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Gedenken an den Holocaust im Wandel

Das Gedenken an den Holocaust ist konfliktreich, umkämpft und umstritten. Dass es selbst eine Geschichte hat, das zeigen jetzt zwei Bücher: Der Band "Das Unbehagen an der Erinnerung" nimmt Deutschland in den Blick, "Das umstrittene Gedächtnis" Europa.

Von Melanie Longerich | 21.01.2013
    Erst Ende der 1970er-Jahre gewann der Holocaust eine zentrale Bedeutung für die deutsche Erinnerungskultur. Heute erinnert man sich – meinen zumindest manche Wissenschaftler - mit viel zu viel Routine. Zwei Bücher beleuchten nun den Zusammenhang von historischer Erinnerung, gesellschaftlicher Deutungshoheit und politischer Herrschaft. Sie zeigen, wie das Erinnern zu dem wurde, was es ist – und vor welchen Herausforderungen es steht. Der Sammelband "Das Unbehagen an der Erinnerung" analysiert die Aufklärungsbemühungen der Deutschen nach 1945. Das Handbuch "Das umstrittene Gedächtnis" hingegen vergleicht die Erinnerungspraxis in Europa. Dabei eint die Autoren ein Ziel – nämlich dem bequemen Gedanken zu widerstehen, dass Erinnern immer so bleiben muss, wie es heute praktiziert wird:

    "Seit sich der Staat vor allem dem Gedenken an Nationalsozialismus und Holocaust affirmativ angenommen hat, erzeugen die eingeübten Formeln ein gewisses Unbehagen. Imperative wie "Nie wieder Krieg!" oder "Gegen das Vergessen" rufen allenfalls noch ratloses Schulterzucken hervor und wirken wie Worthülsen aus einer Zeit, in der geschichtspolitische Herausforderungen noch ungeniert in klare Handlungsanweisungen übersetzt wurden."

    Schreiben Margrit Frölich, Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Arnoldshain, die Historikerin Ulrike Jureit vom Hamburger Institut für Sozialforschung und der Frankfurter Soziologe Christian Schneider in ihrem Vorwort zu "Das Unbehagen an der Erinnerung". Aus unterschiedlichen Perspektiven gehen in diesem Sammel- und Tagungsband Historiker, Politikwissenschaftler und Psychologen den Wandlungsprozessen im deutschen Gedenken nach. Und sie zeigen: Jede Erinnerungskultur hat vor allem einen sozialen Sinn: Mit ihr gestaltet die Gesellschaft ein Bild, wie sie gerne sein möchte:

    "Nicht nur die vom Nationalsozialismus, Holocaust und Krieg erzählenden Primär- und Zeitzeugen sind bereits mehrheitlich verstorben, auch die zweite Generation der Kriegs- und Nachkriegs-Geborenen scheidet allmählich aus den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Funktionen aus, beziehungsweise arbeitet derzeit an der Tradierung ihrer Geschichts- und Erinnerungsbilder. Sie sieht sich dabei nachwachsenden Jahrgängen gegenüber, die sich ganz offensichtlich nicht in gleicher Weise mit Nationalsozialismus und Holocaust verbunden sehen und daher moralisch indifferent wahrgenommen werden – für manche Beteiligte eine hochgradig irritierende und offenbar auch beunruhigende Erfahrung." (S.35)

    Schreibt Ulrike Jureit. Im Blick hat sie dabei die Generation der 68er. Die hat hart für die heute so selbstverständlich scheinende Auseinandersetzung mit dem Holocaust gekämpft, machte sie zu dem, was sie ist. Diese sogenannte Generation der "Täterkinder" – diese These ist nicht neu - hatte sich mit den Eltern nicht identifizieren wollen, also tat sie es mit den Opfern. Ulrike Jureit gibt dieser Gegenidentifizierung einen Namen: "Gefühlte Opfer" nannte sie diese bereits in einem früheren Buch. Die Autoren nehmen diesen Begriff auf, stellen ihn auf den Prüfstand. Wie etwa der Historiker Martin Sabrow. Für ihn wurde diese Identifizierung mit den Opfern nicht nur zum Kern deutscher Erinnerungspolitik, sie zeigt auch den kulturellen Wertewandel: In Deutschland nach Auschwitz war die übliche historische Heldenverehrung zur Identitätsstiftung einer Nation nicht länger möglich:

    "Der damit verbundene Übergang von einer mimetischen Stolzkultur zu einer kathartischen Bewältigungskultur ist an den Abschied der Nation und dem Volk als historischem Kollektivsubjekt gebunden, und ironischerweise war es die 68er Bewegung, die im 20. Jahrhundert zum letzten Mal die historische Heldenbühne mit ihren eigenen Gestalten von Che Guevara bis Ho Chi Minh gefüllt hat." (S.46)

