Freitag, 19. April 2024

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Gefälschtes Gedächtnis?

Jens Ebert: Also dazu müsste man vielleicht auch noch kurz auf die Vorgeschichte dieser Briefe eingehen, denn sie haben eine ziemlich lange Vorgeschichte und sie reicht bis in den 2. Weltkrieg zurück, als nämlich Propaganda-Minister Göbbels persönlich den Propaganda-Chef der 6. Armee beauftragt hat, einen Briefband über Stalingrad herauszugeben. Heinz Schröter, dieser Chef der Propaganda-Kompanie, hat daran auch gearbeitet. Das ist auch nachweisbar, im Militärarchiv gibt es dazu Unterlagen. Diese Broschüre ist allerdings nie veröffentlicht worden, weil sich diese Briefe dann doch der Instrumentalisierung sperrten. Nach 1945 gab es dann diesen Band "Letzte Briefe aus Stalingrad", der anonym herausgegeben worden ist. Dieser Briefband ist anonym herausgegeben worden, obwohl jeder, der sich mit der Sachlage auskennt, weiß, dass dieser Band von Heinz Schröter, also dem Propaganda-Chef der 6. Armee, verfasst worden ist. Das war natürlich in den 50er Jahren etwas belastend, deshalb hat man diesen Band anonym herausgegeben. Der Band hat ein kleines Vorwort vom Verlag und da wird aber deutlich darauf verwiesen, dass es sich quasi um diese Briefe handelt, die während des Krieges bereits gesammelt worden sind. Das kann aber eigentlich nicht sein, weil diese Briefe 1945 im Militärarchiv Potsdam verbrannt sind. Wenn man sich sensibilisiert für die Tatsache, dass es sich hier wahrscheinlich nicht um authentische Briefe handelt, jedenfalls nicht um Briefe, die damals aus dem Kessel von Stalingrad so herausgeschickt worden sind. Wenn man sich diese Briefe nun genauer anschaut- und ich bin nicht nur Historiker sondern auch Germanist - dann sieht man an der Sprache bereits, dass diese Briefe doch in einem eigenartigen Stil geschrieben sind. In Edition und Inhalt sind sie ausgesprochen ähnlich, sie sind alle in einer gehobenen, stilistisch ausgefeilten Sprache geschrieben und sie thematisieren sehr spektakuläre Ereignisse: also Tod, Untergang, Abschied, Anklage gegen die nationalsozialistische Führung. Sie beschäftigen sich sehr stark mit weltanschaulichen Gedanken. Diese Briefe haben damit eine Aussage, die mit den authentischen Briefen - das sind fast 1.000 gewesen, die ich 1986 in Wolgograd gefunden habe - diese Sprache stimmt mit diesen Briefen überhaupt nicht überein.

Der Historiker Jens Ebert und der Musikverleger Hans-Richard Stracke im Streitgespräch | 10.10.2002
    Karin Fischer: Hans-Richard Stracke, Sie sind schon im September von Jens Ebert über diesen Sachverhalt informiert worden. Warum haben Sie nicht reagiert?

    Hans-Richard Stracke: Wir haben durchaus reagiert, doch worauf soll ich denn reagieren? Das was Herr Ebert vorträgt sind nur Mutmaßungen. Es sind also stilkritische Untersuchungen, die er selbst angestellt hat. Er legt überhaupt keinen Beweis vor. Worauf soll ich da reagieren? Ich stelle fest, dass diese Briefe seit 1950 nicht nur in Deutschland, sondern auch in Amerika, in Frankreich, in Japan und sogar in Russland veröffentlicht sind. Keiner hat bislang an der Echtheit dieser Briefe gezweifelt, beziehungsweise hat "Fälschung!" geschrieen. Der Einzige, der das meines Wissens gemacht hat, ist Herr Ebert, und da gibt es allerdings auf meiner Seite den Verdacht, dass er das aus einem ganz bestimmten tendenziellen Grund tut und nicht um der Wahrheit willen.

    Karin Fischer: Was ist das für ein ‚tendenzieller Grund?

    Hans-Richard Stracke: Er schreibt zum Beispiel in seinem Buch, dass diese Briefe den westdeutschen Bedürfnissen nach Aufarbeitung der Vergangenheit und einer Bestätigung der alten Angst vor einer Bedrohung aus dem Osten entsprächen, dass sie den Opfertod verklärten. Das hat während der Aufführungen, die ich miterlebt habe – im vergangenen Jahr in Paris ist eine dramatisierte Fassung im Théâtre du Lucernaire gelaufen – kein Mensch hat je diesen Eindruck gehabt, den Herr Ebert hier zu erwecken versucht.

    Karin Fischer: Nun behaupten authentische Briefe ja immer eine Wahrheit: Genau so ist es, zumindest für mich – sagen sie –, gewesen. Zehn Jahre hat der Komponist, Aubert Lemeland nach eigenen Angaben gebraucht, um diese letzten und sehr persönlichen Augenblicke der deutschen Soldaten, die in Stalingrad eingeschlossen waren, in der Musik auszudrücken. Wenn es sich um eine Fälschung handeln sollte, Herr Stracke, dann wäre genau dieser Musik ja doch jede Grundlage entzogen.

