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Geburt des Pop-Business

In vielerlei Hinsicht wurde Joe Boyd in London zum Augen- und Ohrenzeugen vom Siegeszug des Pop. So sind seine Erinnerungen denn auch keines der üblichen Fan-Bücher, von denen es in der Literatur nur so wimmelt.

Von Karl Lippegaus | 06.11.2007
    Seit 40 Jahren feiert man in London an jedem Bankfeiertag im August den Notting Hill Carnival, den einst Immigranten aus Trinidad in einem Tanzsaal zelebrierten. Nur wenige der schätzungsweise eine Million Menschen aus allen Teilen Europas, die in diesem Jahr durch die Straßen von Notting Hill wieder zu den Klängen von Reggae- und Salsa-Bands tanzten, dürfte klar sein, dass diese Freudenfeier auf eine Initiative einiger Freaks im Jahr 1966 zurückgeht. Der in London lebende amerikanische Musikproduzent und jetzt auch Buchautor Joe Boyd war dabei. Er erzählt, was damals in London passierte.

    Aber diese Erinnerungen sind keines der üblichen Fan-Bücher, von denen es in der Pop-Literatur nur so wimmelt. Es wird nicht zum tausendsten Male darüber reflektiert, wer nun kreativer war - die Beatles oder die Rolling Stones. Joe Boyd erzählt von seinen Erfahrungen mit Musikern, von denen heute nicht mehr allzu viel die Rede ist. Über weite Strecken ist "White Bicycles" eine amüsant und klug geschriebene Chronik des Scheiterns: Oft war Boyd kurz davor, einer von den ganz Großen im aufblühenden Pop-Business zu werden, aber leider ...

    Dass der Geist zumindest einer echten Pop-Legende durch das erste Drittel dieses Rückblicks auf die Musik der 60er und 70er Jahre fährt, ist unvermeidlich. Bob Dylan schlug in die amerikanische Folkszene nach dem Tod des großen Woody Guthrie wie ein Komet ein - und Joe Boyd war da, als es geschah. Nach seinem Examen an der Harvard-Universität war er nicht nur ein leidenschaftlicher Plattensammler, sondern hatte auch schon erste Erfahrungen als Konzertveranstalter gesammelt. Wie ein paar andere weiße Amerikaner hatte auch er sich auf die Suche gemacht; in seinem Falle nach einem schwarzen Musiker, den er nur von Platten her kannte: den Gitarristen und Sänger Lonnie Johnson. Er war der erste, der dem jungen Joe zu verstehen gab, dass man Musik nicht mit Etiketten bekleben und in bestimmte Schubladen stecken sollte. "Die Weißen glauben immer, dass Neger nur den Blues spielen. Ich kann alles singen", sagte Johnson und führte es vor. Für Boyd war es ein Schlüsselerlebnis: Er hatte einen Traum gehabt, und der Traum war wahr geworden durch seine mutige Initiative. Sehr früh spürte er, dass er einmal Plattenproduzent werden wollte.

    "Als Teenager sammelte ich viele alte 78er Schellackplatten, die wir in Trödelläden in Amerika fanden: mein Bruder, ich und ein Freund namens Geoff Muldaur. Die besten Wiederveröffentlichungen der alten Blues- und Jazzplatten kamen damals aus Europa. In den 50er Jahren hatte keine amerikanische Plattenfirma diese Schätze im Programm. Wir beschlossen also, uns in Europa umzusehen. Für uns war es eine Art Paradies. Der zweite Grund, warum ich nach Europa damals reiste, war mein Job als Tourmanager für Muddy Waters und Sister Rosetta Tharpe. Das Publikum war fantastisch. Während sich in den USA die Weißen damals überhaupt nicht für ihre Musik interessierten, gab es hier Tausende von jungen Leuten, die sie sehen wollten. Als ich mich 1967 entschied, eine Weile in London zu bleiben, fand ich als künstlerischer Berater von Elektra Records heraus, dass hier noch was ganz anderes passierte, dass mit Jazz und Blues kaum was zu tun hatte. Es war die berühmte musikalische Explosion, die sich damals in London ereignete. Je länger ich blieb, umso mehr veränderte sich alles. Ich engagierte mich stark in der Psychedelic-Rock-Szene - mit all den neuen Bands, die es damals gab."