    Schreibt Martin Sabrow. Der Soziologe Christian Schneider nimmt diese Gegenidentifizierung auf, spinnt sie weiter und fragt, wie sich das Bild dieses Geschichtsabschnitts verändern wird, wenn die Generation der Augenzeugen künftig fehlt:

    "Unsere Gesellschaft hat sich erstaunlich ambivalent mit dem Ende der Zeitzeugen des Nationalsozialismus befasst; umfangreiche Programme für die Sicherung ihrer Zeugenschaft (Video testimonies, transkribierte Interviews, Film- und TV-Sendungen) wurden entwickelt; man hat ihnen prominente Foren geboten. Und doch bleibt der seltsame Geschmack einer Koinzidenz von Erinnerungskultur und Vergessenswunsch. Neben der Tendenz, die Überlebenden als Heilige zu Grabe zu tragen, ist, nicht nur bei den Historikern, das Aufatmen über das Ende des zeitzeugenzentrierten Erinnerungsdiskurses und dem damit möglichen neuen Anfang der Geschichtsschreibung strenger Observanz kaum überhörbar." (S.99)

    Diese Diskussion über das Ableben der Zeitzeugen wird seit den 1980er-Jahren geführt. Heute ist in der Geschichtswissenschaft weitgehend Konsens, dass ohne die Zeitzeugen die längst fällige Historisierung der NS-Zeit einsetzen wird. Bezug nehmend darauf wirft Christian Schneider die Frage auf, was mit dem offiziellen Erinnern geschieht, wenn jetzt auch die 68er in den Ruhestand gehen:

    "Auch wenn es manchem Ohr schrill klingen mag: Ein guter Teil künftigen deutschen Geschichtsbewusstseins, mithin jener Art historischer Selbstreflexion, die die 68er mit Recht von ihren Vorfahren forderten, wird sich daran bilden, wie sich das Ende jener Schlüsselgeneration von 68 diskursiv in den schwierigen Prozess kollektiver demokratischer Identitätsbildung integriert." (S.100)

    Leider geht der Sammelband wenig den Unterschieden in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur nach, ebenso wie dem radikalen Perspektivwechsel, der seit der Wiedervereinigung sichtbar wird. Immer öfter stehen dabei nicht länger die Opfer der Deutschen im Zentrum, sondern die Deutschen als Opfer selbst: Die Erinnerung an Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, aber auch Ansprüche auf Anerkennung der Verbrechen der SED-Diktatur versuchen sich gegenseitig den Rang abzulaufen. Detailreich untersucht diesen Aspekt Arnd Bauerkämper, Professor für Geschichte an der Freien Universität Berlin. In seinem Buch "Das umstrittene Gedächtnis" versteht er Erinnern als Prozess, als soziale Praxis, bei dem das Gedächtnis einer Nation sich nicht einheitlich entwickelt. Und er belegt diese These seines kompakten Kompendiums, indem er die deutsch-deutschen Erinnerungspraktiken und -diskurse mit denen anderer Länder Europas vergleicht. Dabei beleuchtet er detailliert den jeweiligen Umgang mit der Vergangenheit in Justiz, Politik und in der Gesellschaft und sucht nach Gemeinsamkeiten. Diese sind vielfältig. Und doch: Dass Europa einmal EIN kollektives Gedächtnis haben wird, glaubt auch er nicht. Bauerkämper hält es nicht einmal für förderlich:

    "Die Aussicht auf einen "überlappenden Konsens", den ein gemeinsamer Vorrat von leidvollen kollektiven Erinnerungen und selbstkritischen Interpretationen stützt, ist geeigneter als eine künstliche Angleichung oder ein weiterer geeigneter Abschluss nationaler Erinnerungskulturen, Perspektiven eines Erinnerungsraumes herauszubilden." (S.400)

    Erinnerung bleibt konfliktreich, umkämpft und umstritten, auch wenn die Gedenkformen mit Migration und Globalisierung neu verhandelt werden müssen. Beide Bücher bilden dabei beste Grundlagen, um über ein strittiges, von vielfältigen Ge- und Verboten umstelltes Thema neu nachzudenken.


    Margit Frölich, Ulrike Jureit, Christian Schneider (Hg.): Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust.
    Brandes & Apsel Verlag, 239 Seiten, 24,90 Euro
    ISBN: 978-3-86099-926-4

    Arnd Bauerkämper: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945.
    Schöningh Verlag, 520 Seiten, 58,00 Euro
    ISBN: 978-3-50677-549-8