    Hans-Richard Stracke: Ich sehe das völlig anders. Selbst Herr Ebert hat in einem von seiner Seite aus recht aggressiven Telefongespräch eingeräumt, es könnte sich um Literatur handeln. Ich unterstelle mal, dass seine durch nichts bewiesenen Mutmaßungen korrekt sind: Was würde es für den Rang der Symphonie als musikalisches Kunstwerk bedeuten? Diese Symphonie ist ein großes sechssätziges Kunstwerk. Es bedient sich dreier Textquellen, nämlich Ausschnitte aus diesen 39 Briefen, dann bedient es sich eines Buches von Joachim Wieder, und es bedient sich des "Messias" von Klopstock. Die Symphonie und ihr Rang als Kunstwerk würde von einer angenommenen Fälschung der Briefe ebenso wenig berührt wie etwa Beethovens 9. Symphonie, wenn sich ein anderer statt Schiller als Autor des Götterfunkens herausstellte.

    Karin Fischer: Das würden Sie vermutlich anders sehen, Herr Ebert.

    Jens Ebert: Aber selbstverständlich! Es ist ein Unterschied, ob ich einen literarischen Text als Grundlage nehme – übrigens: auch als literarischen Text würde ich diese Briefe sehr stark kritisieren, weil sie ein ziemlich verzerrtes Bild der Schlacht um Stalingrad liefern und ich denke auch ganz eindeutig die Stimmungslage der 50er Jahre treffen mit ihrer entlastenden Funktion...

    Karin Fischer: ... Erklären Sie bitte diesen Zusammenhang. Das war ja gerade der Hauptvorwurf von Herrn Stracke, dass Sie tendenziös argumentieren. Sie sagen: Wenn es sich nicht um authentische Briefe sondern um ein Stück Literatur handelt, dann bewegt sich dieses Stück Literatur in einem historischen Zusammenhang.

    Jens Ebert: Ja, das liegt doch eigentlich auf der Hand, das in der fünfziger Jahren das Bedürfnis nach Aufarbeitung der Kriegsverbrechen während des zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik aber auch sicherlich in der DDR von Beteiligten nicht besonders groß war. Sie wissen doch, wie lange es gedauert hat, bis die Wehrmachtsaustellung, die ja nach wie vor sehr große Furore macht in Deutschland, sich dieses Themas angenommen hat. Und da natürlich auch Sachen zu Tage gefördert hat, die bis heute unangenehm sind.

    Hans-Richard Stracke: Entschuldigung, aber davon ist den Briefen doch überhaupt keine Rede ...

    Jens Ebert: ... selbstverständlich

    Hans-Richard Stracke: ... aber nirgendwo ...

    Jens Ebert: In den Briefen sind die deutschen Soldaten ausschließlich als Opfer dargestellt. Es ist eine sehr elegische Note, es sind noble Charaktere, es wird zwar in einem Brief von einem eins zu siebzig Millionen Teil an der Schuld gesprochen. Aber diese Briefe sind ebenso, dass sie eigentlich Schuldfrage und die Fragen von Kriegsverbrechen und so weiter nicht weiter thematisieren.

    Hans-Richard Stracke: ... welche Soldaten haben denn das gemacht 1942, 1943? Der hatte doch nicht das Wissen und die Erfahrung, die wir nach dem Krieg hatten. Das ist doch undenkbar, dass jemand seinen letzten Brief mit philosophischen Betrachtungen über Schuld, Erbsünde und was weiß ich was und Kriegsverbrechen belastet. Obwohl diese Themen in den Briefen auch vorkommen und durchaus nicht in reinwaschericher Manier.

    Karin Fischer: Hans-Richard Stracke, Sie verstehen sich als eine Art Moderator der Veranstaltung am Volkstrauertag zwischen allen Beteiligten, inklusive des ZDF, dass das Konzert übertragen wird. Wäre es nicht das Gebot der Stunde dort zumindest einen entsprechenden Hinweis auf eine, sagen wir mal, doch ungeklärte Herkunft der Briefe zu geben?

    Hans-Richard Stracke: Frau Fischer, das ist nicht meine Sache, das müsste also wirklich dann zwischen dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und dem Bundestag ausgehandelt werden. Bislang, muss ich ehrlich sagen, nach meinen Gesprächen mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist eine solche Bereitschaft nicht vorhanden, aber das kann sich ja ändern, wenn Herr Ebert wirklich eine Beweislage anbringt und nicht nur Mutmaßungen.

    Karin Fischer: Herr Ebert, was ist Ihre Forderung an Herrn Stracke, was den 17. November betrifft?

    Jens Ebert: Ich finde es sehr problematisch, für die Feierstunde im Deutschen Bundestag ausgerechnet einen solchen umstrittenen Text zur Grundlage einer Symphonie zu nehmen. Der Bezug, dass es authentische Texte sind, und das steht bei diesen letzten Briefen aus Stalingrad dahinter, es seien authentische Texte. Und wir wissen ganz genau, dass das wirkungsästhetisch eine ganz andere Angelegenheit ist, als wenn man so zu sagen auf literarische Texte rekurriert. Es hat etwas mit der Wirkung zu tun und letztendlich auch mit dem Verkauf.

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