    In vieler Hinsicht wurde Joe Boyd zum Augen- und Ohrenzeugen von etwas, das für uns heute so allgegenwärtig geworden ist: nämlich der Siegeszug des Pop, damit auch der Generationenkonflikt, der musikalisch Wechsel von Folk zu Folk-Rock, von Rock'n'Roll zu Rock, vom Jazz zum Free Jazz und so weiter. Boyd ist kein Musikwissenschaftler und kein Soziologe, er will es auch nicht sein, er erzählt einfach nur, was er erlebt hat. 1964 kommt er zum ersten Mal nach London, sieht abends in einem Bluesclub in Soho einen seltsamen Typen: blond gefärbte Haare, Trenchcoat, komische Stiefel. Jemand sagt ihm, der Kerl heiße Rod Stewart. Die beiden kleinen Söhne des Folksängers Ian Campbell bringt er nachmittags auf einen Spielplatz in Birmingham - nicht ahnend, dass sie Jahre später als Sänger von UB40 Millionen von Platten verkaufen werden. Für die Plattenfirma Elektra nimmt er eine Single mit einer Studioband auf, deren Gitarrist Eric Clapton heißt.

    England gefällt ihm sehr - im Gegensatz zu den prüden Sitten in den USA. Boyd schreibt: "In England war ich in Pubs, wo langhaarige Burschen mit Ohrringen neben ihren Vätern aus der Arbeiterklasse ihr Sonntagsbier tranken." In Amerika hätte man solche Kinder (Zitat) "verstoßen, 'zurechtgestutzt', eingesperrt, geschlagen, geschoren, belehrt, zum Psychiater geschickt, in Militärakademien oder Nervenkliniken gesteckt".

    An einem einzigen Wochenende im Jahr 1966 nahm Joe Boyd, jetzt im Produzentenstuhl, das erste Album der Incredible String Band auf und wurde ihr Manager, bis sie bei Scientology landeten und ihm vorwarfen, sie würden nicht genug Platten verkaufen. Kult - dieses Wort nahmen damals nur Theologen in den Mund, doch die ISB wurde in der Tat eine Kultband.

    Auf Boyds Konto ging auch die Produktion der ersten Single von Pink Floyd, "Arnold Layne", über einen "Hinterhof-Höschen-Schnüffler aus Cambridge", eine reale Figur - die Platte wurde von der BBC sofort als "unanständig" auf den Index gesetzt, aber trotzdem ein Hit. Dann macht Boyd mit Freunden in einem Kellerlokal in der Tottenham Court Road den UFO-Club auf, in dem Pink Floyd und Soft Machine zu psychedelischen Light-Shows spielten, während die Kellner in privater Mission dafür sorgen, dass alle mal ausprobieren, wie sich LSD anfühlte.

    Die nächsten Jahre kümmerte sich Joe Boyd ernsthaft um die Karrieren von Fairport Convention und Nick Drake, einem melancholischen Songpoeten, von dem nach drei Alben unter Boyds Regie und seinem frühen Tod mehr Platten verkauft wurden als je zu Lebzeiten, als Volkswagen einen seiner Songs für einen Werbespot benutzte. Dass die Engländer durch Bands wie die Fairports überhaupt ein Interesse an ihrer einheimischen Folklore entwickelten, zählt der Autor zu den großen Errungenschaften dieser Musiker.

    Und wenn der Produzent als Autor direkt aus der Arbeit im Studio und den Vorzügen der Analogtechnik berichtet, wird einmal mehr deutlich, dass diese versunkene Epoche, das Zeitalter des Vinyl nicht nur in technischer Hinsicht irgendwie doch magisch war.


    Joe Boyd: White Bicycles. Musik in den 60er Jahren
    Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
    Kunstmann Verlag, München 2007