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Geboren für Entsetzen und Erschrecken

Der Österreicher Peter Handke ist ein umstrittener Autor der Gegenwart und verkörpert die reine Dichterexistenz. Malte Herwig hat Verwandten und Handke selbst befragt, den Vorlass studiert und schließlich eine Biografie über Peter Handke verfasst.

Von Jochen Schimmang | 10.11.2010
    Kaum ein anderer Schriftsteller verkörpert die reine Dichterexistenz so wie Peter Handke. Insofern ist eine Biografie dieses immerhin noch lebenden und schreibenden Autors, wie sie Malte Herwig jetzt vorlegt, durchaus gerechtfertigt, und sie ist ja auch nicht die Erste. Sie müsste das Besondere dieser Dichterexistenz in Zeiten erhellen, wo manche erfolgreiche Autoren eher zu mittelständischen Schreibunternehmern mutiert sind. Und das ist es auch, was Herwig explizit versucht, und daran ist er, das sei gleich vorweggesagt, trotz guter Ansätze letztendlich gescheitert.

    Mangelnden Fleiß, mangelnde Gründlichkeit in der Recherche kann man ihm wahrlich nicht vorwerfen. Herwig, mehrere Jahre Redakteur im Kulturressort des "Spiegel", hat Handkes Vorlass sowohl im Österreichischen Literaturarchiv in Wien wie im Deutschen in Marbach studiert, hat mit Hubert Burda, Bruno Ganz, Libgart Schwarz, Michael Krüger, Alfred Kolleritsch, Luc Bondy und vielen anderen gesprochen und auch mit Jeanne Moreau sprechen wollen, die den vereinbarten Termin aber kurz vorher hat absagen lassen. Er hat auch Handkes noch lebende Verwandte befragt. Vor allem hat er mit Peter Handke selbst gesprochen, mehrfach und sehr ausführlich in dessen Enklave in der Niemandsbucht in Chaville.

    Selbstverständlich wollen wir einen Autor bis in seine Herkunft zurückverfolgen, in seine Kindheit und Jugend, und Herwig tut das gründlich und sorgfältig. Die ersten beiden Kapitel dieses Buches sind mit Abstand die besten und aufschlussreichsten. Sie heißen "Krieg" und "Schreiben", und mit dem Titel des ersten Kapitels ist nicht allein der Zweite Weltkrieg gemeint, in den Peter Handke am Nikolaustag 1942 hineingeboren wurde, sondern auch die Rolle, die der Krieg auch im späteren Werk des Schriftstellers Peter Handke spielen wird. Denn der ist ja beispielsweise sowohl im Roman "Die Wiederholung", im Märchen "Die Abwesenheit" wie auch in "Mein Jahr in der Niemandsbucht" präsent, und an vielen anderen Stellen des Handkeschen Werkes dazu. Um den Krieg, um den Schrecken geht es sehr oft in diesem Werk, und ganz schlüssig zitiert Herwig schon hier einen Satz aus dem Anfang von "Der kurze Brief zum langen Abschied": "So weit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und Erschrecken gewesen." Diesen Satz liest Herwig zu Recht als ein Leitmotiv für Handke, den Autor ebenso wie die Person. Er korrespondiert mit der früh diagnostizierten Überempfindlichkeit der Augen und der ebenso großen Überempfindlichkeit gegen die Welt: Nicht umsonst heißt das erste große Notatenbuch aus den 70er-Jahren "Das Gewicht der Welt". Aus dieser Überempfindlichkeit jedoch gerade, aus dem erstaunten, genauen Hingucken und Hinhören, schlägt Handkes Schreiben seine Funken bis heute.

    Herwig bleibt da auch im zweiten Kapitel noch dran. Ganz wichtig sein Hinweis auf Handkes Widerwillen gegen das bloße Meinen. "Ständig müssen die Schüler etwas erklären, etwas nachplappern - etwas meinen", heißt es über die Zeit an der Schule in Griffen. "Das ist der schlimmste Zwang. Meinungen sind schon dem jungen Peter Handke verhasst, aber in der Schule wird er dazu gezwungen, welche zu haben." Herwig weist hier auf ein Faktum hin, dass für das spätere Schreiben wie für das öffentliche Bild Handkes eine große Rolle spielt. Handkes Literatur will uns ja nie eine griffige Weltsicht verkaufen, sie will uns politisch nicht rüsten und uns auch sonst nichts mit auf den Weg geben. Der Autor Peter Handke wird nie ein Unterzeichner von Manifesten und Aufrufen werden, und leider hat man ihm auch keine handliche Meinung zu den jugoslawischen Kriegen abpressen können, was nicht gehindert hat, ihn mit dem merkwürdigen Beinamen "Serbenfreund" zu belegen, der offenbar etwas Schlimmeres bedeuten muss, als wenn jemand etwa ein "Schwedenfreund" oder ein "Franzosenfreund" wäre.

