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Gaza-Krieg
Hamas auf dem Vormarsch

Die radikal-islamische Palästinenser-Organisation Hamas hat den Krieg gegen Israel nicht gewonnen. Aber der Krieg hat Christen, Muslime und Hamas im Gaza-Streifen zusammengeschweißt. Das neue Wir-Gefühl der Palästinenser dürften die Hamas als ihren Erfolg verbuchen.

Von Angela Koll | 13.10.2014
    Die Zivilbevölkerung im Gazastreifen leidet unter dem Konflikt zwischen Hamas und Israel.
    Die Zivilbevölkerung im Gazastreifen leidet unter dem Konflikt zwischen Hamas und Israel. (afp / Roberto Schmidt)
    Am Eingang des Flüchtlingslagers Daheische in Bethlehem empfängt Sadijehe ihre Besucher. Nach kurzer Begrüßung und kräftigem Händedruck, eilt Sadijeh schnellen Schrittes, an der Moschee vorbei, in eine schmale Gasse, den Hügel hinauf. Die Gasse zu eng für Autos, nur dürftig befestigt. Im Kontrast dazu der Empfangsraum ihres verwinkelten Hauses: Die Wände goldfarben gestrichen, die Besucher versinken nahezu in den schweren braun-beige gestreiften Sesseln die in U-Form angeordnet sind.
    Ihr Kopftuch legt Sadijehe ab sobald sie ihr Haus betritt. Ihr Haar bleibt jedoch verdeckt durch ein schwarzes, eng anliegendes Tuch, denn es ist ein Mann im Raum. Einziger Wandschmuck: Ein großer aus Olivenholz geschnitzter Schlüssel und eine zweiter aus Keramik geformt. Symbol für die zurückgelassenen Häuser. Das Haus ihrer Familie in der Nähe von Hebron hat Sadijehe nie gesehen. Sie ist in Daheische geboren, seit nunmehr 42 Jahren lebt sie im Westjordanland. Sadijehe bezeichnet sich als Sympathisantin der "radikalen Hamas":
    "Es ist unser Schicksal so zu sterben. Es ist dramatisch. Wir haben schreckliche Bilder in den Nachrichten gesehen, es tut uns furchtbar leid für die Menschen in Gaza. Aber wir können dem nicht entkommen. Ich bin eine Mutter. Ich kann nachempfinden, was die Mütter in Gaza durchlitten haben. Trotzdem dieser Krieg musste so lange geführt werden, wie er gedauert hat. Wir konnten nicht aufgeben, weil wir sonst das Gefühl gehabt hätten, dass die Israelis unseren Widerstand gebrochen hätten."
    Keine Schwächen zeigen
    Wenn die israelischen Soldaten in der Nacht in ihr Haus eindringen auf der Suche nach ihrem ältesten Sohn, dann ist auch das für Sadijehe Widerstand: Den Soldaten gegenüber keine Schwäche zeigen, nur nicht weinen, kein Bitten und Flehen ihn zu verschonen, wenn sie den 22-jährigen abführen. Schon dreimal hat er im Gefängnis gesessen. Während des jüngsten Krieges haben die Soldaten ihn erneut geholt. Steine soll er geworfen haben. Die Version der Mutter: Ein Denunziant habe ihn verraten. Widerstand leisten - in Daheische, wie in Gaza - das ist in den Augen von Sadijehe das Schicksal der Palästinenser:
    "Hamas ist jetzt eine Organisation die niemand mehr ignorieren kann. Nach diesem Krieg weiß jeder, wer die Hamas ist und wozu sie in der Lage ist. Sie haben sich aufgelehnt gegen einen Staat, gegen eine Nation. Nicht gegen irgendeine Nation, sondern gegen das übermächtige Israel. Sie haben Gaza nicht nur verteidigt, sondern die Israelis sogar attackiert. Sind durch ihre Tunnels auf israelisches Gebiet vorgedrungen, um Ortschaften anzugreifen."
    Krieg hat Meinungen geändert
    Nur wenige Minuten von Sadijehes Haus entfernt liegt die kleine schmucklose Moschee des Flüchtlingslagers Daheische. Längst sind einfache Betonhäuser, dicht gedrängt, den Zelten gewichen. Nach dem Freitagsgebet treffen sich die Männer auf dem schlecht gepflasterten Vorplatz des Gebetshauses. Nur wenige Frauen sind zu sehen. Die Männer stehen zumeist mit Altersgenossen beisammen - unter ihnen der Mufti von Dahaische. Auch der islamische Rechtsgelehrte lebt im Flüchtlingslager. Er saß zehnmal in israelischen Gefängnissen. Auch er äußert sich eindeutig pro Hamas, er spricht mit Stolz von der Organisation:
    "Dieser Krieg hat unsere Leben und unsere Meinung verändert - in Gaza und in der Westbank. Sie haben uns neue Hoffnung gegeben für die palästinensische Sache. Sie haben die Tür zur Hoffnung geöffnet, denn nun schaut die Welt endlich wieder auf Palästina. Die andere Seite hat mehr verloren: wirtschaftlich und moralisch."
    Ein paar Kilometer vom Flüchtlingscamp entfernt liegt das Zentrum von Bethlehem. Nur wenige Touristen und Pilger besuchen in diesen Tagen die Geburtskirche, die Milchgrotte und die Hirtenfelder. Die Stimmung unter den Fremdenführern ist bedrückt, sie stehen auf dem Vorplatz der Geburtskirche, haben nichts zu tun. In Bethlehem und in den Nachbargemeinden Beit Jalla und Bet Sahour sind die meisten Christen Palästinas zu Hause. Zu ihnen gehört George. Der 25-Jährige arbeitet für eine internationale Hilfsorganisation. Er gehört keiner politischen Partei an, dieser Hinweis ist ihm wichtig.
    "Ich bin kein Fan der Hamas, von Teilen ihrer Ideologie. Ich persönlich lehne es ab, dass Zivilisten ermordet werden. Ich bin ein palästinensischer Christ. Die Leute werden mutmaßen, dass Christen die Hamas nicht wählen. Aber bei der letzten Parlamentswahl, wenn man die Menschen in Bethlehem gefragt hat, dann haben sie gesagt: Ja, wir haben die Hamas gewählt, weil die Alternative uns müde gemacht hat."
    Krieg hat Parteien vereint
    Vor der Grabeskirche in Bethlehem steht auch Elias, neunundzwanzig Jahre alt, gut bezahlter Job, Akademiker. Er kann sich noch gut an sein Gefühl während der zweiten Intifada erinnern. Damals, im Jahr 2.000, beteiligten sich die Christen nicht am Aufstand der Palästinenser. Damals fühlte sich der fünfzehnjährige Schüler nicht mehr als Teil des palästinensischen Volkes - so wie viele Christen.
    "Der Krieg hat alle Gruppen zusammengeschweißt: die Parteien, die Religionen, die Ethnien - Alle! Jetzt fühlen wir uns als Palästinenser, nicht einmal mehr nur als Araber, sondern als Palästinenser. Palästinenser haben sie seit der israelischen Besatzung nirgends zugehörig gefühlt, aber durch diesen Krieg haben wir das Gefühl bekommen, eine große Familie zu sein: Christen, Muslime, Hamas, Fatah, alle Parteien vereint."
    Auch wenn die Hamas den Krieg nicht gewonnen hat, das neue Wir-Gefühl der Palästinenser dagegen dürften die Hamas als ihren Erfolg verbuchen.