, sozusagen nach dem Motto: "Ich kann das besser! Ich will was anderes machen!" Und das hat auch funktioniert. Theodor Wolff hat sie zum Gespräch eingeladen – und hat Tergit dann mit einem sehr guten Honorar für die damalige Zeit engagiert.
    Funck: Ja, von diesem Vorstellungsgespräch bei Theodor Wolff berichtet sie ja auch sehr stolz in ihrem Erinnerungsbuch. Das war witzigerweise Heiligabend 1924, als sie da eingeladen war. Und Sie sagten es schon, Theodor Wolff war damals ein sehr bekannter Chefredakteur des "Berliner Tageblatts". Das war ja eine überregional erscheinende Berliner Zeitung mit hoher Auflage, eine wichtige Stimme des Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Und für das "Berliner Tageblatt" schrieben damals auch sehr bekannte Schriftsteller und Journalisten. Also Kurt Tucholsky zum Beispiel, Erich Kästner, Egon Erwin Kisch, Alfred Kerr, um so einige Namen zu nennen. Und in diesen erlauchten Kreis von Edelfedern wurde also auch Gabriele Tergit von Theodor Wolff berufen. Und sie arbeitete dann von 1925 bis 1933 für das "Berliner Tageblatt" als Gerichtreporterin. Was machte Tergits Gerichtsberichte so besonders?
    Neu bei Tergit: Ihr Interesse für die Motivation des Angeklagten
    Henneberg: Sie hat völlig anders geschrieben als andere Reporter, die bis dahin aus dem Gericht berichtet haben. Die haben nämlich vor allen Dingen aus der juristischen Sicht berichtet. Also die haben Paragraphen zitiert und haben das eher tonlos und sachlich geschildert. Und Gabriele Tergit war (zusammen mit ihrem Kollegen Sling, der aber schon 1928 starb) die einzige bis dahin, die Emphase gezeigt hat. Und die sich auch für die Psychologie des Angeklagten interessiert hat. Die die Leute beobachtet hat. Die sich gefragt hat: Wie kam es zu diesem Verbrechen? Zum Beispiel diesen ganzen Abtreibungsdramen. Und sie hatte oft die Ärmeren im Blick. Also die Dienstmädchen und die aus Not Handelnden. Aber natürlich auch die Hochstapler und die Heiratsschwindler. Das hat sie einfach alles sehr interessiert, aber auch als menschliche Typen. Und das war das Neue daran eigentlich.
    Funck: Gabriele Tergit war ja glaube ich auch die einzige Frau bei diesem berühmten Berliner Journalisten-Stammtisch "Capri". Und ich habe mich gefragt, wie sie sich inmitten dieser ganzen schreibenden männlichen Alpha-Tiere, da eigentlich durchgesetzt hat? Also wie hat sie sich da Respekt verschafft als Frau?
    Henneberg: Also bei diesem Stammtisch "Capri", auf den Sie anspielen und den sie in ihrem Buch sehr schön schildert, da war sie die einzige Frau, das stimmt. Und ich glaube, dass sie sehr lebhaft war. Sie war nicht auf den Mund gefallen. Sie war ja eine Berlinerin! Und sie war eine Berlinerin aus Überzeugung und Leidenschaft. Und da konnte sie schon ziemlich schlagfertig sein. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund. Damals nicht und auch später nicht. Nie in ihrem ganzen Leben, auch in ihren Briefen übrigens nicht. Und sie konnte ziemlich temperatmentvoll und wütend werden, und da hat sie sich dann schon durchgesetzt, in solchen Momenten.
    Funck: Im Plausch mit ihren Redaktionskollegen Rudolf Olden und Walther Kieaulehn, beide auch berühmte Journalisten der Zeit, da entstand ja die Idee zu ihrem Bestsellerroman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm". Das ist eine Mediensatire, die heute eigentlich beängstigend aktuell ist, immer noch. Und die dann 1932 zu einem Überraschungsbestseller wurde, neben Titeln wie Erich Kästners "Fabian" oder Falladas "Kleiner Mann, was nun?". Hat Gabriele Tergit diesen Bestsellererfolg von "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" eigentlich vorhergesehen?
