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Gedichte von Steffen Mensching
Das wirbelnde Welttreiben

In seinem Roman „Schermanns Augen“ interessierte sich Steffen Mensching für den Grafologen Rafael Schermann, der aus Handschriften die Zukunft lesen kann. In seinem neuen Gedichtband versucht Steffen Mensching nunmehr, die Zeichen der Gegenwart zu entziffern - mit verhaltenem Optimismus.

Von Michael Opitz | 15.07.2021
Der Autor Steffen Mensching und sein Roman "In der Brandung des Traums"
Steffen Mensching ist Theaterintendant, Schauspieler - und Schriftsteller (Cover Wallstein Verlag / Autorenportrait: © Friederike Lüdde)
Ein Abstecher führt das lyrische Ich in Steffen Menschings neuem Gedichtband "In der Brandung des Traums" in die ostdeutsche Pampa. In einem anderen Gedicht macht es sich auf in die belebte Seelenbinderstaße 21 in Berlin-Köpenick – einst wohnten dort die Freunde Silvia und Dieter Schlenstedt. Reisen führen Menschings Ich nach Rimini, wo an das gleichnamige Protokoll erinnert wird, und es geht nach New York – an den Broadway, nach Harlem und in die Houston Street.
Das aus der Provinz stammende Ich hat sich nach der Wende umgetan in der großen, weiten Welt. Und dennoch steht es in dem Gedicht "Ab und zu zwinge ich mich" wie verloren am Fenster und gibt sich der selbst auferlegten und erzwungenen Langeweile hin. Gedankenverloren schaut es auf die Straße, zählt – wie früher – die vorbeifahrenden Autos und ist in diesen Momenten ganz bei sich und seinen Erinnerungen.

Ungerechtigkeiten und Merkwürdigkeiten

Wollte man Menschings Gedichte allerdings auf den Nenner bringen, dass in ihnen nur Reiseimpressionen und Erinnerungen festgehalten werden, würde man sie unter Wert verhandeln. Mensching interessiert sich zwar durchaus für die bunten Weltfarbtropfen, auch für die Liebe und das flüchtige Glück hat er ein waches Gespür, aber als aufmerksamer Beobachter macht er sich vor allem – im Wegschauen wenig geübt – seinen Reim auf Ungerechtigkeiten und Merkwürdigkeiten, die das Weltgeschehen tagtäglich in besorgniserregender Beständigkeit bereithält.
Das Ich, das Mensching in seinen Gedichten auf Reisen schickt, reagiert verwundert, häufig auch ironisch, auf das wirbelnde Welttreiben, bei dem die Menschheit Gefahr läuft, den Boden unter den Füßen und so sich selbst zu verlieren. "Niemand glaubte", heißt es in "So gesehen waren die Jahre", dass es noch einmal besser wird, "aber alle hoffen auf einen erweiterten Speicherplatz".

Durchleuchtung der Gegenwart

Mensching schlägt in seinen Gedichten einen lakonisch-ironischen Ton an, wenn er mit analytischem Blick die Gegenwart durchleuchtet, wobei er in seinen Versen das unter der Oberfläche liegende Wesentliche sichtbar werden lässt. Oft mutet paradox an, was da zum Vorschein kommt:
"Auf dem vertrockneten Rasenstück
im Schatten eines italienischen Eiscafés
in Ljubljana, Slowenien, spielt ein polnischer Junge
im Trikot eines französischen Fußballspielers,
geboren in Kamerun, der für den spanischen Verein
arbeitet, der einem russischen Oligarchen gehört,
der in London lebt, Fußball mit einem deutschen Jungen
im Trikot eines portugiesischen Stürmers,
der für einen englischen Klub spielt, der einem Scheich
aus Kuweit gehört, dann essen die beiden
zwei Kugeln Vanilleeis mit ägyptischen Erdbeeren."
Man hat vor Augen, was in dem Gedicht zur Sprache kommt, obwohl doch zugleich auf etwas verwiesen wird, das unausgesprochen bleibt.
Buchcover: Steffen Mensching: „Schermanns Augen“
Steffen Mensching: "Schermanns Augen"
In seinem historisch weit ausgreifenden Roman verfolgt Steffen Mensching die Spur des Grafologen Rafael Schermann durch die Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts, bis hinein in die Tiefen des sowjetischen Gulag.

Konkret und zugänglich

Ein auffälliges Kennzeichen der in diesem gelungenen Band versammelten Gedichte ist die sprachliche Konkretheit von Menschings Versen, die leicht "zugänglich" sind. Ohne große Mühe gelingt es, sich ein Bild von den Ereignissen und Phänomenen zu machen, die in den lyrischen Gebilden aufgerufen werden.
Vordergründig politisch sind Menschings Gedichte nicht, aber die gesellschaftlichen Verhältnisse, sowohl die jüngst vergangenen als auch die gegenwärtigen, sind stets präsent und von entscheidender Bedeutung. Lustvoll geht der Wortspieler Mensching auch in seinem fünften Gedichtband mit der Sprache um.
"Um Missverständnissen
vorzubeugen, die jüngste
Vergangenheit hat in diesem Land
zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht die Spur einer Zukunft."

Verbesserung nicht zu erwarten

Angetreten, den desolaten Weltzustand ändern zu wollen, sieht sich das lyrische Ich in Menschings Gedichten mit realen Verhältnissen konfrontiert, die so fest und stabil gefügt zu sein scheinen, dass eine Veränderung zum Besseren in naher Zukunft nicht zu erwarten ist.
"Miłosz
Alt werden, sich die Augen reiben
Über den Zustand der Welt, noch immer
Und immer wieder, Möwen zählen
Am Strand, sich die Augen reiben, verwundert,
dass man keine Tränen mehr hat."
Verzweifelt ist Menschings Ich und orientierungslos – "wir bewegen uns durch Räume, in denen wir nichts / zu suchen haben", heißt es in dem Gedicht "Mansion global". Und von einer Welt, die nicht untergeht, sondern "allmählich verendet" spricht das Gedicht "22. Dezember 2012". Verstellt ist der Weg nach vorn, und nicht zu erkennen vermag das Ich, wohin er führt – "als wüsste ich wohin / in dieser Welt", fragt es sich in dem Gedicht "Die Flut".

Verhaltener Optimismus

Zaghaft klingt in einem der schönsten Gedichte "Wo liegt die Insel, die unser Leben ändert?" dieses auffällig uneitel daherkommenden, aber sehr überzeugenden Gedichtbandes ein verhaltener Optimismus an. Er hält allerdings nur wenige Zeilen an und geht schließlich zwischen Wellenbergen und Wellentälern unter.
"Wo liegt die Insel, die unser Leben
ändert? Die Zeile brannte sich
in dein Gedächtnis, leider ging der Rest
des Gedichtes verloren. Vergeblich
suchtest du in den Büchern
von Tranströmer, Lars Gustafsson
und Inger Christensen, in der Überzeugung
einer skandinavischen Spur, schriebst du
an Niklas Radström, aber der Mann
in Stockholm hatte keine Ahnung. Wo liegt
die Insel, die unser Leben ändert?"
Steffen Mensching: "In der Brandung des Traums." Gedichte
Wallstein Verlag, Göttingen. 97 Seiten, 20 Euro.