Freitag, 19. April 2024

Archiv

GDL-Streik
"Es geht um eine faire Gehaltsstruktur"

Ursula Engelen-Kefer, ehemalige Vize-Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, findet die Forderungen der GDL berechtigt. Claus Weselsky kämpfe um eine faire Situation für die personenbezogenen Dienstleistungen, betonte sie im DLF. Bisher sei es den Gewerkschaften noch nicht gelungen, existierende Defizite zu beseitigen.

Ursula Engelen-Kefer im Gespräch mit Peter Kapern | 20.05.2015
    Ursula Engelen-Kefer, deutsche Funtionaerin, von 1990 bis 2006 stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds.
    Ursula Engelen-Kefer, deutsche Funtionaerin, von 1990 bis 2006 stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds. (Aufnahme von 2014) (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    Peter Kapern: Wie die Bahn ihre Züge und die Lufthansa ihre Flugzeuge, so taufen auch Fernbus-Gesellschaften ihre Busse. Die Fernbus-Gesellschaft "Dein Bus" hat ihren jüngsten Zugang im Fuhrpark auf den Namen "Claus Weselsky" getauft, ein kleines Dankeschön dafür, dass der GDL-Chef bei dem Busunternehmen für volle Kassen sorgt. Seit heute Nacht um zwei wird auch der Personenverkehr der Bundesbahn wieder bestreikt. Es gibt einen Ersatzfahrplan, der allerdings recht ausgedünnt ausfällt.
    Bei uns am Telefon ist nun Ursula Engelen-Kefer. Lange Zeit war sie die Vize-Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Guten Tag, Frau Engelen-Kefer.
    Ursula Engelen-Kefer: Guten Tag, Herr Kapern.
    Kapern: Dass Claus Weselsky da verbale Prügel bezieht von Bahnkunden, von Politikern und von deutschen Wirtschaftsverbänden, das kann uns und ihn ja auch nicht wirklich überraschen. Jetzt setzt aber auch noch DGB-Chef Reiner Hoffmann zur Keile an. Was Weselsky da tue, das haben wir gerade gehört, das gehe zu weit, hat Hoffmann in einem Interview gesagt. Hat er Recht?
    Engelen-Kefer: Nach meinem Dafürhalten hat er Recht sicherlich aus Sicht einiger seiner Mitglieder der großen Industriegewerkschaften, die davon ja gar nicht so stark betroffen sind, außer wenn sie als Bahnkunden die Unbild zu tragen haben. Aber genau da setzt es ja an und es gibt ja auch in den Gewerkschaften unterschiedliche Auffassungen.
    Ich glaube, dahinter steckt ein viel tiefer liegender Konflikt, und das ist derjenige, dass es uns nicht gelungen ist in Deutschland, eine faire Situation zu erreichen für die personenbezogenen Dienstleistungen und auch solche Dienstleistungen wie Lokführer, Lokrangierführer oder Zugbegleitpersonal. Da haben wir riesige Nachholbedarfe und die sind bisher nicht erfüllt worden, und darum geht es eigentlich wirklich nach meinem Dafürhalten.
    Kapern: Das müssen Sie uns jetzt noch erklären, Frau Engelen-Kefer. Was ist da nicht fair geregelt worden und warum führt das jetzt zum neunten Bahnstreik innerhalb kürzester Zeit?
    Engelen-Kefer: Wenn man sich zum Beispiel mal die Mühe macht und die Gehälter vergleicht der Lokführer, der Lokrangierführer, des Zugbegleitpersonals, die Arbeitsbedingungen, und zwar nur mit vergleichbaren Ländern um uns herum, dann wird man sehen, dass es hier nicht getan ist mit ein paar Lohnprozenten mehr, sondern dass es hier darum gehen muss, überhaupt einmal eine Gehaltsstruktur zu schaffen, die fair ist.
    Kapern: Dann muss man aber doch sagen, Frau Engelen-Kefer, dann muss doch jemand wie DGB-Chef Reiner Hoffmann Claus Weselsky den Rücken stärken und sagen, jawohl, hol raus, was Du rausholen kannst.
