“Ganze albanische Dörfer hatten sich in Feuersäulen verwandelt“

Von Nikolaus Steiner · 08.10.2012
Es war der erste Krieg in Europa im 20. Jahrhundert, der das Ende der Osmanischen Herrschaft beschleunigte. Am 08.10.1912 erklärte Montenegro dem Osmanischen Reich den Krieg - in dem Deutschland letztlich vermittelte.
"Das Grauen begann, sobald wir die alte serbische Grenze überschritten hatten. Gegen fünf Uhr abends näherten wir uns Kumanowo. Die Sonne war verschwunden und es begann dunkel zu werden. Aber je dunkler der Himmel wurde, desto heller hob sich die furchtbare Illuminierung durch die Feuer gegen ihn ab. Es brannte überall ringsum. Ganze albanische Dörfer hatten sich in Feuersäulen verwandelt. Das war das erste reale, authentische Bild, das ich vom Krieg sah, von diesem unbarmherzigen gegenseitigen Ausrotten der Menschen."

So beschrieb ein serbischer Soldat in den Reisereportagen Leo Trotzkis die Situation auf dem Balkan im Oktober 1912. Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro kämpften im sogenannten Balkanbund gemeinsam gegen das Osmanische Reich, zum dem jahrhundertelang auch das heutige Albanien, Mazedonien und der Norden Griechenlands gehörten. König Nikola von Montenegro, der den Osmanen am 8. Oktober 1912 als Erster den Krieg erklärte, erkannte, dass die Stunde günstig war. Denn das türkische Weltreich war geschwächt.

"Ab dem 17. Jahrhundert erreicht das Osmanische Reich eine anhaltende Wirtschaftskrise, die die Sozialstrukturen des Reiches infrage stellt und das führt dazu, dass es Aufstände im Reich gibt und eine Verselbstständigung der Reichsprovinzen und das führt eben zum Zerfall des Osmanischen Reiches, sozusagen als inneres Problem."

Erklärt Gerald Volkmer vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

"Und diese Gelegenheit wollten sich die Balkanstaaten nicht entgehen lassen, um jetzt weiter das Osmanische Reich zu schwächen und es aus Europa herauszudrängen."

Der Balkanbund ging koordiniert vor: Serbien stieß nach Albanien und Mazedonien vor, Bulgarien Richtung Konstantinopel, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, und die Griechen Richtung südliches Mazedonien, Saloniki und in die Ägäis.

"Diesem militärischen Druck war die osmanische Armee nicht gewachsen. Weil die Summe der Armeen der Balkanstaaten etwa 450.000 Mann betrug zu Beginn des Krieges, die Osmanen konnten aber nur etwa 300.000 dagegen aufbringen."

Der anonyme serbische Soldat berichtet von einem schnellen Vormarsch seiner Truppen ins heutige Mazedonien.

"Skopje ist ein einziges Militärlager. Die Einwohner und besonders die Mohammedaner verstecken sich. Auf der Hauptstraße marschiert ein Zug von Soldaten. Ein Betrunkener und allem Anschein nach schwachsinniger Türke schimpft ihnen hinterher. Die Soldaten bleiben stehen, stellen den Türken an das nächste Haus und erschießen ihn auf der Stelle, die Angelegenheit ist erledigt."

Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn sind die Osmanen fast vollständig aus Europa verdrängt. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. notiert dazu:

"Die Türken haben nicht ein einziges Gefecht zu gewinnen, noch eine einzige Stadt zu halten vermocht […] Ihre Herrschaft in Europa ist zertrümmert. Sie haben sich als absolut unfähig erwiesen, das Land zu halten; und müssen hinaus. Griechen, Serben, Montenegriner haben mit beispielloser Tapferkeit gefochten. Die Bulgaren sind meisterhaft geführt und brillant eingesetzt worden […] Sie haben sich redlich erkämpft, was sie haben wollten, und sich in das Europäische Concert hineingepaukt, - was frischen Bluts und Geistes bedurfte!"

Der deutsche Kaiser beschreibt zwar euphorisch den Sieg der Balkanländer, ist aber gleichzeitig um die Stabilität des Osmanischen Reiches besorgt.
"Zu diesem Zeitpunkt war Deutschland mit Österreich-Ungarn verbündet und hatte dadurch ein Interesse, dass Bulgarien nicht zu sehr geschwächt wird, weil Bulgarien der Verbündete Österreich-Ungarns war. Allerdings hatte Deutschland auch direkte Interessen im Osmanischen Reich. Dadurch, dass es ab 1903 am Bau der Bagdad-Bahn beteiligt war. Also eine Erschließung des Osmanischen Reichs durch die Eisenbahn mit dem Ziel, an die Rohstoffvorkommen im Nahen Osten heranzukommen und diese Rohstoffe dann für Deutschland einzusetzen."

Deshalb drängte Kaiser Wilhelm II. auf Waffenstillstände und Friedensverhandlungen zwischen den Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich. Gemeinsam mit den anderen europäischen Großmächten organisierte er eine Konferenz in London, auf der am 30. Mai 1913 ein Friedensvertrag geschlossen wurde. Circa 80.000 Soldaten hatten ihr Leben gelassen. Die politischen Spannungen auf dem Balkan blieben allerdings auch nach dem Krieg bestehen.

"Die Leute merken selbst nicht, was für eine riesige, innere Veränderung die wenigen Kriegstage in ihnen hervorgerufen haben. Wie sehr doch der Mensch von den Umständen abhängt. In einer Atmosphäre organisierter Brutalität des Krieges, werden die Menschen bald selbst brutal, ohne sich dessen bewusst zu sein."

Knapp zwei Jahre nach dem ersten Balkankrieg löste das Attentat von Sarajevo den Ersten Weltkrieg aus.