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Gedenkstein für die Toten des syrischen Bürgerkriegs

Anfang 2012 war Jonathan Littell im Auftrag der französischen Zeitung "Le Monde" zwei Wochen in Syrien. Seine Aufzeichnungen aus der Rebellenhochburg Homs, in denen der Tod allgegenwärtig ist, sind ein eindrückliches Dokument der grausamen Willkür einer Regierung gegenüber ihrem Volk.

Von Dina Netz | 22.11.2012
    Jonathan Littell und der Fotograf, der ihm auch als Dolmetscher diente, sind zu einem besonderen Zeitpunkt nach Syrien gereist: Sie waren vom 16. Januar bis 2. Februar dieses Jahres in Homs, also ganz kurz bevor die syrische Armee die Rebellenhochburg bombardierte. Insofern waren Littells Notizen bereits Geschichte, noch ehe er von seiner Reise zurück war, weil die Auseinandersetzungen in Syrien durch die Bombardierung von Homs eine ganz andere Dynamik bekamen. Und weil viele Menschen, über die er schreibt, nicht mehr leben, viele der beschriebenen Häuser nicht mehr stehen.

    Trotzdem haben sich die Medien auf sein Buch gestürzt, was sicher einerseits am berühmten Namen des Autors liegt. Als Littell Anfang Juli dem "Spiegel" ein Interview gab, zog der Verlag sogar das E-Book vor, was eine Welle von Rezensionen auslöste. Ein weiterer Grund für die mediale Aufmerksamkeit gegenüber den "Notizen aus Homs" ist sicher, dass Syrien nach wie vor unsere Nachrichten beherrscht, dort weiter Kämpfe toben. Und viele versprechen sich wohl von Littells Buch Hilfen beim Verständnis dessen, was in Syrien gerade geschieht. Die allerdings will und kann Littell nicht liefern, er möchte lediglich

    "... Bericht erstatten über einen Moment, der quasi ohne Zeugen von außen stattgefunden hat, die letzten Tage der Erhebung eines Teils der Stadt Homs gegen das Regime von Baschar al-Assad, unmittelbar bevor diese in einem Blutbad ertränkt wurde, das, während ich diese Zeilen schreibe, noch andauert."

    Littells "Notizen aus Homs" sind ein Buch-Zwitter: Einerseits ganz nah an der syrischen Aktualität; andererseits schon ganz fern, von Homs, wie Littell es sah, ist nicht mehr viel übrig. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob es eine sinnvolle Entscheidung des Verlags war, die Notizen, nachdem sie in Auszügen bereits in Zeitungen abgedruckt wurden, noch als Buch zu veröffentlichen. Um die Frage gleich zu beantworten: Ja, es ist eine richtige Entscheidung von Hanser Berlin. Denn die "Notizen aus Homs" sind ein Gedenkstein für viele Menschen in Syrien, die inzwischen nicht mehr leben. Und sie sind das Dokument eines Moments in der syrischen Geschichte, den sonst niemand festgehalten hat.

    Was genau hat Jonathan Littell nun notiert? Littell und der dolmetschende Fotograf waren von der Syrischen Befreiungsarmee FSA ins Land geschleust worden – Littell notiert also das, was er in Gesellschaft der Revolutionäre beobachtet. Zwei Notizhefte hat er gefüllt mit unzähligen Begegnungen und Beobachtungen und sie im Nachhinein nur möglichst wenig bearbeitet. Littell erhebt übrigens ausdrücklich nicht den Anspruch, ein "literarisches Werk" geschaffen zu haben.

    Im Wesentlichen beschreibt Littell seinen Tagesablauf, sogar die Mahlzeiten sind notiert. Nebenbei macht man einen Kurs in Waffenkunde, denn Littell zählt in manisch wirkender Akribie die Fabrikate auf - trotz all der Schrecken ist das Buch in seiner Detailversessenheit streckenweise sogar langweilig. Vereinzelt beschreibt Littell moralische Konflikte, zum Beispiel als er sich fragt, was der Grenzschleuser eigentlich mit seinen Dollars macht – vielleicht Mörser schmuggeln' Irgendwann blickt man jedenfalls bei all den Namen und Begegnungen nicht mehr durch – aber das entspricht wohl der unübersichtlichen Situation.