    Engelen-Kefer: Ja das ist natürlich eine gewisse Interessenrichtung, die dahinter steht. Im DGB - und das habe ich ja über Jahrzehnte erfahren - geben den Ton an die Gewerkschaften mit den starken Unternehmen, mit der hohen Tarifbindung, mit den starken Betriebsräten, und die sind vor allem in den Produktionsbereichen der Metallindustrie, der Chemieindustrie, den Elektronik- und Pharmakonzernen. Das sind die entscheidenden Konzerne und auch Gewerkschafter und Betriebsräte, die im DGB die Entscheidungen beeinflussen.
    "Wir sind hier riesig im Defizit"
    Kapern: Das heißt, ein großer Teil der DGB-Landschaft ist zu nah an den Arbeitgebern und zu weit entfernt von kleinen Dienstleistungs-Arbeitnehmern, die Claus Weselsky vertritt?
    Engelen-Kefer: Ich würde nicht sagen, dass sie zu nah an den Arbeitgebern sind, aber sie sind sehr nah an den Arbeitnehmern in den gut organisierten Tarifbereichen der Industrie und sie sind eindeutig zu weit entfernt von denjenigen in den Dienstleistungsberufen, vor allem den personenbezogenen Dienstleistungsberufen, wobei das ja eine Spirale oder ein Effekt ist, der sich gegenseitig bestärkt. Natürlich dort sind auch sehr geringe Organisationsraten. Das gilt jetzt nun nicht für die GDL, die ist gut organisiert, aber das gilt für andere personenbezogene Dienstleistungen.
    Und da, wo sie gut organisiert sind, wird jetzt der Kampf ausgefochten, und es geht ja nicht nur um den Streik jetzt hier im Bahnbereich. Wir haben ja auch gleichzeitig den Streik der Erzieher und Erzieherinnen und der Postbediensteten, und überall sind es ähnliche Bedingungen. Wir sind hier riesig im Defizit gegenüber anderen vergleichbaren Ländern und es ist bisher nicht gelungen, auch nicht im Gewerkschaftsbereich, dies zu beseitigen.
    "Machtzusammenballung bei den gut organisierten Industriekonzernen"
    Kapern: Frau Engelen-Kefer, lassen Sie mich doch mal vorschlagen, dass wir eine völlig andere Lesart des aktuellen Bahnstreiks ansprechen, dass es eben gar nicht, wie Sie gerade sagen, um Prozente und Arbeitszeiten und möglicherweise auch größere Prozentsätze geht, sondern schlicht und ergreifend um ein Ringen zweier Gewerkschaftssysteme um Macht und Einfluss unter der Arbeitnehmerschaft auf dem Rücken der Bahn und auf dem Rücken der Bahnkunden.
    Engelen-Kefer: Ich würde jetzt das nicht reduzieren auf den Claus Weselsky und den Reiner Hoffmann oder den Kollegen Kirchner von der EVG, der Eisenbahn und Verkehrsgewerkschaft, sondern ich würde sagen, dahinter steckt ein gesellschaftliches Problem, Verteilungsproblem. Wir sind mehr oder weniger doch eine etwas vermachtete Struktur, wobei die Entscheidungsbefugnisse, die Machtzusammenballung ganz klar liegt auf Seiten der gut organisierten Industriekonzerne, der dortigen Betriebsräte, der dortigen Gewerkschaftsfunktionäre, ihre Einflussnahme auf die entsprechenden Industriegewerkschaften, die ja gut sind, die mächtig sind, die erfolgreich sind, die auch den DGB maßgeblich mitbestimmen, und die anderen gucken in die Röhre.
    Ich darf nur noch ein Thema ansprechen, wenn Sie mir das erlauben: die Rente mit 63. Die ist durchaus im Interesse derjenigen, die in den Industriebereichen gut organisiert sind, gute Tarifverträge haben, dauerhafte Beschäftigung haben, und die können das in Anspruch nehmen und nehmen es ja auch in Anspruch, wahrscheinlich auch zurecht nach langer Maloche. Aber bezahlen müssen es hinterher alle mit, denn das muss ja aus Beitragsmitteln bezahlt werden, also auch die kleine Verkäuferin oder die Friseuse oder die Bahnbedienstete, die Zugbegleiterin, die Schichtdienst leisten muss zu wenig Geld, zu miesen Bedingungen. Das sind die Dinge, die sind nicht bisher über die normalen Prozesse der Tarifpolitik, der Sozialpolitik behoben worden. Im Gegenteil: Sie sind ja weiter verstärkt worden, gerade auch in der Großen Koalition.