    Als einzige Frau unter schreibenden Alpha-Männern
    Henneberg: Nein, ich glaube, in dem Maß nicht. Sie wollte ein exemplarisches Buch schreiben, ein gesellschaftskritisches Buch. Was die Strömungen der Zeit, die sie abgelehnt hat, zum Beispiel den Aufstieg der Werbung und dieser leeren Gerüchte, die dann unglaubliche Kreise ziehen. Sie wollte solche Sachen kritisieren und bloßstellen. Aber sie wusste natürlich nicht, wie das aufgenommen wird. Sie war eine beliebte Journalistin, sie hatte ein riesiges Leserpublikum, und ich glaube, sie hat einfach gehofft, dass sie dieses Publikum auch mit diesem Buch erreicht. Und das hat dann auch funktioniert. Das Buch schlug am Anfang wirklich ein wie eine Bombe.
    Funck: Und quasi über Nacht wurde Gabriele Tergit dann zu einer gefeierten Schriftstellerin. 1932 ist aber auch das Jahr, in dem sie in ihrem Erinnerungsbuch davon schreibt, dass es ja auch das Jahr des Nazi-"Bürgerkriegs" ist, so nennt sie das. Und tatsächlich erlebte sie als Gerichtsreporterin der Weimarer Republik ja eigentlich schon seit Ende der 20er Jahre quasi tagtäglich, wie die politische Gewalt, vor allem von rechts, in Deutschland immer mehr zunahm. Und wie fatal milde darauf die deutsche Justiz reagierte, indem sie vor allem die Nazi-Verbrechen kaum einmal angemessen bestrafte. Also, es gab ja eigentlich relativ früh viele Warnzeichen für die nahende Hitler-Katastrophe. Und trotzdem blieb die jüdische Gerichtsreporterin Gabriele Tergit auffallend lange eher unbeeindruckt. Oder jedenfalls fühlte sie sich ja lange durch die Nazis gar nicht persönlich bedroht. Warum?
    Eine Bestsellerautorin auf der Flucht vor den Nazis
    Henneberg: Ja, ich glaube, die Dimension dessen, was da kommen würde, das konnte sich einfach keiner vorstellen. Das war so unglaublich, das war einfach nicht vorhersehbar für die normalen, bürgerlichen Menschen. Dabei wusste sie schon mehr als andere, weil sie eben im Gericht diese Prozesse miterlebt hatte. Sie hatte Hitler und Goebbels im Gericht erlebt. Sie hat sich ja hinterher gegrämt, weil sie sagte "Was, wenn ich einen Revolver gehabt hätte? Ich saß fünf Meter von denen weg, ich hätte Millionen von Menschen das Leben retten könnten!" Aber wie das so Stück für Stück, dieses Aushebeln der Demokratie, wie das geschah, das war so perfide gemacht, das konnte man sich einfach nicht vorstellen. Das finde ich auch das Faszinierende an Ihrem Buch, diese kleinen Schritte. Sie beschreibt sie ja im Rückblick ganz genau und durchaus mit dem Tenor, man hätte misstrauischer sein müssen. Da schreibt sie ja etwa an einer Stelle: "Wir waren mit Mord so unvertraut." Also diese Entschlossenheit der Nationalsozialisten und diese Entschlossenheit auch, mit der sie ihre Gegner ausgeschaltet haben, das war das völlig Neue daran.
    Funck: Die Frage, wie es überhaupt zu Hitler und zum Nationalsozialismus kommen konnte, die zieht sich wie ein roter Faden durch das Erinnerungsbuch von Gabriele Tergit. War das Aufschreiben der eigenen Erinnerungen für die emigrierte Tergit vielleicht auch so etwas wie ein therapeutischer Akt? Also in der Hinsicht, dass sie damit auch versuchte, sich das Trauma Hitler und Nationalsozialismus ein bisschen von der Seele zu schreiben?