    Anfangs bleibt Herwig Handke also auf der Spur, sehr ausführlich vor allem, wenn es um die Beziehung zu seinen beiden Vätern geht, dem Stiefvater und dem leiblichen, den er erst mit neunzehn Jahren kennengelernt. Dankenswert ist dabei durchaus, dass er das Bild des Stiefvaters gegenüber der Figur in "Wunschloses Unglück" korrigiert und darauf hinweist, dass der Stiefvater keineswegs das Monstrum war, als dass er in diesem Roman auftaucht.

    Danach verliert er diese Spur mehr und mehr, und die Engführung von Werk und Leben gelingt immer weniger. Anfangs scheinen die Bezüge noch hier und da auf, etwa wenn Herwig Handkes frühes Theaterstück "Kaspar" unter die Lupe nimmt und darauf hinweist, dass auch der junge Handke, vom Dorf in die Stadt Klagenfurt verschlagen, eine Art Kaspar Hauser war, der erst mit siebzehn lernt, wie man eine Straßenbahn besteigt und mit 19 zum ersten Mal aus einer Telefonzelle telefoniert. Je weiter er aber in seiner Biografie voranschreitet, desto mehr verhält er sich, als müsse er eine "Spiegel"-Titelgeschichte schreiben. Das liest sich dann etwa so: "Jeanne Moreau sieht mehr in ihm, viel mehr. Schon lange vor der Aufführung des Stücks ist sie dem jungen Dichter verfallen. Wenn die Diva allein auf ihrem Bett liegt, den Kopf, das Herz und den Magen voll Dichterliebe, greift sie zu Stift und Papier." Manchmal soll es auch besonders pointiert sein, etwa: "Handke hat inzwischen den kurzen Weg zum langen Haarschnitt genommen."
    Nicht aber dieses Changieren zwischen "Spiegel"-Stil und "Bild" ist das eigentlich Ärgerliche, sondern die Tatsache, dass Herwig nicht mehr so konsequent am Werk bleibt, wie er es anfangs versucht hat. Dabei schreibt hier nicht nur ein Journalist, sondern ein Literaturwissenschaftler, der immerhin in Oxford über die Rolle der Naturwissenschaften im Werk Thomas Manns promoviert hat. Die guten Ansätze vom Anfang des Buches zerfasern aber, je weiter die Biografie voranschreitet. Zwar gibt es zum Beispiel den halbwegs gelungenen Versuch, das seinerzeit von vielen Seiten verspottete Stück "Über die Dörfer" genauer ins Gesamtwerk einzuordnen. Vieles aus Handkes Werk kommt aber gar nicht zur Sprache oder wird nur nebenbei abgehandelt, die "Drei Versuche" etwa aus den Jahren 1989 bis 1991, die in diesem Œuvre eine viel wichtigere Rolle spielen, als es ihr schmaler Umfang nahe legt. Da waren Georg Pichler mit seiner 2002 erschienenen Biografie "Die Beschreibung des Glücks" und Fabjan Hafner mit "Reise ins Neunte Land", das die Bedeutung Jugoslawiens für Handkes Schreiben auslotet, schon sehr viel weiter.

    Handkes Leben dagegen wird weiterhin gründlich dokumentiert, wobei weder die Düsseldorfer Stadtratsposse zur Verleihung des Heine-Preises 2006 ausgelassen wird noch natürlich Handkes kurze Rede am Grab von Milosevic. Und dann gibt es da das bereits vorabgedruckte Kapitel über Handkes Besuch bei Karadzic in Pale im Dezember 1996, das in den letzten Tagen im deutschen Feuilleton für ein bisschen kommentatorischen Wirbel gesorgt hat. Nun hat Handke diese Reise ja nicht allein unternommen, sondern in Begleitung, und einer der Begleiter war sein Lektor bei Suhrkamp, Raimund Fellinger. Der taucht aber in dieser Passage nur als "ein Suhrkamp-Angestellter" auf und kommt auch sonst in Herwigs Buch nicht namentlich vor. Gesprochen hat Herwig mit Fellinger bei seiner Recherche auch nicht. Der Mann also, der Handkes Werk bei Suhrkamp seit Jahrzehnten betreut und mit diesem bestens vertraut ist, hat in dieser Biografie keine Stimme. Vielleicht charakterisiert diese Tatsache das Buch deutlicher als alles andere.

    Soviel Gerechtigkeit sollte man Herwig allerdings widerfahren lassen, dass es vielleicht noch zu früh ist für die umfassende Würdigung eines Autors, dessen Werk hoffentlich noch lange nicht abgeschlossen ist. Die vielen Leser, die Handke treu geblieben sind oder ihn neu entdeckt haben, vermögen gewiss auch nicht zu sagen, warum sie vom Glück wie vom Ärgernis, Handke zu lesen, nicht ablassen wollen. Nur machen sie eben kein Buch daraus.

    Malte Herwig: "Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biografie." Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010, 363 Seiten, gebunden, Abbildungen, 22,99 Euro