    "Gesetz über die Tarifeinheit wird Konflikt weiter anheizen"
    Kapern: Diese Prozesse der Tarif- und Sozialpolitik, da sitzen ja immer am Tisch auf der einen Seite Gewerkschafter, auf der anderen Seite Arbeitgebervertreter. Aber wir müssen doch noch mal über einen anderen Punkt reden, Frau Engelen-Kefer. Da sagt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky wolle augenscheinlich gar keinen Kompromiss, sondern er wolle das Gesetz über die Tarifeinheit abwarten - das soll ja diese Woche noch verabschiedet werden -, um dann im Zusammenhang weiter "mit dem schwelenden Konflikt gegen das Gesetz klagen zu können". Das ist doch interessant! Da haben wir einen DGB-Chef, der in der Auseinandersetzung mit einem anderen Gewerkschaftschef gerade ein Gesetz verteidigt, das zumindest im Verdacht steht, das Streikrecht einzuschränken. Das hat man doch nicht alle Tage, oder?
    Engelen-Kefer: Nein! Aber es hat ja auch eine ganze Reihe und lange Zeit große Kontroversen in den Gewerkschaften gegeben. Soweit ich das beurteilen kann - und ich bin ja jetzt etwas weiter weg davon -, gibt es diese Kontroversen und die unterschiedlichen Auffassungen nach wie vor. Ich halte das Gesetz für nicht geeignet, hier derartige Konflikte zu lösen. Ich habe die Befürchtung, dass es den derzeitigen Tarifkonflikt noch weiter anheizt.
    Kapern: Das heißt, Reiner Hoffmann ist auf dem Holzweg?
    Engelen-Kefer: Reiner Hoffmann muss seine Politik machen, die muss er verantworten, die hat er wahrscheinlich abgesprochen mit den maßgeblichen Vorsitzenden. Da gibt es ja Beschlussgremien. Das will ich überhaupt nicht bezweifeln. Aber es gibt zum Beispiel die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, es gibt Verdi, und das ist ja keine kleine Gewerkschaft, die das anders sehen, zumindest bisher anders gesehen haben, und es soll sich da keiner Illusionen machen. Wir werden nicht immer eine Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles haben, die ja den Gewerkschaften sehr nahesteht, sondern wir werden möglicherweise andere Regierungen haben demnächst, das kann immer passieren, die weniger gewerkschaftsfreundlich sind, und dann kann so ein Gesetz gegen alle zurückschlagen.
    Ich halte es für gefährlich, hier überhaupt dem Gesetzgeber eine solche Handhabe zu geben, das Streikrecht einzuschränken, abgesehen davon, dass es Riesenauseinandersetzungen geben wird, wer ist denn nun die Mehrheitsgewerkschaft. Denn die Mitglieder müssen ja nicht sich outen gegenüber dem Arbeitgeber, ob sie nun Gewerkschaftsmitglied sind oder nicht und wo sie Gewerkschaftsmitglied sind. Aber das Dramatische oder das Gefährliche ist: Wir sollten es eigentlich nicht abschaffen, dass es die Mitglieder sind, dass es die Arbeitnehmer sind, die im Endeffekt entscheiden, ob sie eine Mitgliedschaft haben wollen, ob eine Gewerkschaft Bestand hat, ob die Tarifpolitik und die Arbeitskämpfe einer Gewerkschaft oder eines Gewerkschaftsvorstandes akzeptabel sind, sondern dass es hier ein Gesetzgeber ist, der formale Vorgaben macht. Das haben wir bisher vermieden.
    Das Arbeitsrecht war zurecht weitgehend Richterrecht und hatte sich anzupassen an die Bedingungen und an die Entscheidungen vor allem der Arbeitnehmer, die mit ihrer Mitgliedschaft, mit ihren Beiträgen nämlich die Entscheidenden sind. Dabei sollten wir es belassen. Das ist im Übrigen auch das, was die Tarifautonomie im Grundgesetz schützt, und dahinter stehen ja zwei ganz maßgebliche Übereinkommen der internationalen Arbeitsorganisation, die wir als Bundesrepublik immer wie eine Monstranz vor uns hertragen, wenn es um kleinere Länder geht, Entwicklungsländer geht, die wir da ständig zur Ordnung rufen. Wir sollten hier in diesem Falle uns auch selbst einmal zur Ordnung rufen.
    Kapern: ... sagt Ursula Engelen-Kefer, die frühere stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Engelen-Kefer: Auf Wiederhören, Herr Kapern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.