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"GaiaMotherTree"
Ernesto Neto knüpft sein Netz im Zürcher Hauptbahnhof

Ausgerechnet am wichtigsten Knotenpunkt des Schweizer Schienennetzes installiert der brasilianische Künstler Ernesto Neto seine neue 20 Meter hohe, baumartige Kunstinstallation aus Baumwollbändern. Ob es ihm gelingt, die Interaktion der Menschen an diesem Ort zu verändern, werden die nächsten vier Wochen zeigen.

Von Christian Gampert | 30.06.2018
    September 24, 2017 - USA - Ernesto Neto s A Sacred Place provides refuge amid the installations in the Arsenal of the Venice Biennale, 2017. USA PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY - ZUMAm67_ 20170924_zaf_m67_195 Copyright: xJanexWooldridgex
    Ernesto Netos Netzkunst "A Sacred Place" auf der Biennale in Venedig (imago / Jane Wooldridge)
    Zur ideologischen Abfederung vonNetos Kunstwerken werden gern Schlagworte wie Minimal Art, Konzeptkunst, Arte Povera und sogar "Spiritualität" in den Ring geworfen. Etwas prosaischer könnte man sagen: Ernesto Neto lässt arbeiten, Netze knüpfen, und hängt sie dann im Museum und nun auch an einem öffentlichen Ort auf, wo sie eine irritierende Wirkung erzeugen.
    Im Fall von "GaiaMotherTree" ist aber nicht wirklich sicher, ob der geometrisch nach oben wuchernde Baum obsiegt, der als weitgespanntes Spinnen-Netz und baumelnde Tropfen-Struktur einen Teil der Züricher Bahnhofshalle einnimmt, oder ob sich nicht doch die imposante Architektur und der weite leere Raum durchsetzen, wo ansonsten nur kleine Menschen herumlaufen.
    Die 1871 von Jakob Friedrich Wanner im Stil der Neorenaissance erbaute Empfangshalle des Bahnhofs ist ein Kunstwerk für sich: Die größte mit einem freischwebenden Dach versehene Halle der Schweiz. 440.000 wrden pro Tag durch den Bahnhof geschleust, der meistfrequentierte Ort der Schweiz. Das ist wohl auch der Grund, warum die "Fondation Beyeler" Ernesto Neto für die Bespielung des Bahnhofs engagiert hat.
    Der brasilianische Künstler Ernesto Neto vor dem Guggenheim Museum in Bilbao 
    Der brasilianische Künstler Ernesto Neto (picture alliance / EPA / Luis Tejido)
    "Ich hab an anderen Orten der Welt gesehen, dass er zu den wenigen gehört, die fähig sind, ein Kunstwerk, eine Skulptur von sehr großen Dimensionen zu schaffen, die auch über ihre Sinnlichkeit ein ganz breites Publikum anspricht", sagt Beyeler-Direktor Sam Keller. Und Neto will ja explizit Kommunikation stiften.
    Alles ist irgendwie mit allem verbunden
    "Es ist ein Kunstwerk, wo man nicht hingehen muss, das ist für ihn auch eine Premiere, in ein Museum oder einen Ort. Sondern die Kunst kommt eigentlich zu den Menschen und schafft hier an einem Bahnhof eine andere Art von Verbindung als das Züge tun."
    In der Halle schweben bereits eine "Nana" von Niki de Saint Phalle und eine Leuchtskulptur von Mario Merz. Ernesto Netos gigantomanes Netzwerk setzt da nochmal neue Dimensionen: 1000 Quadratmeter groß, 20 Meter hoch, zwei Tonnen schwer. Kosten: Zwei Millionen Euro.
    Das Werk ist ohne zusätzliche Technik, nur mit Gewicht und Gegengewicht, an den Stahlträgern der Halle befestigt. Über einhundert Menschen waren an Produktion und Aufbau beteiligt, vor allem jene Tagelöhner, die in der Altstadt von Rio de Janeiro insgesamt 10.000 Baumwoll-Bahnen per Fingerhäkeltechnik miteinander verknüpften. 800 Kilogramm Erde in braunen Säcken sorgen als Gewichte dafür, das Gaia, die Erdmutter, nicht abhebt oder zusammensackt, sondern stabil steht. 600 Kilogramm gemahlene Gewürze verströmen, ebenfalls als Gegengewicht, ihre Düfte.
    Ein visuell-olfaktorisches Gesamtkunstwerk
    Wozu der Aufwand? Damit wir wieder geerdet werden? Ernesto Netos Kunst hat ziemlich viele ökologische und auch esoterische Implikationen, sie ist auch ein ideologisches Konstrukt. Wenn man von den optischen Reizen dieses Lebensbaums, den riesigen Netzen, in eher gedeckten Farben, und den herabhängenden Schlingpflanzen genügend beeindruckt ist, darf man nämlich barfuß eintreten ins Innerste, ins Wurzelwerk, ins Heiligtum. Das Zentrum der Skulptur ähnelt einem Meditationszentrum mit Sitzkissen und strenger Hausordnung. Dort kniet die Kuratorin wie bei einem Gottesdienst und erzählt von Leichtigkeit und Transparenz und dem Baum als Symbol des Lebens.
    Auch Ernesto Neto beginnt alsbald zu predigen, über die Zukunft des gefährdeten Planeten Erde und über einen höheren Bewusstseins-Zustand, den man durch Singen und Tanzen und Beten erreichen könne, hier im "GaiaMotherTree". "Hört auf euer Herz", sagt uns der Meister, "it's a time of transformation".
    Netos Kinderglaube an eine bessere Welt speist sich aus seinem Kontakt zu brasilianischen indigenen Kulturen. Und die bislang noch nicht als Sekte hervorgetretene "Fondation Beyeler" organisiert nun in Netos Skulptur allerlei Erbauliches, von spiritueller Weltmusik mit "Mantra-Gesang" bis zum Auftritt eines Schweizer Jodelchors. Das ist natürlich super. Früher hieß es, unter der Lederhose werde gejodelt. In Zürich jodelt man nun auch unter hängenden Gärten.