Donnerstag, 25. April 2024

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Gedenken an den Anschlag in Hanau
„Wir möchten, dass diese Tat restlos aufgeklärt wird“

Selma Yilmaz-Ilkhan vom Hanauer Ausländerbeirat mahnt, den rechtsextremen Anschlag von Hanau nicht zu vergessen. Die Tat müsse restlos aufgeklärt werden - noch gebe es viele offene Fragen, sagte sie im Dlf. Auch die Zivilgesellschaft müsse gestärkt werden: Vielfalt sei ein Schatz, keine Gefahr.

Selma Yilmaz-Ilkhan im Gespräch mit Jasper Barenberg | 22.08.2020
24.06.2020 imago 0101838312 4968x3312 Pixel imago images / Ralph Peters Ein 27 Meter langes Wandgemälde eines Frankfurter Künstlerkollektiv s mit dem Titel Rassismus tötet - von Hanau bis Moria und Niemals Vergessen, Hanau 19.02.2020, mit den Portraits aller Mordopfer erinnert an die neun Todesopfer des rassistisch motivierten Anschlag s von Hanau. Es wurde an einem Brückenpfeiler der Friedensbrücke in Frankfurt angebracht, Hessen, Deutschland
Die wegen steigender Coronazahlen abgesagte Gedenk-Demo in Hanau soll nachgeholt werden, sagte Selma Yilmaz-Ilkhan vom Hanauer Ausländerbeirat im Dlf (imago images / Ralph Peters)
Bei dem Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 erschoss ein Mann neun Menschen, bei denen er ausländische Wurzeln vermutete, und tötete sich anschließend selbst. Damit ist nur sehr unzureichend beschrieben, was nach dem 19. Februar erst im hessischen Hanau, dann im ganzen Land Entsetzen ausgelöst hat: gezielte Morde aus offenkundig rassistischen Motiven. Heute sollte in Hanau eigentlich eine Kundgebung zur Erinnerung an diese Taten stattfinden unter dem Motto: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen.
Gestern Abend wurde die Kundgebung von der Stadt kurzfristig abgesagt. Der Grund: Die Infektionszahlen sind rapide angestiegen in der Region in letzter Zeit. Darüber haben wir mit der Vorsitzenden des Hanauer Ausländerbeirats, Selma Yilmaz-Ilkhan, gesprochen.
In München haben Menschen bei einer Gedenkveranstaltung mit Kerzen das Wort "Hanau" gebildet
Anschlag in Hanau - Trauer und Wut prägen das Gedenken
In Deutschland gedenken Menschen der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau. Extremismusforscher Quent forderte im Dlf eine Debatte über Rassismus. Ziel solcher Täter sei es, die Spaltung in der Gesellschaft zu vertiefen.
Jasper Barenberg: Frau Yilmaz-Ilkhan, haben Sie Verständnis für diese Absage?
Selma Yilmaz-Ilkhan: Wir haben Verständnis, weil wir die letzten Wochen sehr eng mit der Stadt Hanau das auch geplant haben, auch die Hygienekonzepte erarbeitet haben. Dennoch haben wir auch in den Gesprächen im Hinterkopf gehabt, wenn die Infektionszahlen steigen, dass es zu einer solchen Situation kommen kann. Wir haben es nicht gehofft, aber gestern ist es leider Realität geworden. Und wir als Mitglieder des Ausländerbeirates und ich als Vorsitzende, die das auch eng unterstützt haben, haben dafür auch Verständnis, weil die Gesundheit unserer Mitgliederinnen und Mitglieder hat Vorrang.
Barenberg: Die Entscheidung oder diese Ankündigung der Stadt sagt ja auch, dass diese Veranstaltung dann bei nächstmöglicher Gelegenheit nachgeholt werden soll. Das ist auch Ihr Wissensstand?
Yilmaz-Ilkhan: Genau, dass es dann nachgeholt werden soll.
Demonstration für die Stadtgesellschaft und für die Familien
Barenberg: Sie haben in den Monaten seit dem 19. Februar viel mit den Angehörigen der Opfer zu tun gehabt, Sie haben sie begleitet. Wie wichtig war den Angehörigen der Opfer diese Veranstaltung heute in Hanau?
Yilmaz-Ilkhan: Sehr wichtig, weil wir in Hanau Menschen noch haben, die auf die ganzen Fragen, wie so etwas überhaupt passieren konnte, noch keine Antworten haben. Diese Demonstration war auch noch mal nicht nur für die Stadtgesellschaft, sondern auch für die Familien, weil wir bewusst gesagt haben, für diese Demo sind für uns vier Forderungen wichtig, diese sind Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Wir wollen, dass dieser 19. Februar, dieser rassistische Anschlag, nicht vergessen wird. Wir möchten, dass wir an die Opfer immer erinnern. Das waren Menschen, die innerhalb von zwölf Minuten aus ihrem Leben gerissen wurden, die Jüngste war 21, der Älteste 37, die hatten noch viele Ziele und viele Träume vor sich.
"Warum durfte eine Person, die schon auffällig war, eine Waffe besitzen?"