    Ganz selten geht der Schriftsteller mit Jonathan Littell durch, wenn er über seine Plutarch-Lektüren berichtet oder seine etwas sonderbaren Träume aufschreibt:

    "Schwere Träume, sehr komplex, ich treffe schüchtern Michel Foucault, der nicht in der allerbesten Verfassung, aber noch am Leben ist, und versuche, ein Mittagessen mit ihm zu organisieren. Die Betonritzen in den Straßen sind voller Münzen, darunter sogar Zwei-Euro-Stücke. An der Uni habe ich einen Swimmingpool, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe, dort hinzugehen."

    Solche Passagen wirken seltsam deplatziert zwischen den wohltuend nüchtern gehaltenen Berichten über Kampfhandlungen und Gespräche mit Aufständischen. Aus Letzteren besteht das Buch hauptsächlich. Obwohl Littells Sympathien natürlich auf Seiten der Rebellen sind, wahrt er die Distanz des Berichterstatters, zum Beispiel gegenüber diesem desertierten Soldaten der syrischen Regierungstruppen:

    "'Ich habe nicht geschossen. Ich habe mir ins Bein geschossen.' Er zeigt uns die Narbe. 'Wir sind acht Tage in Rastan geblieben. Dann sind wir nach Waar gefahren. Die Kugel habe ich mir am 26. September ins Bein geschossen, als man uns nach Rastan zurückschicken wollte, ein zweites Mal.' Beteuert, dass er niemals in die Menge geschossen hat, dass er sich versteckt hat. Das erscheint wenig glaubhaft, wenn man bedenkt, dass er vier Monate im Einsatz war."

    Viele Geschichten von Deserteuren und Menschen, die Angehörige verloren haben, kann Littell nicht nachprüfen.

    "Noch eine völlig verworrene Geschichte, wie alle hier."

    Littell gibt die Geschichten so wieder, wie er sie hört: zahllose Berichte über Folterungen. Die Regierungstruppen schüren bewusst religiöse Auseinandersetzungen. Littell verschweigt aber auch nicht brutale Racheaktionen der FSA und Gewalttaten ihrer Mitläufer.

    Im Laufe seines Aufenthalts spitzt sich die Situation in Homs zu, sodass Littell immer häufiger selbst Augenzeuge wird: Er sieht immer mehr von Scharfschützen der Armee verletzte und getötete Zivilisten. Besonders erschütternd sind die Berichte aus den Krankenstationen der FSA, wo Verletzte nicht behandelt werden können, weil die Medikamente fehlen. Am Ende der Aufzeichnungen ist der Tod allgegenwärtig; Littell, der erstaunlich kaltblütig bleibt, wird zu einem Chronisten des Sterbens:

    "Der Alte von vorhin wird zurückgebracht, der mit der verwundeten Schulter. Er ist tot. Der Leichnam von Omar A. liegt auch da, auf dem Boden. Der dritte Tote wird danebengelegt, während sich die Pfleger um die drei Verwundeten kümmern. Er wurde nicht von Kugeln getötet, sondern von Splittern, den runden Kügelchen der nail bombs."

    Littells Aufzeichnungen aus Homs sind ohnehin dramatisch genug, aber als Prolog zur folgenden Bombardierung der Stadt lesen sie sich noch drastischer. Diese "Notizen aus Homs" sind ein eindrückliches Dokument der grausamen Willkür einer Regierung gegenüber ihrem Volk.

    Jonathan Littell: Notizen aus Homs. 16. Januar – 2. Februar 2012.
    Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt
    Verlag Hanser Berlin, 240 Seiten, 18,90 Euro