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Gastfreundschaft bei der UEFA EURO 2012

Über eine Initiative in der Ukraine können Fußballfans bei Familien kostenlos wohnen. Damit sollen auch weniger betuchte Fußballanhänger zur Europameisterschaft ins Land gelockt werden. Viele Ukrainer setzen dafür auf Gastfreundschaft.

Von Florian Kellermann | 19.06.2012
    Wladislaw Wiktorow fährt vom Bahnhof zurück nach Hause, es ist sieben Uhr morgens. Er hat keine drei Stunden geschlafen, aber das ihm egal: Der 50-jährige pensionierte Major und seine Frau haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Image der Ukraine aufzupolieren. Und dazu gehört unter anderem: bis drei Uhr morgens mit deutschen Gästen Wodka trinken. Auch wenn der nächste Besuch nur wenige Stunden auf sich warten lässt: Johannes Löschau ist gerade mit dem Zug aus Kiew gekommen. Auch ihn wird Wiktorow in seiner Zweizimmerwohnung in Lemberg aufnehmen.

    "Es ist doch schön, dass so viele Ausländer jetzt unsere Stadt besuchen. Ich wollte ihnen unbedingt begegnen, von Mensch zu Mensch. Angela Merkel hat gesagt, sie will nicht in die Ukraine reisen. Von mir aus: Das Wichtigste ist doch, dass sich die normalen Menschen kennenlernen. Wir haben jetzt Freunde in ganz Deutschland, und darüber freuen wir uns sehr."

    Die Familie Wiktorow lässt die Fußballfans kostenlos bei sich wohnen. Sie hat sich einer Initiative im Internet angeschlossen. Die war entstanden, um auch weniger betuchte Fußballanhänger ins Land zu locken. Schließlich hatten Medien im Vorfeld der Europameisterschaft über zum Teil überteuerte Hotels berichtetet.

    Zum Frühstück stellt Wladislaw Wiktorow seinem Gast neben Kaffee auch eine Flasche gekühltes Bier hin und schaltet einen deutschen Fernsehkanal ein. Damit trifft er zwar nicht ganz die morgendlichen Gewohnheiten von Johannes Löschau. Aber der 21-jährige Bautzener ist trotzdem gerührt.

    "Die Ukraine ist auf jeden Fall besser aufgestellt, als man es vorher in den Medien gehört. Es läuft alles super ab, die Leute sind freundlich. Es klappt alles, mit dem Verkehr, mit den Verbindungen zum Stadion. Die Fan-Zonen sind sicher und sauber, und das Bier ist günstig. Und die Züge sind pünktlich abgefahren und pünktlich angekommen. Alles wie in Deutschland, oder besser."

    Abends geht Wladislaw Wiktorow mit seinen Gästen in die Fan-Zone in der Altstadt. Lemberg, auf Ukrainisch Lviv, lebt die Fußball-Europameisterschaft. Die Menschen kommen auch dann zur großen EM-Bühne vor der Oper, wenn nicht gerade die Ukraine spielt. Die Gastfreundschaft sei aber nur ein Gesicht des Landes, sagt Johannes Geibel aus Berlin, der auch bei Wiktorow wohnt. Der 26-jährige Student der Volkswirtschaft ist mit einem Freund per Anhalter unterwegs.

    "Wir beide sind jeweils mit zwei Unternehmern mitgefahren, die im IT-Sektor aktiv sind. Und die haben uns sehr plastische Beispiele genannt, aus dem Infrastruktursektor, wo 40 bis 60 Prozent der Bausumme an Korruption weg fließt. Das muss man sich vorstellen, es wird nicht einmal die Hälfte des Geldes in das eigentliche Projekt selbst investiert, sondern fließt auf irgendwelche Konten auf Zypern oder auf die Kaimaninseln."

    Einen EU-Beitritt, wie viele Ukrainer ihn sich wünschen, hält Johannes Geibel deshalb zurzeit für unrealistisch.

    Wladislaw Wiktorow weiß, dass in seinem Land vieles im Argen liegt. Auch er beklagt die allgegenwärtige Korruption, die bis ins Parlament und die Regierung hineinreiche. Er spürt die politische Instabilität am eigenen Leib: Seine Rente nach 21 Jahren als Berufssoldat betrug früher umgerechnet 230 Euro im Monat, heute sind es nur noch 140 Euro. Denn die heimische Währung Hrywnja hat in den vergangenen Jahren deutlich an Wert verloren. Auch dem Bauunternehmen, für das er seit seiner Pensionierung arbeitet, geht es schlecht: Es hatte Kredite aufgenommen, die es wegen der schwachen Hrywnja nicht mehr zurückzahlen kann.

    Er träumt deshalb erst einmal gar nicht von einem EU-Beitritt, sondern nur von einer Reise in den Westen.

    "Die Deutschen, die hier waren, haben mich jetzt auch zu sich eingeladen. Aber es ist nicht leicht, ein Visum zu bekommen. Man muss Geld auf dem Konto nachweisen und eine feste Arbeit. Das finde ich nicht in Ordnung. Die Deutschen dürfen hier ohne Visum herkommen, das sollte auch umgekehrt gelten."