    Henneberg: Das war bestimmt der erste Anlass. Sie hat ja schon seit den 50er-Jahren Stück für Stück an diesem Buch gearbeitet. So einzelne Stücke geschrieben. Aber ich glaube für eine Aufarbeitung kam das Buch letztlich zu spät. Dieses Buch kam ja erst, als sie in Berlin Mitte der 70er-Jahre wieder diesen Erfolg hatte, als sie wiederentdeckt wurde. Und als der "Käsebier" wiederentdeckt wurde. Und als sie eingeladen war zu den Berliner Festwochen. Und sie hat dann einfach, ermutigt durch diesen Erfolg, hat sie sich drangemacht, dieses Buch fertig zu stellen. Denn sie war schon sehr enttäuscht über ihre Marginalisierung. Also das hat sie sehr geschmerzt.
    Funck: Ja, die ist ja auch sehr verwunderlich! Also, ich meine: Sie hatte diesen großen Erfolg 1932 mit dem Käsebier-Roman. Und dann wollte sie ja eigentlich immer noch einmal einen zweiten Roman veröffentlichen. Und hat dafür durchaus ein paar Anläufe unternommen. Warum hat das letztlich nicht so geklappt mit einer Schriftstellerkarriere von Gabriele Tergit im Nachkriegsdeutschland?
    Unbeliebt in der Wirtschaftswunderzeit: Emigrantenliteratur
    Henneberg: Sie hatte einfach das Problem, dass ihre Karriere abgeschnitten war. Sie ging ja 1933 ins Exil, zuerst nach Prag und dann weiter nach Palästina - und schließlich, weil sie sich in Palästina unwohl fühlte, 1938 nach London, wo sie auch bis zu ihrem Lebensende 1982 blieb. Und die Leute hier in Deutschland, die wollten nach dem Krieg von Emigranten einfach nichts wissen. Da war sie nicht die einzige, der das so gegangen ist. Da kam Tergit nach 1945 in eine Aufbruchsstimmung hier der deutschen Literatur hinein, in die passte sie nur schwer rein. Da schrieben dann Leute wie Grass, dann gab es die Gruppe 47 usw. Da passte sie einfach schwer rein. Und es gibt vernichtende Verlagsgutachten, die sind wirklich niederschmetternd. Und Tergit war bestimmt nicht leicht zu erschüttern, aber das hat auch sie an die Grenze gebracht. Und danach hat sie erstmal mit dem Roman-Schreiben Schluss gemacht.
    Funck: Und warum kam eine Rückkehr für sie nach Deutschland nach 1945 nicht mehr in Frage?
    Henneberg: Sie hat Deutschland zutiefst misstraut, vor allem, was die demokratische Grundorientierung angeht. Das hat Gabriele Tergit den Deutschen einfach nicht mehr geglaubt. Da schienen ihr die Engländer verlässlicher, klarer, traditionell in punkto Demokratie auch sozusagen länger gefestigt. Und sie fand es toll, dass in England eben der Mensch an erster Stelle steht. Das hat sie in Deutschland einfach nicht gesehen. Sie hat auch nach wie vor viele Nazi-Töne hier gehört. Das hält sie in ihren Erinnerungen ja auch fest. Dabei hielt sie Berlin eigentlich immer noch für den idealen Ort. Weil diese Wunden, die die Nazi-Zeit geschlagen hatte, in Berlin sichtbar waren und blieben. Die anderen Städte des Wirtschaftswunders und die neue deutsche Pracht nach dem Krieg, dieses viele Geld und so, das hat sie sehr abgestoßen. Das mochte sie überhaupt nicht. Aber Berlin war und blieb ja eine relativ arme, graue und zerstörte Stadt und mit der hatte Tergit größtes Mitgefühl – und die liebte sie nach wie vor.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Aufassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Gabriele Tergit: "Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen"
    Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg
    Schöffling Verlag, Frankrfurt a.M. 2018. 424 Seiten, 26 Euro.