Barenberg: Ich kann mir vorstellen, dass natürlich die Angehörigen Antworten haben möchten auf die vielen Fragen, auf die vielen offenen Fragen. Machen die Angehörigen, machen auch Sie vom Ausländerbeirat den Behörden Vorwürfe, dass das nicht schnell genug, nicht effizient genug aufgeklärt wird - die Hintergründe der Tat?
Yilmaz-Ilkhan: Was heißt Vorwürfe? Wir möchten einfach nur, dass diese Tat restlos aufgeklärt wird. Wie konnte so etwas überhaupt passieren, was sind die Hintergründe, warum durfte eine Person, die schon auffällig war, die sich bei bestimmten Behörden auch gemeldet hat, überhaupt einen Waffenschein besitzen, eine Waffe besitzen? Das sind alles Fragen, auf die wir als Menschen, die in Hanau leben, aber auch die Familien, Antworten haben wollen.
"Sie haben es in Hanau mit Menschen zu tun, die stark traumatisiert sind"
Barenberg: Wie sind die Freunde, wie sind die Angehörigen der Opfer zurechtgekommen seit dem 19. Februar?
Yilmaz-Ilkhan: Eigentlich gar nicht zurechtgekommen. Es ist so, dass wir wirklich … Was ich vorhin schon gesagt habe, wir haben innerhalb von zwölf Minuten neun Menschen verloren. Und wie soll es den Familien gehen? Sie haben es in Hanau mit Menschen zu tun, die stark traumatisiert sind, weil diese Tat werden wir für immer und ewig in Erinnerung haben. Und weil wir nach sechs Monaten immer noch keinen Bericht haben, wo wir uns erleichtern könnten, sagen könnten, bei dieser Tat war von einem Einzeltäter auszugehen oder sind es noch Mitwisser, Mittäter? Es gibt noch keine Antworten, dementsprechend ...
Menschen in Hanau zünden Kerzen an und legen Blumen nieder.
Anschlag von Hanau - Neue Strategien gegen Rechtsextremismus
Der rechtsextremistische Terror stellt Sicherheitsbehörden vor ein massives Problem. Laut BKA seien 50 Prozent der Täter vorher nicht polizeibekannt. Landespolitiker fordern, dass Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse zur Gefahrenabwehr erhalten.
Nicht ausreichend, den Anschlag als rechtsextrem zu bezeichnen
Barenberg: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den Anschlag in einer Rede als Anschlag auf unsere Freiheit verurteilt, als Anschlag auf unser Grundverständnis des Zusammenlebens. Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, andere Spitzenpolitiker waren bei der Trauerfeier, im Bundestag wurde der konsequente Kampf gegen Ausgrenzung, gegen Rassismus, gegen Rechtsextremismus gefordert. Welches Signal ist da bei Ihnen angekommen im Nachgang zu diesem Anschlag?
Yilmaz-Ilkhan: Es ist ja so, dass wir im Vergleich zu anderen Anschlägen, Solingen, Mölln, Halle, das erste Mal wirklich auch damit zu hatten, dass es beim Namen genannt wurde, rechtsextremistischer Terror, und dass dies ein rechtsextremistischer Anschlag war. Das war auch richtig und gut, das beim Namen zu nennen. Nur – es ist nicht ausreichend, wenn wir es beim Namen nennen und es keine Konsequenzen gibt. Dass die Bundeskanzlerin Rassismus als Gift bezeichnet, ist wichtig, dass der Innenminister Seehofer noch mal betont, dass die größte Gefahr vom Rechtsextremismus kommt oder dass der Bundespräsident auf der Trauerfeier sagt, er kann es als ein weißer Mann nicht nachvollziehen, wie es sich anfühlt, Bewerbungen zu schreiben und immer noch keine Zusage zu bekommen oder auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt zu werden. Es ist schon gut, dass wir im Jahr 2020 zum ersten Mal von hochrangigen Politikern auch solche Wörter hören.
"Es muss Konsequenzen auf politischer Ebene haben"
Barenberg: Wenn Worte nicht reichen, das höre ich hier raus.
Yilmaz-Ilkhan: Genau.
Barenberg: Was muss dann darüber hinaus geschehen?
Yilmaz-Ilkhan: Dann muss es auf jeden Fall auch Konsequenzen auf politischer Ebene haben, Gesetzesänderungen müssen kommen. Wir müssen gucken, dass wir die Zivilgesellschaft stärken, wir müssen Projekte ins Leben rufen, die sich gezielt auf Anti-Rassismus-Arbeit spezialisieren. Da ist noch viel Nachholbedarf, wir müssen in den Schulen, in den Bildungseinrichtungen, gezielt Anti-Rassismus-Arbeit machen. Wir müssen diese Vielfalt, die wir in diesem Land haben, vermehrt in den Vordergrund stellen. Vielfalt müssen wir als einen Schatz darstellen und nicht als eine Gefahr.
Barenberg: Und sehen Sie das auf gutem Weg?
Yilmaz-Ilkhan: Ich hoffe, dass wir das auf einen guten Weg leiten werden mit der Zeit, aber noch ist da viel nachzuholen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.